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Soziale Revolution als radikale und umfassende Gesellschaftstransformation

Von Jonathan Eibisch, Untergrundblättle,
5. Februar 2021. Neuanfänge gleich welcher Art zu initiieren, bedeutet einen
Dreischritt im Umgang mit den vorhandenen Ordnungen zu gehen.

Zunächst setzten sie eine Ent-Identifizierung von
Subjekten mit einer verfestigten, bestehenden Ordnungsstruktur voraus, in
welcher sie keinen Anteil finden 
können. Zweitens ist zu verstehen,
dass Ausbeutung, Ausgrenzung, Unterdrückung und Entfremdung in unterschiedlichen
Ausprägungen Folgen jeder historisch-spezifischen Herrschaftsformation sind.
Ein gesellschaftlicher Neuanfang, welcher diese Bezeichnung verdient, kann nur
glaubwürdig von jenen sozialen Gruppen ausgehend gedacht werden, welche aus der
dominanten Gesellschaftsordnung aus verschiedenen Gründen herausfallen, die
sich jedoch organisieren und nicht mehr mit dem Alten identifizieren 
wollen.



Als dritter Schritt folgt die Neu-Identifizierung mit einer Alternative, welche
aus der Erfahrung von Kontingenz möglich wird. Das anarchistische Konzept der
sozialen Revolution ist motiviert von der Sehnsucht nach einem radikalen
gesellschaftlichen Neuanfang als solidarische, egalitäre und libertäre alternative Moderne.
Zu jener Motivation tritt die Überzeugung hinzu, dies sei nicht nur aus
ethischen Gründen erstrebenswert, sondern auch vernünftig und machbar. Wie
gesamtgesellschaftliche Neuanfänge im anarchistischen Denken durch die soziale
Revolution gedacht werden, soll im folgenden Beitrag umrissen werden.

Genese des anarchistischen Konzepts der sozialen
Revolution

In Anschluss an die Revolutionswelle von 1848 kam in
sozialistischen Debatten die Forderung nach einer sozialen Revolution auf. Im
Unterschied zur politischen Revolution, welche im Wesentlichen auf die
Übernahme der Staatsmacht abzielt, um mit ihr den Sozialismus einzuführen und
durchzusetzen, sollte mit der sozialen Revolution der Klassenantagonismus,
welcher als wesentliches Moment der Gesellschaftsstruktur begriffen wurde,
abgebaut und letztendlich überwunden werden.

Der Anarchismus wurde im 19. Jahrhundert anhand von Auseinandersetzungen
innerhalb der sozialistischen Bewegungen entwickelt, wobei einer der
entscheidenden Punkte dabei die Ablehnung der Übernahme oder Beeinflussung der
Staatsmacht war. Der Kapitalismus könne aus strukturellen Gründen nicht ohne
die Abschaffung des Staates überwunden werden. Daher müsse eine wirkliche
Revolution einerseits mit den Strukturen der Herrschaftsordnung grundlegend
brechen und andererseits selbstorganisierte Gegenorganisationen aufbauen.

Für letztere bestanden relativ konkrete Vorstellungen in der Konzeption von
freiwilligen und dezentralen Kommunen, die miteinander auf verschiedenen Ebenen
föderieren und kooperieren, dabei jedoch ihre Autonomie behalten. Diese
Vorstellungen wurden von William Godwin, Pierre-Joseph Proudhon, Michael
Bakunin, Peter Kropotkin, Gustav Landauer, Rudolf Rocker und vielen anderen
festgehalten, gingen jedoch im Wesentlichen aus den Praktiken und
Organisationsformen von libertären sozialistischen Bewegungen hervor.

Das explizit anarchistische Konzept der sozialen Revolution wurde im
Wesentlichen durch die Erfahrungen und Überlegungen von Aktiven im
antiautoritären Flügel der sozialistischen und Arbeiter*innenbewegung
entwickelt. Es ist beeinflusst von der Vorstellung einer sozialen
Evolution
, das heisst einer eigendynamischen Entwicklung der Gesellschaft,
welche zu sozialem Fortschritt führe. Anarchist*innen verstanden sich demgemäss
als „Hebammen“ der sozialen Revolution, indem sie der heranreifenden sozialen
Evolution – entgegen den überkommenen Strukturen der Herrschaft, die nur den
Privilegierten dienen – zum Durchbruch verhalfen. Der Modus der sozialen
Revolution funktioniert kaum durch spektakuläre, sondern alltägliche Veränderungen
und kleinteilige Handlungen.
Dennoch stellt er einen qualitativen Unterschied zur politischen Reform dar,
eben weil mit ihr keine Integration in die bestehende Ordnung, sondern der
Aufbau von Alternativen zu ihr angestrebt wird. Und verständlicherweise ist die
anarchistische Konzeption von der politischen Revolution abzugrenzen.
Emanzipation sei nicht möglich, wenn Herrschaftsstrukturen und -verhältnisse
intakt gelassen und genutzt werden.

Soziale Revolution kann somit als ein Streben nach Autonomie begriffen werden,
mit welchem sich von Unterdrückung und Ausbeutung betroffene Gruppen selbst
organisieren und emanzipieren, anstatt etwa durch Parteien angeführt oder in
parlamentarischen Vermittlungsprozessen eingehegt zu werden. Dies lässt sich im
heterogenen Anarchismus an verschiedenen Tendenzen festmachen. Ob
anarchistischer Individualismus, Mutualismus und Kollektivismus, Kommunismus,
Syndikalismus oder Kommunitarismus – so unterschiedlich ihre Strategien
teilweise sind, überschneiden sie sich jedoch und bilden somit einen Rahmen für
kontinuierliche Experimente des Neu-Beginnens.

Aspekte des anarchistischen Begriffs von sozialer
Revolution

In der Beschäftigung mit verschiedenen
Revolutionsbegriffen fallen einige Aspekte ins Auge, die im anarchistischen
Konzept der sozialen Revolution eine spezifische Ausprägung erfahren. Diese
sollen im Folgenden angerissen werden, um aufzuzeigen, dass das anarchistische
Revolutionsverständnis bestimmbare Merkmale aufweist. Zugleich zeigen sich ihn
ihm starke Ambivalenzen, die den modernen Revolutionsbegriff generell
durchziehen und in unterschiedlichen zeitlich-räumlichen-sozialen Kontexten
verschieden Gestalt annehmen.

Revolution wird zugleich als Ereignis und Prozess wahrgenommen. Mit dem
anarchistischen Verständnis wird das Gewicht eindeutig auf die Seite der
Prozesshaftigkeit der sozialen Revolution gelegt, während ‚revolutionäre
Situationen‘ als Oberflächenerscheinungen angesehen werden. Daraus leitet sich
die Herangehensweise ab, dass es hier und heute möglich wäre, sich
sozial-revolutionär zu orientieren, anstatt etwa auf einen grossen Bruch zu
warten, der quasi durch eine historische Gesetzmässigkeit messianisch
hereinbrechen würde.

In Hinblick auf das Verhältnis von Negation und Konstruktion lassen sich
ausgedehnte sozialistische Debatten nachzeichnen. Das Bilderverbot von Marx,
auf das er in Abgrenzung zu den von ihm so genannten ‚utopischen
Sozialist*innen‘ bestand, wurde durch die Denker*innen der Kritischen Theorie
aufgrund des Scheiterns der Zivilisation in Auschwitz erneuert, wobei der
Stalinismus sein Übriges zur Diskreditierung einer positiven sozialistischen
Vision tat. So nachvollziehbar die dahinter stehenden Argumentationen und
historischen Erfahrungen sind, tendiert das anarchistische Konzept stark zur
Betonung der Konstruktivität der sozialen Revolution. Dabei
sei die Ablösung von den alten Strukturen, ja, ihre Zerstörung unvermeidlich.
Dennoch diene Negation zur Neuschöpfung der Gesellschaft als eigentliche
Aufgabe.

Weiterhin gibt es einen Aspekt von Revolutionsverständnissen, der sich als das
Denken eines ‚Ausserhalb‘ und eines ‚Innerhalb‘ von der jeweils bestehenden
gesellschaftlichen Ordnung, also ihren Institutionen, Beziehungen, Normen und
Praktiken bezeichnen lässt. Die Frage dahinter lautet, inwiefern es einen
transzendenten Bezugspunkt eines (unvorstellbaren) radikal Anderen braucht, um
grundlegende Transformationen zu motivieren, oder ob sozial-revolutionäre
Bestrebungen aus vorhandenen, aber unterdrückten gesellschaftlichen
Verhältnissen immanent abgeleitet werden können, die als
erstrebenswert gelten und damit auch als Fluchtlinien hin zu einer anderen
Gesellschaft dienen können.

Mit der eingangs erwähnten Annahme, dass es die verschiedenen aus den
bestehenden Ordnungsgefügen herausfallenden Subjekte sind, welche sich für
einen sozial-revolutionären Neuanfang begeistern lassen, werden im Anarchismus
Veränderungen ganz überwiegend von bereits vorhandenen gesellschaftlichen
Strukturen und Beziehungen ausgehend gedacht.

Anarchist*innen lehnen die Herangehensweise ab, dass der Zweck die Mittel
heiligen würde. Vielmehr sollen die gewählten Mittel den angestrebten Zielen
entsprechen und die erstrebten Handlungsweisen vorwegnehmen, wofür sich der
Begriff ‚präfigurative Politik‘ etabliert hat. Diese ist allerdings
konfrontiert mit der Widersprüchlichkeit der Realität, die erstens aus den
multiplen Herrschaftsverhältnissen (Staat, Kapitalismus, Patriarchat, weisse
Vorherrschaft, Naturbeherrschung) resultiert, welche soziale Gruppen in ein
antagonistisches Verhältnis setzt.

Zweitens ergibt sich auch dadurch, dass der libertäre Sozialismus als eine
vielfältige Gesellschaftsform gedacht wird, weswegen emanzipatorische soziale
Bewegungen zugleich als pluralistisch anzusehen sind. Drittens gründet sich
dies auf ein Subjektverständnis, welches statt von einem vermeintlichen
kohärenten, ‚autonomen‘, sich selbst setzenden, fixierten ‚Selbst‘ der
bürgerlichen Subjektform, vielmehr von fluiden und offen gehaltenen ‚sozialen
Singularitäten‘ ausgeht, welche durch und durch gesellschaftlich geprägt sind.
Daraus ergibt sich der Anspruch nach einem Ineinandergreifen von Mitteln und
Zielen, weil diese nicht einfach selbst einander entsprechen, sondern
permanenter Vermittlung bedürfen. Denn jede Gruppe, Struktur, Praktik oder
Aktionsform kann entweder zum Selbstzweck verkommen oder rein instrumentell
benutzt werden. In beiden Fällen geht dabei ihr sozial-revolutionäres Potenzial
verloren.

Zur Frage der revolutionären Subjektivität kann festgestellt werden, dass
Anarchist*innen wie beispielsweise Errico Malatesta, Johann Most, Emma Goldman,
Alexander Berkman oder Erich Mühsam von einer Pluralität unterdrückter
sozialer Gruppen ausgehen, die sozial-revolutionär werden, indem sie sich
verbünden und auf ein gemeinsames Ziel hin ausrichten.

Daraus folgt, dass sich von Unterdrückung und Ausbeutung betroffene Gruppen
selbst ermächtigen und für ihre Emanzipation kämpfen müssen, anstatt etwa von
einer revolutionären Avantgardepartei angeführt zu werden. Gleichwohl ist immer
wieder eine Kluft zwischen politisch-ideologisch Überzeugten und den von
Herrschaft Betroffenen festzustellen. Insofern müssen sich auch Anarchist*innen
die Frage stellen, welche Verantwortung ihnen im sozial-revolutionären Prozess
zukommt, worauf es auch verschiedene Antwortversuche gibt.

Demokratie, Libertärer Sozialismus und Anarchie

In anarchistischen Debatten lassen sich seit 150
Jahren zwei Stränge nachzeichnen. In einem wird davon ausgegangen, dass eine
Radikalisierung der Demokratie aufgrund ihrer eigenen, unverwirklichten
Ansprüche zu Anarchie führen kann (z.B. David Graeber, Cindy Milstein).

Im anderen wird Demokratie konsequent als Herrschaftsform begriffen, welcher
Anarchie als grundlegend anderer Modus entgegengesetzt wird (z.B. Uri Gordon,
CrimethInc). Da in beiden Strängen überzeugende Argumente angeführt werden, ist
diese Diskussion nicht abschliessbar, wie Markus Lundström zeigt. Dagegen
schlage ich eine andere Betrachtung vor. Meiner Ansicht nach ist ein
grundlegender Neuanfang im Sinne einer prinzipiell realisierbaren
Gesellschaftsordnung als libertärer Sozialismus zu bezeichnen.

Dieses egalitäre, solidarische Projekt von machbaren, funktionierenden realen
Utopien, wie sie mit Erik Olin Wright bezeichnet werden können, geht aus deren
Verknüpfung und Ausdehnung hervor und wird von unterschiedlichen Gruppen
vorangetrieben, welche sich sozial-revolutionär orientieren und organisieren.
Anarchie hingegen kann zwar auf Ebene von Gemeinschaften praktiziert werden,
stellt zugleich jedoch die permanente Infragestellung jeder gesellschaftlichen
Ordnung und somit einen nie abschliessbaren Prozess der Instituierung
erstrebenswerter Beziehungen und Institutionen dar.

Beides schliesst sich nicht aus, sondern verdeutlicht eine im anarchistischen
Denken grundlegende Problemstellung: Wie ist es möglich, sich Macht anzueignen,
ohne Herrschaft zu reproduzieren? Wie ist es möglich, gesellschaftliche
Ordnungen zu stiften, die auf Freiwilligkeit beruhen und keine neuen
Privilegierungen hervorbringen? Die Beantwortung dieser Fragen kann nicht
pauschal erfolgen, sondern geschieht und gelingt bei der Umsetzung anarchistischer
Ansprüche und Vorstellungen in emanzipatorischen sozialen Bewegungen.

Insgesamt kann jedoch angenommen werden, dass die Zuspitzung der multiplen
gesellschaftlichen Krisen zu einem gesteigerten Problembewusstsein und zu einer
höheren bzw. weiter verbreiteten Bereitschaft zu radikaler und umfassender
Gesellschaftstransformation führt. Die Sehnsucht nach derartigen Umwälzungen
geht aus den Erfahrungen von Subjekten in der dominierenden Herrschaftsordnung
und den zu ihr gleichzeitig bestehenden Alternativen hervor. Aus diesen Gründen
ist es sinnvoll, sich dem anarchistischen Konzept der sozialen Revolution und
der konkreten Utopie eines libertären Sozialismus als erstrebenswerter
Gesellschaftsordnung zu widmen.

Eine weitere Betrachtung würde ergeben, dass sich die Debatten insbesondere in
der feministischen und der Klimagerechtigkeitsbewegung stark in diese Richtung
bewegen. Anarchie wirkt als Modus der Infragestellung der
staatlich-kapitalistischen-patriarchalen Herrschaftsordnung und soll einen
grundsätzlichen Neuanfang denkbar und erfahrbar machen. Die Motivation für
einen gesamtgesellschaftlichen Aufbruch, eine radikale und umfassende
Gesellschaftstransformation speist sich daran anschliessend aus der
Positionierung zum libertären Sozialismus.

Theoretische Überlegungen können zur Orientierung auf einen derartigen
Neuanfang hin dienen und hilfreich sein, insofern damit wie in diesem Beitrag
libertär-sozialistische Tendenzen und Ansatzpunkte erfasst und beschrieben
werden, die tatsächlich vorhanden sind (vgl. Day 2005). Seine Realisierung ist
jedoch eine Frage der Organisierung, Bewusstseinsbildung und politischen und
sozialen Auseinandersetzungen der von Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung
und Ausgrenzung betroffenen Menschen.