Brasilien: Lula der Versöhnler ist zurück
Nachdem er jahrelang vom politischen Geschehen ausgeschlossen war, meldete sich Ex-Präsident Lula gestern mit einer Rede zurück. Sein Auftritt eröffnet eine neue Etappe im politischen Leben Brasiliens.
Nachdem am Montag ein Richter am Obersten Gerichtshof Brasilien die Urteile gegen den ehemaligen brasilianischen Präsidenten aufgehoben hatte, hat sich Luiz Inácio „Lula“ da Silva nun mit einer vielbeachteten Rede zurückgemeldet. 2017 war der heute 75-Jährige der Korruption für schuldig befunden worden und zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden. Noch bevor alle Rechtsmittel erschöpft waren, war er inhaftiert worden, um seinen Antritt zur Präsidentschaftswahl 2018 zu verhindern. Seine Inhaftierung war Teil eines institutionellen Putsches, der 2016 mit der Amtsenthebung von Lulas Parteifreundin Dilma Rousseff begonnen hatte und 2018 den Rechten Jair Bolsonaro ins Amt brachte. Nachdem Lula bereits im November 2019 vorzeitig entlassen worden war, hat er nun seine politischen Rechte zurückerhalten und kann wieder zu Wahlen antreten. Ein Kommentar von Thiago Flamé, Redakteur von Esquerda Diário, zur neuen Etappe, die sich mit Lulas Rückkehr ins politische Leben des Landes eröffnet.
Nach drei Jahren des Verbots – fünf, wenn man ab dem Zeitpunkt zählt, seit er als Minister im Kabinett von Dilma Rousseff am Amtsantritt gehindert wurde – ist Lula zurück. Seine Rede vor der Metallgewerkschaft in São Bernardo an diesem Mittwoch eröffnet eine neue Etappe im nationalen politischen Leben.
In den letzten fünf Jahren ist die zerbrechliche brasilianische Demokratie mit Füßen getreten worden: von den Agent:innen des Finanzkapitals; von den obersten Militärs; von den Politiker:innen der „Mitte“, die von Anhänger:innen Lulas zu Schwindler:innen geworden sind, um in Zeiten der „Lava Jato“-Korruptionsaffäre den Fluss der Gelder zu garantieren. Sie verhängten eine Obergrenze für die Staatsausgaben, setzten eine Arbeitsmarktreform sowie eine Rentenreform um und machen nun mit einer „Notfall“-Verfassungsänderung weiter, die eine brutale Kürzung der öffentlichen Ausgaben vorsieht. Der Bolsonaro-Clan lacht den Massen ins Gesicht, bei denen die Pandemie, die Arbeitslosigkeit und der Hunger an die Tür klopft.
Dieses Paradies für Spekulant:innen, Großunternehmer:innen und Militärs sitzt jedoch auf einem Schnellkochtopf, der zwar noch nicht explodiert ist, aber immer mehr Energie und Hitze anstaut. Der Massenaufstand in Paraguay zeigt, dass der Topf explodieren kann, wenn man es am wenigsten erwartet. Diejenigen Putschist:innen, die nicht völlig von ihrem eigenen Jubel geblendet sind, beginnen die Konsequenzen des Zynismus und der Arroganz von Bolsonaro zu fürchten. Sie befürchten, dass, wenn alle Stricke reißen, es nicht nur Bolsonaro treffen wird, sondern alle seine direkten und indirekten Kompliz:innen der letzten fünf Jahre. So beginnt die herrschende Klasse Brasiliens mit meisterhafter Vorahnung der kommenden sozialen Explosion, ihren Schutzwall zu errichten: Lula.
Denn Lula war nie ein Radikaler oder ein Sozialist. In jedem entscheidenden Moment spielte er eine zentrale Rolle zur Wahrung des sozialen Friedens und zur Verteidigung der kapitalistischen Ordnung. Während der großen Streiks im Industriegürtel rund um São Paulo in den späten 1970er Jahren schwang er sich zum landesweiten Anführer auf. Damals verhinderte er maßgeblich, dass sich der Prozess in einen offenen Kampf für den Sturz der Diktatur verwandelte und die Streiks sich zu einem Generalstreik vereinigten, der das Militär von der Macht verdrängen würde. In den 1990er Jahren trug Lula, selbst in der Opposition zur Regierung von Fernando Henrique Cardoso, entscheidend dazu bei, den Streik der Ölarbeiter:innen zu beenden, der das Land erschütterte. Als nicht einmal die Panzer der Armee, die die Regierung vor die Tore der Raffinerien schickte, die Ölarbeiter:innen bremsen konnten, trat Lula der Versöhnler in Aktion, um die Gemüter zu beruhigen.
Lulas größter Verdienst war jedoch die Wahl 2002 selbst. Damit gelang es ihm, einen friedlichen Ausweg aus der Krise des Neoliberalismus der 1990er Jahre ohne größere Ausbrüche von Klassenkämpfen zu erreichen, wie sie in Argentinien, Bolivien und anderen Ländern der Region stattfanden. Die Wirtschaftskrise hatte Brasilien seit 1999 schwer getroffen, die Regierung von Cardoso war zunehmend unpopulär geworden und war von mehreren Korruptionsskandalen geplagt. Lula stellte das Vertrauen der Konzerne sicher, indem er den Industriellen José Alencar zum Vizepräsidenten machte, besiegelte einen Kompromiss mit den Finanzmärkten, dass er die Grundlagen des „Plano Real“ (eine neoliberale Währungsreform der Cardoso-Regierung, A.d.Ü.) respektieren würde, und beseitigte die Befürchtungen einer Massenrebellion gegen den Neoliberalismus.
Unterstützt durch den Rohstoffboom konnte er eine Regierung der Versöhnung bilden, die sich rühmte, dass die Banken nie zuvor so große Gewinne gemacht hatten. Unter der Führung Lulas Partido dos Trabalhadores (PT, Arbeiterpartei) traf sich die brasilianische High Society mit Anführer:innen der armen Massen zum Erfahrungsaustausch. Die neoliberalen Politiker Collor de Mello, José Sarney und Paulo Maluf wurden zu Befürwortern der „Regierbarkeit“. Mit der Besetzung von Haiti und der Organisation der Fußballweltmeisterschaft und der Olympischen Spiele hatte das Militär seinen Platz sicher. Und es mangelte nicht an Repressionen gegen die Arbeiter:innenbewegung, die zu rebellieren wagte, wie gegen die Arbeiter:innen der großen staatlichen Infrastrukturprojekte, die die Gewalt der von Lula geschaffenen Nationalen Streitkräfte erfahren mussten.
Jetzt ist Lula wieder da und schlägt erneut einen Weg der Versöhnung vor. Er nähert sich den Politiker:innen des Zentrums, die den Putsch unterstützt haben, und eröffnet den Generälen eine Möglichkeit zum Rückzug. Er versichert den Finanzmärkten auf verschiedene Weise, dass er die wirtschaftlichen Maßnahmen, die sie seit dem institutionellen Putsch von 2016 durchgesetzt haben – die Gegenreformen und Privatisierungen –, nicht rückgängig machen wird, so wie er damals die Privatisierungen der Cardoso-Regierung nicht rückgängig machte. Die Redakteur:innen der wichtigsten Zeitungen entdecken wieder, dass Lula die beste Wahl für die Neuzusammensetzung des Zentrums unter seinen Fittichen sein könnte. Zur gleichen Zeit erhielt er die Unterstützung von Arthur Lira, Präsident des Abgeordnetenhauses, und Guilherme Boulos, Anführer der linksreformistischen PSOL (Partido Socialismo e Liberdade, Partei für Sozialismus und Freiheit).
Wir haben zu jeder Zeit gegen den Putsch gekämpft, der Lula seine politischen Rechte entzog, weil sich der Putsch auch gegen die Arbeiter:innenklasse richtete. Nun weisen wir darauf hin, dass Lulas Rehabilitation die beste Wette der herrschenden Klasse für einen geordneten Rückzug ist. Es geht ihr darum, die Angriffe der letzten Jahre beizubehalten, ohne eine große Massenrevolte zu provozieren. Aber Lulas versöhnlerischer Diskurs wird keines der Probleme lösen, die die Arbeiter:innenklasse und die brasilianischen Massen betreffen, sie wird keine Reformen und Privatisierungen rückgängig machen. Nur die Arbeiter:innenklasse und der Kampf der Massen können die enormen Angriffe der letzten Jahre rückgängig machen. Lula hat den Putschist:innen verziehen. Die Massen werden nicht verzeihen.