Christine Labrige – Historische Romane zeigen Konstanten der Menschheitsgeschichte
Von
Milena Rampoldi, ProMosaik. Anbei mein Interview mit der Autorin Christine
Labrige. Habe in den letzten Tagen mit ihr an der Veröffentlichung ihrer
Trilogie gearbeitet und bin sehr froh darüber, sie auch interviewt zu haben.
Sie schreibt über eine wenig erforschte historische Epoche der Umwälzung. Und
2020 ist auch ein Jahr großer Umwälzungen. Ich bin der Meinung, dass
historische Romane uns als sozio-politischer Leitfaden dienen können, um das Jetzt
besser zu deuten und teilweise auch zu relativieren. Die Coronakrise ist eine
Umwälzung unter vielen in unserer Menschheitsgeschichte und kann gemeistert
werden.
Wie
wichtig sind historische Romane, gerade in dieser schwierigen Zeit?
Historische
Romane sind wichtig, weil sie Gemeinsamkeiten aufzeigen, die sich in der
Geschichte ereignet haben. Historische Romane zeigen Konstanten der
Menschheitsgeschichte auf. Ich habe mir gerade eine so entfernte Zeit
ausgesucht, um zu betonen, wie nah sich Menschen stehen, auch wenn ganze
Jahrtausende sie voneinander trennen. Was mich an den historischen Romanen
fasziniert ist, dass ein Autor historisches Wissen einbringen kann und
gleichzeitig die Ereignisse kreativ gestalten kann. Und immer wieder treffen
sich fiktive und historische Elemente. Ich möchte mit meinem Roman über Irya
und die Große Flut auch aufzeigen, dass die gesamte Menschheitsgeschichte eine
Geschichte radikaler Veränderungen und Umwälzungen war. Diese Botschaft finde
ich gerade wichtig in dieser schweren Zeit der Pandemie, die einher geht
mit einer schweren Krise des Kapitalismus und des technologischen Fortschritts…
Sie
soll aufzeigen, dass Menschen Krisen nur meistern, wenn sie sich dazu
entscheiden, zu reagieren, sich für etwas einzusetzen und sich um
etwas zu bemühen. Krise ist auch eine Chance. Krise bedeutet im
Griechischen nicht nur Meinung, sondern Entscheidung. Krise bedeutet, dass ich
einen neuen Weg einschlage und in eine neue unbekannte Richtung gehe. Diesen Weg
zeigen uns die Protagonisten meiner Trilogie.
Wenn
über die Geschichte in meinem Roman moderne Leser auf Lösungsmöglichkeiten
aufmerksam gemacht werden, wie eine ernste Krise überwunden werden kann, dann
hilft ihnen das vielleicht für ihre Orientierung, die eigenen Kräfte
zielgerecht für die Bewältigung unserer jetzigen Krise zu mobilisieren.
Wie
reagieren die Protagonisten des Romans auf die Umwälzungen?
Die
Umwälzungen beginnen für die Protagonistin Irya bereits vor der
Naturkatastrophe. Deren persönliche Krise ist ihre Verzweiflung wegen ihrer
aussichtslosen Lage. Sie ist nahe dran, sich das Leben zu nehmen. Die
Naturkatastrophe reißt Irya abrupt aus ihrer emotionalen Sackgasse, befreit sie
aus ihrer Verstrickung mit ihren eigenen Gefühlen und konfrontiert sie schockartig
mit der gnadenlosen Realität, mit der Bedrohung, die alle betrifft.
Irya
wird veranlasst, alle ihre inneren Kräfte auf die Rettung zu richten, auf ihre
eigene und auf die all derer, mit denen sie in der Siedlung zusammengelebt hat.
Dieser
Umschwung zur Neuorientierung ist der große Sprung in Iryas persönlicher
Entwicklung. Und auch bei den anderen, die in der Not das gleiche Schicksal
teilen wie Irya, wird die Bereitschaft, Hilfe zu leisten, mobilisiert, und in
allseitiger Solidarität gelingt es ihnen, einen gemeinsamen Ausweg aus der
Notlage zu finden. Mit der Dramatisierung des Geschehens im Roman soll auf
Seiten des Lesers Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten geweckt werden, wie man
am besten durch eine Krise steuert.
Die
Coronakrise hat uns Einiges gelehrt. Was hat diese mit der Großen Flut
gemeinsam und was nicht?
Die
Coronakrise hat uns gelehrt, über das Wesentliche in unserem Leben
nachzudenken. Sie hat uns gezeigt, wie unsicher und ungerecht unsere Welt ist.
Sie hat uns unsere Vergänglichkeit vor Augen gebracht. Sie hat uns gezeigt, wie
hektisch und globalisiert unsere Welt ist. Gleichzeitig haben wir aber auch
verstanden, mit wie wenig Nachhaltigkeit und mit wie viel Ausbeutung wir ein
System aufgebaut haben, das dabei ist zu implodieren. Technischer Fortschritt
und Wirtschaftswachstum sind nicht bis ins Äußerste tragbar. Die Opfer sind die
Menschen, die nicht zu diesem Wachstum gehören, die davon ausgeschlossen
werden. Was die Coronakrise mit der großen Flut gemeinsam hat, ist der Einschritt,
die große Umwälzungskraft. Was sie nicht gemeinsam hat, ist die planetare
Ausdehnung und Geschwindigkeit, die durch den technologischen Fortschritt auf
den Gebieten der Logistik und Kommunikation erst möglich geworden sind.
Was
können wir aus diesem Roman lernen?
Wir
können lernen, nicht in Panik zu geraten, selbst wenn die Lage aussichtslos
scheint. Als Irya versucht, ihre Freundin Imba zu befreien, deren Bein unter
einem umgefallenen Baumstamm feststeckt, und als sie sieht, wie die Wellen der Flut
heranbrausen und immer näher kommen, da wäre es menschlich gewesen, wenn sie
von Panik ergriffen worden wäre und weggerannt wäre. Aber ihr Wille zu helfen
wurde in dieser Extremsituation angestachelt und sie hielt durch. Die Flut
brauste heran und bewegte den Baumstamm, und der gab Imba frei. Auch als die
Anderen mit Schrecken verfolgen mussten, wie die Siedlung überflutet wurde, da
hätte so mancher verzweifelt und wäre zusammengebrochen, hätte sich lethargisch
in sein Schicksal ergeben. Doch auch bei denen regt sich der Widerstand. Sie
begehren auf gegen die Unbilden der Natur und lassen sich nicht unterkriegen.
Ich
habe in der Forschungsliteratur über die Flutkatastrophe und Alteuropa den
Hinweis auf den griechischen Ausdruck kairos
gefunden, auf diese Bezeichnung für den “rechten Augenblick”, für das
“rechte Maß”.
Kairos ist, wenn man in
einer Krisensituation nicht in Panik gerät, sondern sich innerlich sammelt und
den richtigen Zeitpunkt abpasst, das Richtige zu tun, um zusammen mit den
Anderen durchzukommen und nach der Krise neu anzufangen. Das Bewusstsein der
von der Katastrophe Betroffenen war geprägt von kairos, und sie handelten richtig. Somit kann man Angst positiv
interpretieren als Fokussierungsstütze für die Betroffenen, um diese Angst somit
als Ausgangspunkt zu nutzen und sie zu überwinden.
Wie wichtig ist
ein fundierter Diskurs zum Thema Nachhaltigkeit in Zeiten der Umwälzung in der
Geschichte?
In
einer Zeit, wenn die individuelle Bewegungsfreiheit durch Krisenwirkung
eingeschränkt wird, werden sich die Menschen bewusst, dass äußere Kräfte am
Werk sind, gegen die sie machtlos sind. Das ist aber kein Grund, ärgerlich zu
sein oder zu verzweifeln. Denn es muss lächerlich anmuten, auf etwas wie einen
Virus, in diesem Fall Covid-19, zu schimpfen. Vielmehr lohnt es, dass wir uns
selbst fragen: was ist für unser Leben eigentlich wichtig? Wie kommen wir durch
die Krise und wie können wir sie überwinden? Vergnügungen wie ins Kino zu
gehen, mit Bekannten Zeit im Café zu verbringen, mit Freunden Geburtstag zu
feiern oder einen Ausflug zu machen, sind angenehm, aber in Krisenzeiten muss
man eben darauf verzichten.
Das
sollte uns aufmerksam machen auf das, was tatsächlich wichtig ist, wie die
Grundwerte unseres Zusammenseins. Einer der ganz wichtigen Werte ist sicher
Solidarität, und die sollte man eigentlich groß rausbringen, sozusagen in
Großbuchstaben: SOLIDARITÄT. Diesen Wert kann man auch umschreiben, als
‘verantwortliches kooperatives Handeln’. Es lohnt, sich darum zu bemühen.
Kooperativ zu handeln kommt in ganz verschiedenen Zusammenhängen zum Ausdruck:
wenn man sich als Nachbarn gegenseitig hilft, wenn man sich Anordnungen der
Regierung fügt, weil man erkennt, dass deren Maßnahmen zur Bekämpfung der
Pandemie richtig, nützlich und notwendig sind, wenn man nicht einseitig auf
seine Menschenrechte pocht, sondern bereit ist, Menschenpflichten zu
übernehmen, usw.
Es
lohnt sich, SOLIDARITÄT im Auge zu behalten und nicht nachzulassen, und vor
allem: sich nicht durch kleinliche Probleme ablenken zu lassen. Und wenn die
Menschen sich klar machen, wie wichtig solidarisches Handeln ist, dann laufen
sie auch nicht Gefahr, diesen Wert zwischenzeitlich zu vergessen oder gar
aufzugeben. Solidarisches Handeln ist unverzichtbar für ein Gleichgewicht
der Kräfte in unserer Gesellschaft, und deshalb ist es wichtig, nachhaltig
daran festzuhalten. Und die, die solidarisch handeln, spüren auch, dass das
positive Stimmung macht … im Miteinander etwas zustande zu bringen.
Welches
Ziel verfolgen Sie?
Wenn
man sich einfühlt in die Welt von damals, in das dramatische Geschehen, das
durch die Flutkatastrophe ausgelöst wurde, dann kann ich mich als
Schriftstellerin in die Lage meiner Protagonistin Irya versetzen. Alle
Bindungen an ihr früheres Leben werden ganz plötzlich abgerissen. Da lauert die
Gefahr, ins Chaos zu stürzen und die Orientierung zu verlieren. Man wird von
Angst ergriffen: was soll nun werden? Die menschliche Psyche ist im
Belagerungszustand. Und dann verteilt das Schicksal Karten: die Einen werden
von ihrer Angst in die richtige Richtung getrieben, sich aufs Überleben zu
konzentrieren, die Anderen brechen zusammen und bleiben auf der Strecke.
Ich
möchte zeigen, dass wir Menschen in einer Notsituation immer Alternativen
haben. Die Alternative, das Richtige zum rechten Zeitpunkt zu tun, müssen wir
in uns selbst aufspüren, energisch ansteuern, unnachgiebig verfolgen und alle
Möglichkeiten ausschöpfen.
Das
klingt vielleicht abstrakt, aber wie das konkret abläuft, das versuche ich, in
meiner Story zu dramatisieren. Und die Umstände einer Krise wie der zur Zeit
der großen Flut wiederholen sich in anderen Krisen mit ihren Notsituationen.
Und da haben wir die Anbindung an unsere Probleme von heute.
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