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Katharina Pistor: „Der Code des Kapitals“ Vor dem Recht sind nicht alle gleich

Von Ursula Weidenfeld, Deutschlandfunkkultur, 16. Januar 2021. Das Kapital genießt seit 300 Jahren erstaunliche Sonderrechte, analysiert brillant Katharina Pistor in „Der Code des Kapitals“. Die Folge: Nicht Gesetzgeber, sondern Firmenanwälte bestimmen das Geschick ganzer Gesellschaften.



Was Pistors Titel so interessant macht, ist die Herleitung des Turbokapitalismus aus den Institutionen heraus. (Suhrkamp / Deutschlandradio)

Wer macht den Kapitalismus fett? Es sind die Rechtsanwälte, die im Wirtschaftsrecht längst die Herrschaft übernommen haben. So argumentiert jedenfalls Katharina Pistor, deren Buch „The Code of Capital“ aus dem Jahr 2018 jetzt ins Deutsche übersetzt worden ist. Es heißt: „Der Code des Kapitals: Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft“ und macht mit diesem Untertitel deutlich, worum es der Autorin geht. Sie beklagt, dass das Recht, das doch in demokratischen Staaten für alle gleich und für jeden zugänglich sein soll, die Ungleichheit verschärfe und überdies parteiisch zugunsten der Reichen sei.

Pistor zeigt anhand der Rechtsentwicklung, wie Gesetze, Gerichte und Anwälte den Kapitalismus in seiner heutigen Form begründet haben – und wie sie jetzt dazu beitragen, dass sich auf der Kapitalseite immer mehr Reichtum anhäuft, während normale Einkommensbezieher, Arbeiter und Arme, aber auch die Staatlichkeit von dieser Entwicklung abgeschnitten sind.

Spannend wie ein Krimi

Sich mit Rechtsgeschichte zu beschäftigen, ist normalerweise eine trockene Angelegenheit. Bei Pistor ist es ein bisschen wie ein Krimi. Sie beschreibt, wie in den vorindustriellen Gesellschaften Europas – vor allem in England – Kapitalgesellschaften durch Änderungen im Privatrecht entstehen, wie sie geschützt werden, und wie sie heute Privilegien genießen, von denen andere Akteure im Wirtschaftsleben – Arbeitnehmer zum Beispiel – nur träumen können.

Diese Privilegien sind eine erstaunliche Bevorzugung von Kapitalgesellschaften, zum Beispiel im Fall der Insolvenz eines ihrer Geschäftspartner. Sie bestehen in einer Überlebensgarantie, die die Nationalstaaten im Interesse der Stabilität ihrer Gesellschaften geben. Sie werden fortgesetzt in dem Vorteil, fast überall auf der Welt als Geschäftspartner und Rechtsperson anerkannt zu sein und sich den Rechtskreis aussuchen zu können, in dem man handelt.

Und sie enden noch lange nicht damit, dass Kapital nahezu jederzeit verkauft und in Geld verwandelt werden kann, für dessen Wert die Allgemeinheit geradesteht. Damit kann sich das Kapital immer wieder selbst erschaffen, immer weitere Bereiche des öffentlichen Lebens einer Gemeinschaft lassen sich „codieren“, dem Kapital einverleiben, argumentiert Pistor.

Das Recht garantiert dem Kapital große Privilegien

Miteinander kombiniert, sind diese vier Vorzüge nach Pistors Meinung unschlagbar. Sie sorgen dafür, dass Kapital neues Vermögen schafft, und sich vom Zugriff des Staates, zum Beispiel durch Besteuerung, abschotten kann. Extrem teuer bezahlte Rechtsfirmen nutzen das aus, um für ihre Mandanten an allen Plätzen der Welt nach neuen Gelegenheiten zu fahnden, den Reichtum in Unternehmen, Stiftungen oder Trusts zu bewahren und zu potenzieren.

Was Pistors Titel so interessant macht, ist die Herleitung des Turbokapitalismus aus den Institutionen heraus. Ihr geht es nicht um die Gier, die Skrupellosigkeit oder den Diebstahl. Die Freiburger Juristin, die als Rechtsprofessorin an der amerikanischen Elite-Universität Columbia Law School unterrichtet, zeigt, wie zunächst unverdächtige Einzelentscheidungen zum Beispiel im britischen Boden- oder Erbrecht, die vor drei Jahrhunderten getroffen wurden, heute dazu führen, dass man nahezu alles codieren, also als Kapital ausweisen kann.

Nicht nur Aktien und Unternehmensanleihen, Derivate und neue Finanzprodukte verdanken ihre Existenz dieser Rechtstradition. Selbst die Natur, modifizierte Gensequenzen und sogar Ideen werden so aus der Sphäre des Allgemeinguts, der Allmende, in die des Kapitals verschoben. Im Kern führe das zu einer Privatisierung des öffentlichen Guts, klagt die Autorin.

Rechtsanwälte bestimmen das Geschick ganzer Gesellschaften

Die Nationalstaaten, die eigentlich das Recht doch setzen und jedem Bürger garantieren, stehen daneben und schauen ratlos zu. Viele von ihnen bieten Kapitalgesellschaften sogar besonders günstige Bedingungen, damit sie sich lieber hier als an anderen Standorten ansiedeln. Sie akzeptieren das britische Recht oder das des Staates New York, nach dem die meisten Kapitalgesellschaften verfasst sind. Aus gutem Grund: Denn hier können die Unternehmen und ihre Anwälte Recht selbst schaffen.

So können die Anwälte des Kapitals aussuchen, ob und wo sie Steuern zahlen, sich den Transparenzregeln unterwerfen, oder an welchen Gerichten sie ihr Recht durchsetzen wollen. Nach dem britischen Privatrecht ist das nur am Rand eine Aufgabe des Staates. Meist sind es Anwälte und Richter, die das Recht prägen.

Seit den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts führt das zur Vermehrung des Kapitals auf Kosten der Arbeit, des personengebundenen Eigentums, der besonders Benachteiligten in der ganzen Welt. Und weil es kein internationales Recht gibt, das diese Entwicklung bremst, verschärft sich die Ungleichheit, argumentiert Pistor. Nicht die Regierungen bestimmen über das Geschick ihrer Gesellschaften, die Rechtsanwälte tun es, provoziert Pistor.

Brillante Analyse – ambivalente Forderungen

Eigenartig kurz und ambivalent fallen nach der brillanten Analyse ihre Vorschläge zur Heilung aus. Ein System, das sich im Wesentlichen in den vergangenen 300 Jahren etabliert hat, wischt man mal nicht eben so vom Tisch – auch wenn man wie die Juristin fürchtet, dass es die Staatlichkeit künftig noch stärker aushöhlen wird. Sie besteht darauf, dass Recht ein öffentliches Gut ist, auch wenn es immer stärker privatisiert wird.

Sie wünscht sich mehr internationale, verbindliche Recht(durch)setzung, fragt aber auf der anderen Seite, ob Europa sein Rechtssystem tatsächlich auch denen zur Verfügung stellen muss, die ihre Ansprüche lieber nach britischem und amerikanischen Recht codieren. Sie plädiert da, wo das noch möglich ist, für Korrekturen im Rechtssystem. Doch wie sich das gegen plumpen Protektionismus abgrenzen lässt, erläutert sie nicht. Sie lässt die Antworten offen.