IZ-Tagebuch: In Zeiten des Virus. Reflexionen über Bedeutungen und Ängste einer globalen Pandemie
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#64 BILD Deutschlands klügste Corona-Skeptiker kritisieren die harten Maßnahmen „Lockdown war ein Riesen-Fehler“. (BILD Online)
Ups… wechselt BILD zu den Verschwörungstheoretiker? Petzen!
#63 Die Medien und das Coronavirus
Ich habe heute – auf Einladung der UNICAT Hessen – ein kurzes Impulsreferat auf Instagramm-Live gegeben. Leider habe ich die Veranstaltung zu spät beworben und stelle hier kurz die Leitgedanken vor.
Zur Einführung – als Bewunderer der Weimarer Klassik – zunächst ein ZITAT:
„Wir gelangen nur selten anders als durch Extreme zur Wahrheit – wir müssen den Irrtum – und oft den Unsinn – zuvor erschöpfen, ehe wir uns zu dem schönen Ziele der ruhigen Weisheit hinaufarbeiten.“ (Friedrich Schiller)
Tatsächlich haben wir es heute nicht nur mit einer außergewöhnlichen Lage, sondern auch mit vielen extremen Positionen zu tun. Von der „ruhigen Weisheit“, die Schiller anstrebt, sind wir wohl noch weit entfernt. Aber der Reihe nach….
1. Nur zur Erinnerung: Wer noch Anfang Februar behauptete, dass das Virus gefährlich ist, galt in den Medien als Spinner und Verschwörungstheoretiker. Die Bevölkerung fühlte sich relativ sicher. Das psychologische Problem, dass sich hieraus ergab, ist klar: Wenn die Menschen sich einmal in einer „bequemen Wahrheit“ eingerichtet haben, braucht ein Sinneswandel seine Zeit.
2. Spätestens nach den Bilder von Oberitalien und dem Elsass veränderte sich die Lage dramatisch. Plötzlich war die Pandemie in aller Munde und die Gefahr greifbar. Es begannen massive Maßnahmen der Regierung (starker Staat) und eine massive Medienkampagne zur Aufklärung. Das staatliche Ziel war dabei nachvollziehbar: die Verhinderung der Überlastung unserer Gesundheitssysteme. Das Problem für den Medienkonsumenten war dabei, zwischen sachlicher Informationen und hysterischer Panikmache, zu unterscheiden.
3. Die Folge war ein „Stresstest“ für die Gesellschaft und ein allgemeiner Schock, dem sich niemand entziehen konnte (egal ob reich oder arm, jung oder alt, Muslim oder nicht). Ein Modell des Psychoanalytiker Jacques Lacan kann vielleicht helfen, die Schockwirkung besser zu verstehen. Nach Lacan ordnen wir auf der psychologischen Ebene ein Ereignis in folgende Register ein: das Imaginäre, das Symbolische und das Reale. Das Imaginäre sind dabei alle Bilder, virtuelle Wirklichkeiten und die Kunst. Das Symbolische ist alles was wir in Sprache fassen, alle Gesetze und Konventionen zum Beispiel. Das Reale wirkt in uns wie eine Art Störung, wir sind sprachlos und können dem Geschehen nicht unmittelbar Sinn und Bedeutung geben.
Wir erlebten also eine Art Umkehrung aller Werte und Gewohnheiten.
Auf der imaginären Ebene, drängten sich Bilder von Särgen, Notaufnahmestationen oder von den Delphinen, die in der Laune von Venedig schwimmen, an. Auf der symbolischen Ebene müssten wir unsere Sprache neu ordnen (neuer Herrensignifikant „Corona“) und Worte wie „soziale Distanz“ in unseren Sprachschatz aufnehmen. Wir lernten den Diskurs der Experten nachzusprechen. Dazu begegneten wir zahlreichen neue Konventionen und neuen Gesetzen. Auf der realen Ebene wirkte eine Störung in uns, die zunächst sprachlos machte. Zudem stellte sich die Frage: Was ist das Reale des Virus? Was spricht uns hier an: Die Natur? Das Nichts? Gott?
4. Wir leben immer noch in einer Phase tiefer, andauernder Verunsicherung. Die Gesellschaft muss nun lernen mit zwei Fundamentalängsten bewusst umzugehen:
– TOD (Gesundheit wird zum erhabenen Objekt der Ideologie, wie zuvor die Sicherheit)
– VERSORGUNG (Hamsterkäufe, Zukunftsängste)
Zudem werden wir durch zahlreiche Fragen in unserem Denken herausgefordert: Sie sind logischer (exponentielles Wachstum), ethischer, rechtlicher und ökonomischer Natur.
5. Gibt es so etwas wie eine objektive Wahrheit? Für unsere Erfahrung der neuen Realität sind die Medien, die wir konsumieren, entscheidend. Die digitale Medien sorgen für eine Informationsflut, setzen uns unter Zeitdruck und aktualisieren fortlaufend diverse Irrtümer. Da die Pandemie komplexe Fragestellungen aufwirft, stellt sich die Frage welchen Quellen wir vertrauen wollen.
Nach der „Langzeitstudie Medienvertrauen“ der Johannes Gutenberg Universität Mainz vertrauten (2019) 43 Prozent der Befragten den etablierten Medien voll und ganz. 2015 waren es lediglich 28 Prozent. Allerdings wächst die Zahl derer, die den Medien in wichtigen Fragen misstrauen: Von 19 Prozent 2015 auf 28 Prozent 2019. Wir werden sehen wie sich diese Zahlen 2020 entwickeln.
6. Wie können Medien zur vernünftigen Beurteilung des Geschehens beitragen? Nach Hegel entwickelt sich ein Urteil in der Folge von These, Gegenthese und Synthese. Die Leitmedien etablierten zunächst die Logik, dass ohne drastische Maßnahmen zehntausende Tote zu erwarten wären. Alternative Medien stellten eine Gegenthese auf, das Virus sei nicht gefährlicher als eine Grippe und die Maßnahmen daher übertrieben.
Langsam stellten weitere Akteure ebenso ihre Gegenthesen auf:
– Wissenschaftler, die nicht nur aus dem Raum des RKI stammten.
– Philosophen erinnerten daran, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Der Drang nach dem biologischen Überleben dürfe die Menschenwürde nicht verdrängen (Agamben).
– Juristen forderten die Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen ein (sie müssen immer verhältnismäßig, erforderlich und geeignet sein)
– Wirtschaftsvertreter erinnerten an die verheerenden ökonomischen Folgen. Für das Finanzsystem biete sich nun ein „Restart“ an, für dass das Virus verantwortlich sei.
– Verschwörungstheoretiker
Politisch stellt sich die Frage, wer künftig die Synthese in einer Demokratie vermittelt. Sind es Wissenschaftler, Politiker oder Medien? Fakt ist, immer mehr Menschen sind von der Komplexität der Ereignisse überfordert.
6. Meine Meinung
a) zu den Medien
– Kritik an den Mainstreammedien ist berechtigt, da sie teilweise einseitig berichteten und kaum alternative, wissenschaftliche Positionen zu Wort kommen ließen.
– Kritik an alternativen Medien ist aber ebenso berechtigt: (Lenin: Maßlose Übertreibung erleichtert das Verständnis ) Sie spielen mit der verführerischen These, dass man das Virus praktisch ignorieren könne. Die Ausgrenzung von Polemik und Verschwörungstheorien wird wichtiger, gerade dann, wenn man an einem kritischen Diskurs ohne Denkverbote interessiert ist.
– Eine echte Debatte, die unterschiedliche Positionen sachlich anbietet, ist eher selten (Gutes Beispiel für eine echte Kontroverse, mit substantiell unterschiedlichen Meinungen findet man auf Telepolis).
b) zu den Maßnahmen:
– Ich vertrete eine mittlere Position
– Einerseits Zustimmung: Das Virus ist gefährlich. Die Regierung musste handeln. Welche Maßnahmen welchen Beitrag zur Bekämpfung leisten ist allerdings strittig und nicht abschließend geklärt. Die Synthese, das abschließende Urteil über den Sinn der Verordnungen, wird noch einige Monate beanspruchen.
– Andererseits lehne ich aus verschiedenen Gründen persönlich ab: Maskenpflicht, Immunitätspass, Impflicht, Chip
Fazit:
– Wir leben meiner Meinung nach in keiner „Orwellschen Diktatur. Wir geben vielmehr unsere Rechte potentiell freiwillig auf (wie beim Datenschutz). Kritische Aufmerksamkeit gegenüber der Gesundheitspolitik ist daher weiterhin geboten.
– Es wäre zu begrüßen, wenn kritische Debatten nicht nur in den alternativen Medien stattfinden würden.
– Islam kann mit Fundamental-Ängsten gut umgehen. Muslime müssen sich aber an den neuen gesellschaftlichen Debatten (Moschee ist das kleinste Problem) aktiver beteiligen.
#62 Debattenkultur
„Die öffentliche Meinung wird verachtet von den erhabensten und von den am tiefsten gesunkenen Menschen.“ (M. von Ebner Eschenbach)
Es ist wie auf dem Meer, eine Welle löst die Andere ab. Im Moment werden die Signifikantenketten rund um die „Verschwörungstheoretiker“ abgearbeitet. Die meisten Texte hierzu sind natürlich intellektuelle Höchstleistungen und lesen sich irgendwie wie Packungsbeilagen für Desinfektionsmittel oder Anweisungen zum Händewaschen: Halten Sie soziale Distanz vor Nazis! Glauben Sie bitte nicht an eine Marsmenscheninvasion! Nehmen Sie die Todesgefahren ernst! Soweit zu den Binsenweisheiten.
Der Umstand, dass hunderttausende Bürger sich in dieser Krise von den etablierten Medien abwenden, scheint dagegen wenig Kummer zu bereiten. Genügen hier nur Spott und Häme? Fakt ist, immer mehr Menschen empfinden die veröffentlichte Meinung als einseitig und suchen nach Alternativen zur Meinungsbildung. Sie mögen hier leider auf die bekannten trüben Quellen stoßen. Nur: Die Frage bleibt, ob ist der Vorwurf der Einseitigkeit wirklich abwegig ist?
Im Verlauf der Krise wirkt es für Teile der Bevölkerung immer wieder, als wären nur die Wissenschaftler akzeptabel, die vom RKI oder Herrn Drosten als „gesund“ eingestuft werden. Eine öffentliche und nachvollziehbare Auseinandersetzung mit kritischen Gegenargumenten – ganz ohne Verschwörungstheoretiker natürlich – gab es dagegen eher selten. Und immer ein paar Wochen warten, bis Markus Lanz mal eine ausnahmsweise kritische Stimme abruft, passt nicht ins digitale Zeitalter.
Natürlich lässt sich argumentieren, dass es sowieso nur eine wissenschaftliche Wahrheit gebe, dass die Grundrechtseingriffe harmlose Episoden seien und dass man am besten zu Hause auf die Instruktionen der Regierung wartet. Dann wäre die Notwendigkeit zur Abbildung kontroverser Meinungsbilder hinfällig geworden.
Nur, wer zumindest theoretisch zulässt, dass man die Situation rund um die Pandemie auch anders sehen kann, sollte sich von der Hysterie über die Verschwörungstheoretiker nicht von der eigentlichen Problematik, dem Mangel an echter Debattenkultur ablenken lassen.
#61 Muslimische Zivilgesellschaft
Nach den Ereignissen der letzten Wochen dürfen wir inzwischen unter Auflagen die Moscheen wieder betreten. Das sind die kleinen Siege des Alltags.
Aber die Herausforderungen an zivilgesellschaftliche Akteure, die künftig relevant sein wollen, sind größer: Wie schützen wir unsere fragilen Bürgerrechte, wie begegnen wir künftigen Pandemien, wo sehen wir die Würde des Menschen verletzt und wie positionieren wir uns in Gerechtigkeitsfragen?
Da all diese Themen ein wissenschaftliches und intellektuelles Fundament benötigen, ist ein Forum, das muslimische Intelligenz zusammenführt, überfällig. Es wäre an der Zeit die Expertise muslimischer Juristen, Mediziner, Soziologen usw. zu bündeln. Dabei sollte die Kompetenz der TeilnehmerInnen, nicht die Herkunft oder die Vereinszugehörigkeit, im Vordergrund stehen.
#60 Offene Gesellschaft
Ergebnisoffenes Erkenntnisverfahren? Schön wär’s! Die meisten Menschen haben schon ein Ergebnis, bevor sie offen sind. Wie war das nochmal bei Hegel? These, Gegenthese, Synthese? Bei uns wird aber meist schon vor dem Prozess der Dialektik die Keule herausgeholt.
Die Grundproblematik besteht zudem bei der Debatte um die Bewältigung der Pandemie, dass die Synthese nach aller Logik einige Zeit brauchen wird. Wir sammeln jetzt nur Informationen für den aktualisierten Irrtum. Idioten und Extremisten werden später endgültig markiert.
Nur zur Erinnerung: Wer im Januar vor der Gefährlichkeit des Virus warnte, war nicht etwa Held, sondern Spinner und Verschwörungstheoretiker.
#59 Moscheen
Auflagen wie Maske, Sicherheitsabstand und diverse Hygienevorschriften erinnern, dass unsere Moscheen inzwischen wieder öffnen können, aber das normale Gemeinschaftsgebet beinahe unmöglich ist.
Gleichzeitig erinnert Gesundheitsminister Jens Spahn daran, dass es Jahre dauern könnte, bis ein Impfstoff gefunden wird. Das Wort Geduld könnte hier eine neue Qualität bekommen. Zum Trost erinnert man sich gerne an die alte Weisheit, dass die ganze Welt eine Moschee ist.
In dieser Zeit wird klar, dass wir Muslime mit allen anderen im Land in einem Boot sitzen. Die Segnungen des Ramadan bleiben, während wir die reale Lage nicht simpel ignorieren können. Beschränkungen für unsere Moscheen gehören dabei eher zu den kleineren Problemen.
Die existentiellen Fragen – zwischen dem Verlangen nach biologischem Überleben und dem würdevollen Umgang mit den Herausforderungen dieser Krise – fordern uns alle heraus. Es gilt, die berühmte, mittlere Position neu zu definieren.
Beten und Denken, Rückzug und gesellschaftliches Engagement sind in unserer Lebenspraxis keine Widersprüche.
#58 Verschwörungstheorien
Das eigentliche Dilemma des hysterischen Diskurses sogenannter Verschwörungstheoretiker besteht darin, dass sie an sich wichtige Fakten durch maßlose Übertreibungen oder abstruse Spekulationen entwerten. Damit wird das Argument selbst mit extremen Assoziationen belastet und aus dem Diskurs gedrängt.
Ein gutes Beispiel ist dafür die Debatte um die Rolle der „Gates Foundation“. Die sachliche Problematik ist, ob diese milliardenschwere Institution mit ihren finanziellen Zuwendungen die Entscheidungen der WHO oder des RKI beeinflusst und auf die Berichterstattung von Leitmedien in ihrem Sinne einwirkt. Das ist nicht nur eine offene Frage, sie wird von etablierten Medien nicht gestellt.
Wer nun Gates aber zur „Inkarnation des Bösen“ erklärt und behauptet, dass er das Virus erfunden haben und die Weltbevölkerung durch Impfung dezimieren wolle, schadet nicht nur der Aufklärung. Er liefert zudem die perfekte Vorlage, nicht mehr über die berechtigte Frage selbst diskutieren zu müssen. Diejenigen, die Gates für die „Inkarnation des Guten“ halten, werden sich mit Vergnügen auf die Abgründe der Verschwörungstheorie konzentrieren und so erfolgreich den eigentlichen Fragen aus dem Weg gehen.
Wenn Leitmedien diese sachlichen Fragen nicht debattieren, darf man sich gleichzeitig nicht wundern, wenn sich ganze Bevölkerungsschichten den Quellen zuwenden, die hier eine (angeblich) freie Berichterstattung suggerieren.
Meiner Wahrnehmung nach gibt es durchaus alternative Medien, die hier sinnvoll differenzieren und sachlich aufklären. Die Seite telepolis, um ein Beispiel zu nennen, präsentiert ergebnisoffen verschiedene Positionen, ohne aber den Leser mit Verschwörungstheorien zu belästigen oder ihm das Denken vollständig abzunehmen.
Der Besitz der Wahrheit ist nicht schrecklich, sondern langweilig wie jeder Besitz. (Friedrich Nietzsche)
Die Dinge sind im Fluss. Naturgemäß richten wir uns gerne in unseren Wahrheiten ein. Das ist verständlich, weil wir uns in der großen Störung ja einrichten müssen: Pandemie, neue Gesetze, Wirtschaftskrise. Die Informationsflut tut ihr Übriges: Welcher Quelle kann man trauen, gar vertrauen?
Um der Langeweile der eigenen Echokammer zu entgehen, finde ich es immer spannend, andere Positionen zur Kenntnis zu nehmen und notfalls die eigene Haltung zu korrigieren. Für ein gutes Argument ist man dem Gegner dankbar. Das ist wie beim Sport: Wer gut sein will, misst sich mit der Leistung anderer. Da es letztlich um Schicksals- und Richtungsfragen geht, lohnt sich die Mühe hier.
Insbesondere beim Einsatz für unsere Rechte darf man sich nicht auf die Mehrheit verlassen. Es ist immer eine Minderheit, die sich wehrt.
#56 Widerstand?
Die Pandemie ist ein Ereignis. Wie wird es die Politik im Land verändern? Unter dem Namen Widerstand 2020 formiert sich sogar eine neue Partei, die – wenn das stimmt – schon mehrere, zehntausend Unterstützer hat. Das Programm der Bewegung ist bisher vage. Aber die Temperatur im Land steigt spürbar stetig.
Fakt ist: Seit dem 11. September war Sicherheit das große Thema, das Staat und Gesellschaft bestimmte. Inzwischen ist Gesundheit das erhabene Objekt neuer ideologischer Positionierungen. Der Ruf nach absoluter Sicherheit und Gesundheit wird im Zusammenspiel unsere Gesellschaft radikal verändern. Die Angst vor … wird zur entscheidenden politischen Kraft.
Es ist staatliche Strategie, eine Überlastung der Gesundheitssysteme zu verhindern. Das ist weiterhin nachvollziehbar und vernünftig. Es geht nicht darum, einfach fatalistisch nichts zu tun. Die Gefahren des Virus sind real.
Für mich persönlich war die Einführung der „Maskenpflicht“ ein Schnitt im Geschehen. Noch im Februar hatte sogar das RKI und viele Experten den Sinn dieser Maßnahme bezweifelt. Die Pflicht zur Maskierung ist ein Symbol dafür, dass der Bürger endgültig zum Objekt staatlicher Fürsorge wird. Ich bin erstaunt, wie viele BürgerInnen sich hier schweigsam fügen.
Im Kern betrifft diese Verordnung den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts, die Menschenwürde, die Freiheit über unsere Körper und stellt möglicherweise den Auftakt für neue, fragwürdige Möglichkeiten des Gesundheitsschutzes dar: Immunitätspass, Gesundheitschips zur Datenerkennung sowie Impfpflicht. Mein Grundsatz ist hier simpel: Wir wollen selbstverständlich biologisch überleben, aber in Würde.
Wie immer man zu diesen Themen steht, ob man Muslim ist oder nicht: Hier wird man Gesicht zeigen und sich eindeutig positionieren müssen.
#55 Rechtsstaat
Es ist ein gutes Zeichen, dass deutsche Gerichte inzwischen staatliche Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung einer kritischen juristischen Überprüfung unterziehen. Dabei geht es nicht darum, alle Verordnungen pauschal in Frage zu stellen.
Nicht hinzunehmen ist es allerdings, simpel alle Maßnahmen zu addieren und dann zu behaupten, sie seien im Gesamtpaket zum Schutz der Bevölkerung notwendig. Vielmehr muss der Sinn und Zweck (sowie die entsprechende, wissenschaftliche Begründung) jedes einzelnen Eingriffs separat geprüft werden.
#54 Subtile Spiele
Das Coronvirus, doch nur so gefährlich wie eine Grippe?
Selbstverständlich erscheinen jetzt derartige Überschriften in Medien, die zum Bezahlabo verleiten wollen. Sie manifestieren das subtile Endspiel mit den Ängsten und Hoffnungen einer ganzen Bevölkerung. Auch gegen diesen Trend der aktiven Manipulation der öffentlichen Meinung regt sich wenig Widerstand.
Wie bei jeder großen Debatte sind im Grunde die schrillen Extreme der Verschwörungstheorien willkommen. Sie dienen immerhin der Mehrheit zur dialektischen Selbstvergewisserung: „Wir sind rational, weil sie so irrational sind!“ Nebenbei werden so stichhaltige Argumente, die zu diskutieren wären, durch die Assoziation mit der Boshaftigkeit der Verschwörer effizient verschüttet.
Dass man vor lauter Blättern den Wald nicht mehr sieht, ist ein Gleichnis, das noch für die digitale Informationsflut gilt. Die Unmöglichkeit von Wahrheit – dieser Eindruck ist die entscheidende philosophische Frage dieser Krise. Sie mündet in die Nachdenklichkeit über die diversen Glaubenssysteme, in denen wir uns heute wiederfinden.
#53 Grauzone
Die Debatte um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen gegen die Pandemie spitzt sich weiter ideologisch zu. Dabei entsteht der leidige Eindruck, als gäbe es nur zwei Lager. Als müsse man zwischen absoluter Ablehnung oder Zustimmung entscheiden. Der Suche nach einer adäquaten Reaktion dient dies nicht. Vielmehr gibt es zwischen Schwarz und Weiß eine große Grauzone, die es argumentativ zu gestalten gilt.
Fakt ist: Das Virus ist nicht ungefährlich und ein völliger Verzicht auf Eindämmungsstrategien zum Schutz der Gesundheitssysteme wäre schlicht töricht.
Völlig legitim sind aber weiterhin intensive Diskussionen zum Stand der Wissenschaft, der Legitimität von Eingriffen in unsere Persönlichkeitsrechte und der Folgen für unsere Wirtschaft. Gefragt ist weder eine blinde Staats- oder Wissenschaftsgläubigkeit noch der hysterische Diskurs diverser Verschwörungstheorien. Wir leben in keiner Diktatur. Wir müssen nur – ähnlich wie beim Datenschutz – aufpassen, dass wir nicht in einer Angst- und Disziplinargesellschaft aufwachen, in der die Bürger ihre Rechte einfach freiwillig aufgeben.
#52 Fragen
BILD-online arbeitet an der Charakterbildung. „Dürfen“ wir nach Mallorca oder in die Schule? … Kinderfragen! Kinder fragen, ob sie mal eben rausdürfen. BürgerInnen fragen danach, ob staatliche Maßnahmen verhältnismäßig und rechtmäßig sind.
#51 Drosten
Ich kann schlicht nicht beurteilen, ob Herr Drosten ein guter Wissenschaftler ist.
Interessant fand ich allerdings sein Interview mit dem OFB. Es war sprachlich so von ihm strukturiert, dass er schon im ersten Satz das Wort „spanische Grippe“ bemühte. Diese Form der Grippe hat de facto Millionen Menschen hingerafft. Danach wurde das Corona-Virus von ihm vergleichend eingeordnet. Die Wirkung seiner Rhetorik – rund um diverse Signifikanten- und Assoziationsketten aufgebaut – beschränkt sich nicht nur auf eine wissenschaftliche Aussage.
Nachdem Drosten zum Symbol der Krisenbewältigung in den Medien wurde, muss er die politischen und ökonomischen Kollateralschäden – die auf Weisung der Wissenschaft eingetreten sind – nun stets als unvermeidliche Übel erscheinen lassen. Ob dies der wissenschaftlichen Objektivität dient?
#50 Kernbestand
Jede Lebensform hat einen Kernbestand, den es gegen äußere Widrigkeiten zu verteidigen gilt. Auch wenn die Moscheen geschlossen bleiben, fasten und beten wir. Auch wenn die soziale Not größer wird, üben wir Solidarität aus.
Wenn man davon ausgeht, dass die Maßnahmen zum Gesundheitsschutz uns auf längere Zeit begleiten werden, gilt es hier nachzudenken, ab welchem Punkt wir politischen Widerstand leisten müssen. Das hat nichts mit irrationaler Verweigerung gegenüber jeder staatlichen Maßnahme, die das Leben anderer schützen will, zu tun, noch ignoriert diese Position die Gefährlichkeit des Virus.
Hier geht es vielmehr um die Würde des Menschen, die eben nicht nur aus dem Willen, irgendwie biologisch zu überleben, besteht. Eingriffe in unsere Körper, in unsere Persönlichkeitsrechte verletzen überragende Rechtsgüter und dürfen von staatlicher Seite nur unter eindeutigen Voraussetzungen möglich werden. Diese Eindeutigkeit – zum Beispiel für eine Maskenpflicht – besteht aus wissenschaftlicher Sicht nicht.
Bedenklich wäre weiterhin, grundlegende Zweifel an diesen Vordnungen per se mit Verschwörungstheorien zu assoziieren und so aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen.
Selbst, wenn man den Sinn dieser Pflicht bejaht, sollte man sich dennoch die Frage stellen, wo die Grenze effizienten Gesundheitsschutzes gegenüber der Menschenwürde künftig bestehen soll. Würden wir auch andere, radikalere Formen der Markierung schlicht geräuschlos akzeptieren? Sie sind jetzt schon technisch möglich und ihre Einführung durchaus eine reale Option.
#49 Ramadan-Gruß
Es ist so weit: Ein neuer Ramadan beginnt.
Wie viele andere war ich in den letzten Wochen in erster Linie zu Hause. Überhaupt war ich nie in meinem Leben so eine lange Zeit am selben Ort. Für meine Verhältnisse hatte ich sehr geringe, direkte soziale Kontakte. Die Wirkungen dieser staatlich verordneten Therapie auf mich waren bisher unterschiedlich, schwanken zwischen der Sorge um die anstehende Wirtschaftskrise und der Dankbarkeit für die geordneten Verhältnisse vor Ort. Selbst die Reiselust, die zu dieser Jahreszeit gewöhnlich einsetzt, wurde durch den täglichen, aufmerksamen Spaziergang in der unmittelbaren Umgebung recht gut kompensiert.
Der Ramadan ist eine weitere Übung. Schwer vorstellbar ist noch der Verzicht auf das gemeinsame Fastenbrechen, das gemeinsame Tarawwih-Gebet oder gar das ‘Id-Gebet. Aber am Kern der Erfahrung des Fastens wird sich wenig ändern: die Zuwendung zum Schöpfer, die Konzentration auf das Innere und die Erfahrung der wechselnden Zustände der eigenen Existenz.
Hinzu kommt dieses Jahr ein anderes Phänomen. Die Furcht vor den Folgen der Pandemie hat uns wochenlang bestimmt und war die Grundlage für unsere rationale Fürsorge. Angst ist etwas anderes als Furcht. Hier gilt zunächst die berühmte Mahnung: „Angst essen Seele auf“ (W. Fassbinder). Die Angst ist ein Existential, etwas was zu uns gehört als Individuen, eine wiederkehrende Stimmung und – zumindest für mich – eine Erinnerung an die Abhängigkeit des Menschen gegenüber seinem Schöpfer.
Für das Kollektiv gelten andere Maßstäbe. Angst darf nie zu einem dauerhaften Instrument freiheitlich gesinnter Politik werden.
In diesem Sinne wünsche ich Euch allen einen gesegneten Ramadan!
#48 Gewissheiten
„Werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel verzeihen müssen.“ Bundesgesundheitsminister Spahn, WELT Online
Der Chor, der die Effizienz staatlicher Maßnahmen gegen die Steigerung der Reproduktions- und Infektionszahlen im Rahmen der Pandemie bewertet, ist vielstimmig geworden. Einige Sänger tragen im Inbrunst der Überzeugung vor. Aber die Realität ist eher trivial.
Der Staat hat hier mit guten Gründen aus Vorsicht und eben auf unklarer wissenschaftlicher Basis gehandelt. „Die Weltgesundheitsorganisation scheint keine belastbaren Belege dafür zu haben, dass drastische Einschränkungen wie Kontaktverbote und Schließungen von Läden und Freizeiteinrichtungen etwas gegen eine Viruspandemie bewirken,“ schreibt Ralf Hutter emotionslos in telepolis.
Es gibt keine absolute Gewissheit über den Sinn der Eingriffe. Zeitgleich rücken die faktischen und gewissen Auswirkungen politischer Entscheidungen in allen gesellschaftlichen Bereichen stärker ins Bewusstsein. Ein Dilemma. Kein Wunder, dass die Notstandsmaßnahmen zunehmend ideologisch befürwortet oder eben bekämpft werden.
#47 Technik
„Moderne Technik fordert die Natur heraus“, ist eine alte Mahnung der Philosophen. Wie immer man zu dem Satz steht: In Zeiten der digitalen Revolution – von Gesundheit-App bis zur Blockchain-Technologie – ist eine reine Verweigerungshaltung utopisch. Technische Innovationen agieren jenseits von gut und böse, sie sind bedrohlich und faszinierend zugleich.
Auch unsere muslimischen Gemeinschaften können sich diesem Veränderungsdruck nicht entziehen und gestalten sich neu. Was immer der lokale Imam sagt und lehrt, seine Community ist parallel auf Onlineforen unterwegs und sucht dort nach dem letzten Stand der Gelehrsamkeit. Portale, die die Zakat erheben und verteilen, sind bereits online organisiert und real nicht mehr an die alten, auf Mitgliedschaft basierenden Organisationsstrukturen des letzten Jahrhunderts gebunden.
Moderne Technologien werden auch alte Institutionen der Muslime neu beleben. Die Struktur von Gilden lässt sich virtuell perfekt reorganisieren und bietet die Möglichkeit, dass muslimische Experten sich nicht nur neu aufstellen, sondern ihr Wissen den Muslimen zur Verfügung stellen. Eine der wichtigsten Expertengruppen werden dabei IT-Fachleute sein.
Kurzum, es entsteht gerade ein neuer Ideenwettbewerb, der unsere antiquierten (Vereins-) Strukturen in Frage stellt. Die Gestalt unserer Gemeinschaften wird sich im 21. Jahrhundert radikal verändern.
#46 Utopien
„Eine jede Idee tritt als ein fremder Gast in die Erscheinung, und wie sie sich zu realisieren beginnt, ist sie kaum von Phantasie und Phantasterei zu unterscheiden.“ (Johann Wolfgang von Goethe)
Utopien und Phantastereien haben einen schlechten Beigeschmack. Aber, sich eine Welt nach der Pandemie vorzustellen regt naturgemäß die imaginäre Kapazität des Menschen an. Hier dringt die innere Haltung zu Tage. Die einen malen sich die Katastrophe aus, die anderen sehen zahlreiche Chancen und neue Möglichkeiten. In solchen Zeiten entsteht eine neue Literatur und eine neue Kunst, die das Künftige auszumalen versucht.
Das Bild, das der – so genannte – politische Islam in den letzen Jahren etabliert hat, hinterließ Spuren. Der Versuch, muslimisches Leben umfassend und real zu etablieren, hat im Fall des unsäglichen „islamischen Staates“ verheerende Folgen gezeitigt. Die Radikalisierung junger Muslime hat ganze Gesellschaften in Atem gehalten. Nur mühsam ist es muslimischen Organisationen gelungen, ihre positiven Ziele, von den Machenschaften der Ideologisierten abzugrenzen.
Für die Zukunftsfähigkeit der Gemeinschaften ist eine Vision notwendig. Hier ist nicht nur eine gesteigerte Effizienz unserer Bürokratie gemeint. Wie könnte unser Leben in ein paar Jahren aussehen? Sind wir beispielsweise in der Lage neu soziale und ökonomische Impulse zu senden? Wie sähe unser ideales Gemeinwesen schlussendlich aus? Was sind unsere Vorstellungen von einer neuen Urbanität, die Muslime aktiv mitgestalten?
Es ist erstaunlich, dass unsere alten Modelle – seien es die Märkte, die Stiftungen oder die Gilden – plötzlich wieder an Aktualität gewinnen. Nein, es gibt kein Zurück in die Vergangenheit. Aber es besteht durchaus die Möglichkeit unter veränderten Bedingungen, in einer Welt der Technologie, Sinn und Bedeutung dieser Institutionen wieder zu beleben. Ein wenig mehr Vorstellungskraft in diesem Sinne sowie etwas mehr Phantasie würde uns Muslimen gut tun
#45 Übertreibungen
„Maßlose Übertreibung erleichtert das Verständnis.“ (Lenin)
Hinter das Zitat Lenins gehört fraglos ein Fragezeichen – insbesondere in Zeiten der intensiven Berichterstattung über die Pandemie. Kritische Argumente, die sich gegen die Maßnahmen des Staates oder die Bewertung der Gefährlichkeit des Virus richten, werden oft getrübt, weil sie in maßlose Übertreibungen eingebettet sind.
Die Bundesrepublik ist keine Diktatur. Wohl geht es aber um die Verhältnismäßigkeit staatlicher Verordnungen. Die Rolle des Kapitals ist bekannt, aber nicht jede finanzielle Unterstützung macht den Empfänger zum willenlosen Sklaven. Es braucht keine dunkle Verschwörungstheorie, um zu befürchten, dass die weltweite Pandemie eine willkommene Vorlage für den fälligen Neustart der Finanzsysteme liefert.
Selbst ein kluger Philosoph wie Giorgio Agamben kann irren, wenn er die aktuelle Situation mit den Ausnahmezuständen der Vergangenheit gleichsetzt, und dennoch korrekt einschätzen, dass einige staatliche Eingriffe die Würde des Menschen bedrohen.
Die Fähigkeit zur Unterscheidung setzt voraus, dass man weder gängigen Medien, noch alternativen Kanälen bedingungslos folgt. Vielmehr gilt der alte Grundsatz, dass die Wahrheit mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit in der Mitte liegt.
Alternative Medien, die der hysterischen Übertreibung zugewandt sind und jedes Ereignis beinahe automatisch in die systematischen Denkmuster vergangener Tage einordnen, schaden letztlich der politischen Kultur.
#44 Alternativen
„Jetzt oder nie: Der Corona-Schock birgt die Chance auf eine bessere Welt“, liest man heute auf dem Titelbild des Spiegels. Die Botschaft hör ich wohl, allein es fehlt der Glaube…
Wird hier nur die anstehende Weltwirtschaftskrise als Notwendigkeit verkauft, deren fatale Konsequenzen nicht das Finanzsystem, sondern die böse Viren zu verantworten haben? Die bessere Welt wäre dann nach einem Neustart der Finanzmärkte möglicherweise nur eine Mischung aus nationalem Sozialismus und einer globalen Herrschaft der Monopole auf Grundlage von Schulden und virtuellen Währungen.
Oder besinnt sich der Mensch tatsächlich auf ein neues Maß und ein alternatives Wirtschaftsmodell in Harmonie mit den Ökosystemen sowie auf Grundlage realer Werte?
#43 Wissensrepublik
Der politischen Führung des Landes scheint ihre harte und direkte Machtausübung gegenüber dem Souverän, dem demokratischen Volk, eher unangenehm zu sein. Sie beruft sich in ihrem Wirken gegen das allgegenwärtige Virus nicht nur auf die Alternativlosigkeit ihres Handelns, sondern zusätzlich auf die Vorgaben der Wissenschaft, der sie leider folgen müsse.
Im dritten Band von Peter Sloterdijks „Sphären“ (Schäume), in einem Kapitel über die Wissensrepublik, beschreibt der Philosoph im Jahr 2004 den „gelegentlichen“ Einfluss des Wissenschaftlers noch wie folgt:
„In seiner Eigenschaft als Abgeordneter externer Wahrheiten und transzendenter Ideen erlangt der Wissenschaftler im Kollektiv Autorität, gelegentlich sogar Macht, sofern es ihm gelingt, die Mächtigen auf seine Seite zu bringen.“
Heute ist die Macht der Experten auf Entscheidungen der Regierungen nicht mehr zu übersehen. Denn, so ahnen wir, der normale Politiker ist ähnlich wie wir nicht in der Lage, komplexe wissenschaftliche Sachverhalte eindeutig einzuordnen. Die Folgen dieses Faktums sind eher paradox, sollten wir künftig nicht nur Parteien, sondern auch die Wissenschaftler und Experten dahinter wählen?
Sloterdijk zitiert hier, eher widerwillig, eine pessimistische These Skinners: „Das Volk ist nicht in der Lage, Experten zu beurteilen.“ Hier gibt es einigen Nachholbedarf, denn so schreibt er weiter: „Nicht wenige Zeitgenossen haben verstanden, daß sie selbst mit der Wahl des Experten das Ergebnis der Expertise wählen“.
Sollten wir daher in Zeiten dieser und kommender Pandemien künftige Regierungen wählen, müssten wir zumindest unser Wissen über die Experten des RKI vertiefen oder aber alternativ nach den Wissenschaftlern unseres Vertrauens Ausschau halten. Wir müssen schlicht mehr wissen über die „Influencer“ hinter der Macht. Nicht nur im Gesundheitsbereich ist die Macht der Wissenschaftler, Lobbyisten, Berater und Experten endgültig ein entscheidendes Politikum geworden.
#42 Verfassung
Hätte mir heute ein paar klärende Worte zum Umgang mit dem Kernbestand unserer Grundrechte gewünscht. Man denke nur an die Versammlungsfreiheit. Ebenso wäre es angebracht, dass Ministerpräsidenten bedauern, dass einige landesrechtliche Verordnungen (in der Eile) zumindest teilweise unverhältnismäßig und damit grundrechtswidrig ausgefallen sind.
#41 Masken
Auch wenn ich die Notwendigkeit der Maskenpflicht grundsätzlich einzusehen beginne, bleibt doch ein Widerstand in mir. Die Aussicht auf schnelle Bewegungsfreiheit lässt hier kritische Stimmen verstummen. Millionen Bürger, die öffentlich Masken tragen, ergeben ein Bild, das doch eher an Uniformität, als an Individualität erinnert. Der Mensch wird zum Objekt staatlicher Fürsorge, die direkt in seine Souveränität über seinen eigenen Körper eingreift. Im Gegensatz zur Karnevalsmaske, die eine subjektive Freiheit vorgaukelt, ist die Maskengesellschaft eher ein objektiver Ausdruck sozialer Tristesse.
Ulrike Baureithel beschreibt auf Freitag.de passend die neuen Trends im Gesundheitswesen. Minister Spahn verfolgt im Moment sein Projekt der digitalen Krankenakte – eine „Wirtschaftsförderung durch Big Data“, das neue Gold in der Datenwelt. Das erhabene Objekt dieser Ideologie, die Gesundheit, tritt jetzt mit erweitertem Anspruch auf – neben das Leitmotiv der vergangen Jahre, die Sicherheit.
Man wird abwarten müssen, wie sich diese Neue Welt der allgemeinen Staatsfürsorge weiterentwickelt. Wir sollten angesichts der Zweideutigkeit des Geschehens nachdenken, ob diese Trends in der Tat „gesund“ sind. Der Konflikt zwischen Menschenwürde und Hightech-Gesundheitssystemen tritt immer offener zu Tage.
#40 Botschaften
Jede Zeit empfängt ihre Botschaften in spezifischer, sprachlicher Codierung.
In einer säkularen Welt ist es nicht mehr ein Gott, der uns Botschaften sendet, wohl aber die Natur. Die reale Störung, die das Virus vermittelt, stammt aus diesem Bezirk. Viele Menschen suchen nach einer neuen, diesseitigen Ganzheitlichkeit, ohne gleichzeitig transzendierende Fragen ins Spiel zu bringen. Vielmehr soll der Mensch selbst, seine Wissenschaft und seine Technik die Welt retten.
Die Gleichung, dass der Mensch ein gewisses Maß überschritten hat und die Natur zurückschlägt, findet heute einige gesellschaftliche Akzeptanz. Die Bezugnahme auf eine höhere Macht ist dagegen eher verpönt. Seit Kant befindet sich diese Instanz jenseits der Dinge und kann nicht weiter das menschliche Denken bestimmen.
In seiner Faust-Dichtung behandelt Goethe viele Grundfragen, die das Verhältnis Gott, Natur und Mensch betreffen. Die Tiefen der Natur zu erforschen, ist Teil der geistigen und imaginären Visionen des Dramas. Sein politisch-technisches Projekt – mit all seinen Kollateralschäden – beruht auf der Nichtakzeptanz natürlicher Grenzen. Die Rettung des vom Willen zur Macht getriebenen Faust durch die göttliche Liebe ist dann die eigentliche Überraschung des 2. Teils.
Goethes Weltbild schließt das Göttliche nicht aus, auch wenn er dieser Wirklichkeit keinen konkreten Namen geben will. Michael Jaeger („Global Player Faust“) schreibt über diese Seite Goethes:
„Religiös in einem ganz allgemeinen Sinne war Goethe sehr wohl, nämlich im ursprünglichen, wörtlichen Verständnis der religio als spiritueller Ehrfurcht vor jenem dem menschlichen Willen – zur Macht – Unzugänglichen und Unverfügbaren, dem Goethe den dezidiert unorthodoxen Namen des Ewig-Weiblichen geben konnte…“
#39 Online-Religiosität
„Aus Kirchgängern werden Follower.“ (SPIEGEL Online)
Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen: Aus der Notwendigkeit heraus verlegt sich das religiöse Leben jetzt in diverse Onlineangebote. Wir begegnen uns nicht mehr real, sondern virtuell. Hier gilt das Grundgesetz aller technischen Innovation: Vor- und Nachteile entstehen gleichzeitig.
Das digitale Zeitalter schafft Unmengen an Informationen, Bilder und Eindrücke, die uns täglich herausfordern. Welche Eindrücke uns dabei wahrhaft berühren, treffen oder verändern, steht hier in einem Verhältnis von Blatt zum Wald.
Vor einigen Jahren wurde in Weimar Goethes Gartenhaus in erstaunlicher Perfektion kopiert und einige Meter vom Original neu aufgebaut. Die Frage war, ob die Erfahrung der Kopie mit der Wirklichkeit des Originalgebäudes vergleichbar sei. Ist der Imam, der uns im Video zuwinkt, irgendwie mit diesem Phänomen vergleichbar?
Sicher ist nur, dass die virtuellen Angebote das geistige Leben nicht nur erweitern, sondern neu strukturieren werden. Wir sind jetzt ortsunabhängig eingebunden. Wir wählen per Mausklick die Bezüge, die uns spirituelle, geistige oder bildende Erweiterung versprechen. Ob das auf Dauer zum Vorteil oder Nachteil, zur Vielfalt oder Beschränkung unseres geistigen Lebens vor Ort beiträgt, ist eine offene Frage.
„Langeweile, du bist ärger als ein kaltes Fieber.“ (Goethe)
In seiner berühmten langen, philosophischen Abhandlung hat Martin Heidegger die unterschwellige Beziehung des Daseins zu den verschiedensten Formen der sich andrängenden Langeweile untersucht. Der Mensch neigt dazu, der Erfahrung der Not und der Einsamkeit auszuweichen, indem er diverse Mechanismen des Zeitvertreibs einsetzt. Der Verzicht auf jegliche Unterhaltung ermöglicht dagegen die Bestandsaufnahme über das, was wirklich in uns und um uns ist.
Jeder trifft hier seine Wahl. Ich neige dazu, die Ausflüge in die virtuelle Welt zeitlich einzugrenzen. Das schafft eine Art der Einsamkeit, die ich als Vorbereitung für die Zeit danach, als Vorbereitung für eine neue Wertschätzung echter Gemeinschaft sehe.
Wenn Slavoj Zizek Recht hat, dass das Virtuelle gleichzeitig das Reale vorbereitet, dann mischt sich in den latenten Zweifel an der neuen Online-Religiosität immerhin die Hoffnung auf eine veränderte Realität, die später unseren Alltag neu inspiriert.
#38 Wissenschaft
„Die Natur hat sich so viel Freiheit vorbehalten, daß wir mit Wissen und Wissenschaft ihr nicht durchgängig beikommen oder sie in die Enge treiben können.“ (Goethe)
Der Streit der Wissenschafter um das Ausmaß und die Folgen der Pandemie erinnert uns, dass auch sie nicht in der Lage sind, so etwas wie eine objektive Wirklichkeit abzubilden. Es bleibt immer ein Rest an Unsicherheit und Zweifel.
Hier hat die gängige „Verschwörungstheorie“ einen Vorteil, da sie dem Rezipienten diesen Zweifel meist erspart. Es ist absehbar, dass jede, ganz egal welche, politische Entscheidung über neue Maßnahmen immer wieder neue Optionen für diese Ansätze stiften wird. Ebenso klar ist, dass der Staat der Bevölkerung die Entscheidung über den richtigen Weg abnehmen wird. Ob dieser Weg wahr ist, wird letztlich eine Glaubensfage sein.
„Jeder sieht was er sehen möchte“ hat ein Psychoanalytiker die Lage beschrieben. Als Folge dieses Umstandes werden wir wohl auf kafkaeske Verhältnisse zusteuern. Die Einen werden sich wie bei einer Grippewelle in einer Art der Normalität bewegen, während Andere fürchten, dass das tödliche Virus sich in der Luft verteilt.
Für eine wissenschaftliche Untersuchung bietet sich auch an, die langfristigen Wirkungen von Kontakteinschränkungen und sozialer Distanz zu untersuchen. Sorgloser Umgang verlagert sich heute in die virtuelle Welt. Was wird die Folge sein für unsere gesellschaftliche Realität?
„In den Wissenschaften ist viel Gewisses, sobald man sich von den Ausnahmen nicht irremachen läßt und die Probleme zu ehren weiß.“ (Goethe)
#37 Das Imaginäre
Wir können in den Tag hinein leben oder uns die Zukunft vorstellen.
In Deutschland hat eine Debatte begonnen, die erahnen lässt, wie unsere gesellschaftliche Zukunft in Zeiten der Pandemie aussehen könnte. Klar ist: Eine schnelle Rückkehr zur gewohnten Realität scheint ausgeschlossen.
Unsere Tage bestimmen neue Formen der online-Religiosität, virtuelle Räume schaffen so etwas wie Kommunikation. Eine neue Kunstform, das online-Tagebuch, beschreibt, was ist und eines Tages sein könnte. Die Visionen schwanken zwischen Untergangsphantasien und Hoffnungen auf Neuanfang.
Auch die Wissenschaft schläft nicht. Nur ein Impfstoff, haben wir gelernt, dessen massenhafte Verbreitung technologisches Neuland mit ökonomischen Aussichten verbinden wird, verspricht die endgültige Lösung des Problems. Hier sind der Phantasie über das Morgen keine Grenzen gesetzt.
So las man schon in einem Fachmagazin im Dezember 2019: „MIT researchers have now developed a novel way to record a patient’s vaccination history: storing the data in a pattern of dye, invisible to the naked eye, that is delivered under the skin at the same time as the vaccine.“
Das heißt, der biologische Zustand eines Menschen könnte digital aufgezeichnet, implantiert und durch Sensoren und Videokameras überwacht werden. Ein solcher markierter Mensch würde – folgt man dieser Idee – durch Privilegien belohnt werden. So wäre beispielsweise der Zugang zu Großveranstaltungen wieder möglich.
In dieser Art der Weltanschauung wird uns kein Gott, sondern eine neue Technologie retten. Wie immer man sich hier positioniert: Die Frage nach der Technik wird Europa weiter philosophisch beschäftigen.
Heute ist ein weiterer Freitag, an dem wir Muslime auf das gemeinsame Gebet verzichten müssen. Es mangelt dennoch nicht an geistigem Zuspruch. Er wird in unseren Foren täglich verbreitet. Wie steht es aber mit unserer Imagination über die Zukunft unserer Gemeinschaften? Werden wir eines Tages in unsere Moscheen zurückkehren und weiterleben?
Man mus kein Pessimist sein, um sich vorzustellen, dass auch Muslime von den sozialen und ökonomischen Verwerfungen, die sich aus der Bewältigung der Pandemie ergeben, betroffen sein werden. Bereits heute engagieren sich viele einzelne und Organisationen in der Nachbarschaftshilfe und leben Solidarität vor.
Steckt da mehr in uns und in den Quellen, die wir abrufen können? Wir sollten neu nachdenken, welche unserer Institutionen und Einrichtungen im 21. Jahrhundert neue Bedeutung gewinnen könnten.
#36 Zivilcourage
Seien wir ehrlich: Man möchte nicht in der Haut von Politikern stecken, die bei ihren Entscheidungen zwischen möglichen menschlichen oder ökonomischen Katastrophen abzuwägen haben und insofern eine enorme Verantwortung tragen. Selbstverständlich schleichen sich in schnell durchgeführten Verfahren handwerkliche Fehler ein.
Allerdings schaut man sich in einem Land schon um, wer in ihrer Substanz betroffene Grundrechte verteidigt und – wenn nötig – Zivilcourage zeigt. Die beiden großen Worte von gestern. Mein kleiner Held ist hier zum Beispiel ein lokaler Anwalt, der eine grundrechtswidrige Verordnung einer Landesregierung entsprechend prüfen lässt und Recht bekommt.
P.S.: Apropos Wissenschaft – der gesamten hochrangigen Rechtswissenschaft des Landes ist der Grundrechtsverstoß nicht aufgefallen.
#35 Cashkurs
Heute habe ich eine kurze Ergänzung zu meinem Eintrag „Reine Innerlichkeit, Spiritualität“ anzubieten.
Grundsätzlich habe ich versucht, zu sagen, dass der Ort, von dem wir sprechen, idealerweise eine Einheit von inneren und äußeren Aspekten umfassen sollte. Es geht weder um reine Innerlichkeit, noch um Äußerlichkeiten. Vielmehr dreht sich die Suche um eine mögliche Position, die Handeln und Wissen umfassen kann.
Inmitten der Pandemie sucht man nach Figuren, von denen man diesbezüglich lernen kann. Das bedeutet nicht, dass man diese Persönlichkeiten völlig unkritisch als Vorbild nimmt. Sondern eher, dass man einfach versucht, zu lernen. In diesem Kontext gefällt mir Dirk Müller (oder Dr. Dax).
Warum? Hier gibt es verschiedene Aspekte, die mir auffallen. Da ist zunächst eine spürbare, einfache Spiritualität und ein klarer ethischer Kompass. Da sind aber auch soziale und ökonomische Überzeugungen und persönliche Interessen – aber immer verbunden mit praktischen Handlungsanweisungen für Andere.
Diesem Rat mag man dann folgen oder eben nicht. Aber Müller spricht auf seine Weise von diesem Ort der inneren und äußeren Einheit. Ein Zeichen für diese Verortung – ob alleine oder mit Anderen – ist die eigene Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit.
Intellektuell ist er kritisch, manchmal gewagt, aber nie in dem Sinne, dass er eine „Verschwörung“ oder ein Feindbild nötig hat, um sein inneres und äußeres Gleichgewicht zu manifestieren.
Interessant ist übrigens ein einfacher Rat, den ich von ihm vernommen habe: „Schreiben Sie ihre Absichten in ein Buch, ohne Hemmungen – aber seien Sie vorsichtig, diese Anrufungen könnten sich manifestieren.“
#34 Menschenwürde
In meinem Bundesland musste die Landesregierung über Nacht erlassene Verordnungen und Ausgangsbeschränkungen korrigieren. Diese waren in Teilen schlicht und einfach grundrechtswidrig. Warum geht es?
Wie immer muss man sich hier zunächst vor einer simplen Dialektik hüten. Es gibt nicht zwei Lager: die einen, die alle staatliche Maßnahmen notwendig halten und die anderen, die alle Maßnahmen ablehnen. Vielmehr gibt es auch eine mittlere Position: ja, die Grundrechtseingriffe sind notwendig, aber sie müssen auch verhältnismäßig, erforderlich und geeignet sein.
Eine kleine Anwaltskanzlei hatte beim örtlichen OVG diesbezüglich einen Eilantrag gestellt. In einigen Städten wären ganze Viertel in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt worden, statt den, in kleinen Wohnungen lebenden Menschen ausreichend „Auslauf“ zu ermöglichen. Erstaunlich, dass die abgetauchte Opposition im Land sich vollkommen passiv verhielt.
Selbstverständlich bleibt es aus meiner Sicht Bürgerpflicht, die Regelungen grundsätzlich mitzutragen. Genauso notwendig ist es aber, den Widerstand gegen Problemlösungen, die den Wesensgehalt von Grundrechten gefährden oder die Menschenwürde an sich in Frage stellen, nicht einfach aufzugeben.
Fraglos ist die Bundesrepublik selbst in diesen Zeiten nicht mit einer Diktatur zu vergleichen. Aber die Sorge ist berechtigt, dass unter dem Druck, das „biologische Überleben“ der Menschen effektiv zu organisieren, keine schleichende Veränderung des Menschenbildes einsetzt.
Am Horizont erscheint beispielsweise das Szenario, Menschen „virtuell“ als Kranke oder Gesunde zu registrieren. Man wird aufpassen müssen, dass diese Markierungen nicht auch real unseren künftigen Alltag bestimmen.
Wir wollen alle überleben – aber in Würde.
#33 Menschenwürde
In meinem Bundesland musste die Landesregierung über Nacht erlassene Verordnungen und Ausgangsbeschränkungen korrigieren. Sie waren in Teilen schlicht grundrechtswidrig. Warum geht es?
Wie immer muss man sich hier zunächst vor einer simplen Dialektik hüten. Es gibt nicht zwei Lager: die Einen, die alle staatliche Maßnahmen notwendig halten und die anderen, die alle Maßnahmen ablehnen. Vielmehr gibt es zusätzlich eine mittlere Position: Ja, die Grundrechtseingriffe sind notwendig, aber sie müssen selbstverständlich verhältnismäßig, erforderlich und geeignet sein.
Eine kleine Anwaltskanzlei hatte beim örtlichen OLG diesbezüglich einen Eilantrag gestellt. In spezifischen Städten wären ganze Viertel in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt worden, statt den in kleinen Wohnungen lebenden Menschen ausreichend „Auslauf“ zu gestatten. Erstaunlich, dass die abgetauchte Opposition im Land sich vollkommen passiv verhielt.
Natürlich bleibt es aus meiner Sicht Bürgerpflicht, die Regelungen grundsätzlich mitzutragen. Genauso notwendig ist aber, den Widerstand gegen Problemlösungen, die den Wesensgehalt von Grundrechten gefährden oder die Menschenwürde an sich in Frage stellen, nicht simpel aufzugeben.
Selbstverständlich ist die Bundesrepublik in diesen Zeiten nicht mit einer Diktatur zu vergleichen. Aber die Sorge ist berechtigt, dass unter dem Druck, das „biologische Überleben“ der Menschen effektiv zu organisieren, keine schleichende Veränderung des Menschenbildes einsetzt.
Am Horizont erscheint beispielsweise das Szenario Menschen „virtuell“ als Kranke oder Gesunde zu registrieren. Man wird aufpassen müssen, dass diese Markierungen nicht zusätzlich real unseren künftigen Alltag bestimmen.
Wir wollen alle überleben, aber mit Würde.
#32 Lockerungen
Im Haushalt stellen sich erste Lockerungen ein. Gestern Abend teilt meine Tochter mit, dass sie auf eine Party eingeladen ist. Da bin ich tatsächlich souveräner geworden. Ich frage nicht, wer alles kommt käme oder wie lange das Ganze ginge. Nein. „Natürlich!“, sage ich einfach. Auch heute Morgen verkneife ich mir die übliche Fragerei. Man muss den jungen Leuten schlicht ihren Freiraum lassen! Und ihre Internetverbindung…
#31 Symbolpolitik
Das Tragen selbstgebastelter Schutzmasken ist umstritten. Letztendlich ist das eine Frage für Mediziner. Aber gleichermaßen bei dieser Maßnahme sind Zweifel aus anderen Gründen durchaus legitim. Darf der Staat auf diese Weise über unsere Körper – die letzte Bastion unserer Freiheit – bestimmen? Hier kann man unterschiedlicher Meinung seine, aber eben auch dies gilt: dass die Würde und Selbstbestimmung des Menschen unantastbar ist. Auch, oder besser, gerade in Krisenzeiten.
#30 starker Staat
Die Pandemie geht notgedrungen mit dem Ruf nach einem starken Staat einher.
Umfragen belegen es. Die tragenden Regierungsparteien erfahren im Moment ein hohes Maß an Unterstützung. Notgedrungen. Vater Staat meldet sich zurück; nicht nur mit den härtesten Notstandsmaßnahmen seit dem 2. Weltkrieg, sondern gleichzeitig zusätzlich mit gigantischen Rettungspaketen. Gebannt wartet die Bevölkerung jetzt auf die nächsten Schritte unserer Regierungen – zunächst selbstverständlich auf die Erlösung aus der Isolation.
Die Logik dahinter beschreibt Dietmar Pieper auf Spiegel-Online:
„Wenn das Gefühl überhandnimmt, dass die alten Gewissheiten verloren gehen, dann vergewissert sich die Gemeinschaft ihrer selbst. Die Bewohner eines Landes suchen nach dem, was sie über alle Unterschiede hinweg verbindet. Und das ist der Staat, in dem sie leben.“
Kurzum: Der Staat schützt uns, versorgt uns und gibt uns Sicherheit. Der französische Sozialphilosoph Pierre Bourdieu deutet in seinem Buch „Über den Staat“ einen weiteren Hintergrund unseres Staatsverständnisses an:
„Achtung, alle Sätze die den Staat als Subjekt haben, sind theologische Sätze – was nicht heißt, dass sie falsch wären, insofern der Staat eine theologische Entität ist, das heißt eine Entität, die durch den Glauben existiert“.
Es gilt ebenso in diesem Kontext, die allgemeinen Regel des Denkens nicht einzustellen. Ja … natürlich … ein Staat wie die Bundesrepublik, der seinen ganzen, gewaltigen Apparat zur Bewältigung einer Krise einsetzen kann, verdient nicht nur Kritik, sondern ebenso Lob. Aber der Glaube an den Staat als allmächtigen Versorger und Regulierer wird in den nächsten Monaten auf dem Prüfstand stehen. Schon jetzt steht die Politik unter enormen Druck: nicht nur keine tödliche Fehler im Umgang mit der Pandemie zu begehen, sondern zusätzlich die Erwartungen der „Gläubigen“ in der zu erwartenden Weltwirtschaftskrise zu erfüllen.
Viele BürgerInnen stellen sich bereits jetzt die Frage: Wird die Stärkung des Staates mit einer Schwächung der Zivilgesellschaft einhergehen? Wie wird sich der Ausbau staatlicher Befugnisse in Zeiten aktueller und künftiger Krisen mit unseren Bürgerrechten vertragen? Wird ein neues System der allgemeinen Fürsorge unsere Abhängigkeit vom Staat vertiefen?
Aus zivilgesellschaftlicher Sicht sind wir auf die Krise eigentlich nicht vorbereitet. Soziale Netzwerke oder private Stiftungen spielen im Vergleich zur staatlichen Macht nur eine Nebenrolle. Es droht eine Verödung unserer Innenstädte und die Schwächung der Regionalwirtschaft. Es wird in ökonomischer Sicht weiterhin spannend sein, wie der Staat mit den Krisengewinnern umgehen wird: jenen Monopolen, die sich aus der gestärkten Online-Wirtschaft und der zentralisierten Versorgungsstrukturen ergeben.
Der Glaube an den allmächtigen Staat…. wir werden in den nächsten Monaten sehen, wie sich dieses Postulat mit dem Anspruch auf Freiheit verträgt.
#29 Strafe
„Die Pandemie ist die Strafe Gottes!“, ist eine einfache, allzu einfache Formulierung, die nicht nur bei Philosophen oder Naturwissenschaftlern Widerwillen hervorruft. Wir erinnern uns ebenso an die Abgründe derjenigen Gläubigen, die die sogenannte Strafe Gottes gleich selbst in die Hand nehmen wollten.
Gleichwohl hören wir angesichts des ökologischen Zustands dieser Erde andere Wortspiele, die weniger problematisch erscheinen. Die Natur „straft“ uns, „rächt sich“ an unserer Maßlosigkeit. Das sind Sätze, die heute eher Akzeptanz finden. Die Einsicht Heideggers, dass die moderne Technik zumindest in Teilbereichen ein „Herausfordern der Natur“ darstellt, dürfte nicht nur den Philosophen beschäftigen.
Dass Viren Teil der Evolutionsgeschichte sind, beschäftigt wiederum den Naturwissenschaftler. Faust, der im 2. Teil des Faust-Dramas, zu den „Müttern“ (den Urphänomenen) hinabsteigen soll, befällt großer Schrecken, angesichts der Vorstellung, den unbekannten, unsichtbaren Gründen und Tiefen unserer Schöpfung zu begegnen.
Es gibt einen berühmten Dialog des griechischen Philosophen Sokrates. Er wird gefragt, ob der Ungerechte nicht große Vorteile gegenüber dem Gerechten hat. Sokrates antwortet sinngemäß: Nein, denn die Strafe für den Ungerechten besteht in seinem Handeln und Tun selbst. Der strafende Gott, der von Außen in das Geschehen eingreift, war demnach aus Sicht des griechischen Philosophen gar nicht notwendig.
Das Thema bewegt sich aus muslimischer Sicht im Feld unserer Theologen und Gelehrten. Aber auch der einfache Gläubige wie ich ist sich bewusst, dass der Qur’an aus guten Nachrichten und ernsten Warnungen besteht. Wir sind inmitten der Schöpfung. Im Gegensatz zu einer Zwei-Weltenlehre erfahren wir die Macht des Schöpfers im Jenseits und Diesseits, in der Einheit. Ehrfurcht vor der Macht des Schöpfers ist ein wichtiger Ausdruck unserer Lebenspraxis.
Es liegt jetzt nahe, dass wir den Fakt der mangelnden Anerkennung und Überschreitung spezifischer Grenzen nicht mehr in Beziehung zu den Maßgaben der Offenbarung bringen. Und: Selbstverständlich auch auf Barmherzigkeit zu hoffen. Sicher ist: Die Absicht, die Bedeutung von Ereignissen, aus philosophischer und theologischer Sicht heraus zu hinterfragen, ist ein Gebot der Stunde. Denken und praktizieren schließen sich Gott sei Dank in unserer Lebenspraxis niemals aus.
#28 Positionen
Die ewige Wiederkehr des gleichen philosophischen Problems: Gibt es so etwas wie eine gemeinsame, objektive Wirklichkeit? In den Diskussionen über den Sinn und die Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen in Zeiten der Pandemie zeigen sich hier die üblichen Schwierigkeiten. Auf welchen objektiven Erkenntnissen basieren denn unsere Entscheidungen?
Das Problem zeigt sich im Austausch mit Anderen. Die meisten Menschen neigen dazu, recht schnell eine Position anzunehmen; das heißt, zu glauben, das Virus sei entweder gefährlich oder ungefährlich. Darauf folgend kommt der Schluss, dass die Maßnahmen übertrieben oder notwendig seien. Danach arbeitet das Unterbewusstsein: Eingehende Informationen, die die einmal entschiedene Position in Frage stellen, werden eher verdrängt.
Das Subjekt, das spricht, übernimmt meist – so doch oft unbemerkt – einen Diskurs des Anderen. Wir neigen demnach dazu, wie Experten (der Wissenschaftler, der Ökonom, der Ethiker) zu sprechen, indem wir den Diskurs, den wir gelernt haben, übernehmen. Die Situation der Pandemie verstärkt diesen Effekt, weil wir ihn meist nicht in praktischer Erfahrung, sondern nur in der Theorie nachvollziehen können.
Es bilden sich Echokammern. In den sozialen Medien sind wir meist von Menschen umgeben, die unsere Grundpositionen teilen. Der Erkenntnisgewinn ist beschränkt, da wir so nur unsere eigene Selbstvergewisserung erleben. Die imaginäre Mitte, wo sich unterschiedliche Positionen, aus verschiedenen Orten, ernsthaft austauschen oder im besten Fall annähern, bleibt meist unbesetzt.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, ist keine banale Erkenntnis; insbesondere dann, wenn wir uns den Grundlagen unserer Erkenntnisverfahren bewusst werden. Echte Kompetenz zeigt sich im Besonderen in der Erfahrung eines Restzweifels und einem Rest an Unsicherheit.
Ideologie dagegen muss immer Recht haben. Sie bildet ein dunkles System, in das kein Licht von außen mehr einfällt. Der Bewusstseinsstrom, der sich in uns abbildet, durch uns fließt und uns fortlaufend zu Veränderungen und Korrekturen unserer Überzeugungen zwingt, reißt ab und wird in einer Sprache symbolisiert, die eine objektive Feststellung des Geschehens beansprucht.
#27 Ideologie
Gibt es positive, gar notwendige Formen der Ideologie?
Laut Slavoj Žižek berufen sich politische Überzeugungen gerne auf „erhabene Objekte der Ideologie“, um die eigene Position als die absolut Überlegene zu etablieren. Das Erhabene definierte schon Kant als das, „was schlechthin groß ist“, und sich so durchaus als Gottesersatz eignet.
In den letzten Jahren führten die Debatten der Bundesrepublik um bestimmte Objekte wie „Natur“ oder „Volk“ zu heftigen Kontroversen. Je nach ideologischer Verortung schien eine Ökodiktatur oder die Rückkehr des nationalistischen Staates zumindest möglich.
Heute diskutieren wir eine dritte Möglichkeit: die Etablierung eines „biologischen Überwachungsstaates“, der künftig das überragende Schutzgut „Gesundheit“ gewährleisten soll. Die Gesellschaftsstruktur ist angesichts der Pandemie im Schockzustand. „Das Virus bricht nun plötzlich mitten in die wegen des globalen Kapitalismus immunologisch stark geschwächte Gesellschaft ein“ und wird als „permanenter Terror empfunden“, beschreibt Byung Chun Han das Ereignis.
Die absolute Mehrheit der Bevölkerung unterstützt – unter dem Eindruck der Bilder des Totes – im Moment noch die Maßnahmen im Ausnahmezustand. Das ist ein wichtiges Merkmal, das nicht zur Idee eines simplen Staatsstreiches passt. Allerdings mehren sich die Stimmen, die die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns anzweifeln und die Entscheidungen auf Grundlage von umstrittenen Statistiken kritisch begleiten.
Am Horizont spitzt sich eine Frage zu: Können gewohnte Bürgerrechte dem Druck, der sich aus den zahlreichen Bildern möglicher Katastrophen ergibt, am Ende Stand halten?
#26 Europa
Es ist interessant zu beobachten, wie erste Politiker in dieser Krisenwelt der zahlreichen Notwendigkeiten und technischen Möglichkeiten ihren Habitus verändern…
„Denn wenn der Staat eingestandermaßen eine Gemeinschaft ist, und zwar eine Gemeinschaft von Staatsbürgern, so kann, so scheint’s , wenn die Verfassung der Art nach eine andere wird und die Verfassung verschieden ist, auch der Staat nicht mehr derselbe bleiben, wie wir ja auch einen Chor, der bald als komischer und bald als tragischer auftritt, einen anderen nennen, wenn auch die Personen of dieselben sind.“ (Aristoteles, Politik, 3. Kapitel)
#25 Hierarchie
Bei den Wissenschaften gibt es Hierarchien.
Millionen Menschen verfolgen im Moment gebannt den akademischen Diskurs. Ein Impfstoff gegen das Virus könnte die Probleme einer ganzen Welt lösen. Die Erlösung, sie wird wohl bereits – so Gott will – in einem Reagenzglas vorbereitet.
Selten waren Wissenschaftler so präsent in den Medien.
Hier gelten im Auswahlverfahren die Gesetze der Hierarchie, die wissenschaftliche Expertise, der Titel sowie der Rang. Experten sind in den meisten Fällen aber nicht vollkommen frei, sie stehen in Beamtenverhältnissen, sind Angestellte, Teil von Lobbygruppen oder sogar in direktem Verhältnis mit Pharma-Konzernen. Das spricht nicht per se gegen sie, man sollte nur nicht völlig vergessen, dass es eine freie Wissenschaft so nicht gibt.
In der entscheidenden Frage, der Beurteilung von Auswirkungen der Pandemie, sind im Grunde nur noch zwei Stimmen im Angebot: die Rede des wahren, bewunderten Wissenschaftlers im Scheinwerferlicht gegen die Einflüsterungen des falschen, verachtungswürdigen Verschwörungstheoretikers im Darknet. Möglicherweise ist die Lage in Wirklichkeit so eindeutig, dass sich diese Dialektik rechtfertigt. Wenn auch die banale Lebenserfahrung dann außer Kraft gesetzt wäre, dass die Wahrheit manchmal in der Mitte zu suchen ist.
Fakt ist: Kritische, fundierte Stimmen gegen die Regierungspolitik sind aus dem Bereich der Wissenschaft kaum noch zu vernehmen. So vermisst man eine überzeugende Argumentation, die erschütternden Opferzahlen wissenschaftlich einwandfrei und ohne Zweifel ausschließlich mit dem Coronavirus in Relation zu setzen. Endgültige Klarheit wird es nach den Gesetzen der Logik erst nach Pandemie geben können. Man muss aber kein Verschwörungstheoretiker sein, um sich zu erinnern, dass Statistik auch lügen kann.
Wer heute in Universitäten studiert, im Grunde unabhängig vom Fach, wird beobachten können, dass in vielen Fachgebieten kaum alternative Theorien gelehrt werden. Dieses Phänomen der „herrschenden Lehre“ gilt insbesondere in den wichtigen Wirtschaftswissenschaften. In der Diskurstheorie diskutiert man schon länger über dieses Phänomen.
Es ließe sich so auf den Punkt bringen: Der kapitalistische Diskurs dominiert die Wissenschaften.
#24 Weltwirtschaftskrise
Existentielle Krisen sind anstrengend.
Ich verstehe jeden, der seine Aufmerksamkeit im Moment runterfährt und sich mit der veränderten Situation eben so gut wie möglich arrangiert. Wer dagegen Kapazitäten frei hat, sollte den radikalen Veränderungen im ökonomischen Sektor ins Auge sehen.
Je länger ganze Volkswirtschaften still stehen, desto wahrscheinlicher werden ungeheure soziale Verwerfungen. Es droht eine weitere Verschiebung realer Werte hin zu Konzernen und kapitalkräftigen Investmentfonds, die über kurze Zeit Zugang zu gigantischen Geldmengen haben, während tausende kleinere Betriebe und Unternehmer weltweit die Segel streichen müssen. Nach einer Deflation droht im weiteren Verlauf eine Inflation, wenn auch das letztere, durchaus bedrohliche Wort etwas aus der Mode gekommen ist.
Nebenbei gibt die Situation indirekt eine Vorlage: Viele Menschen werden das Virus als Schuldigen ausmachen, während Politiker und Investoren ihre Hände in Unschuld waschen können. Es war ja die Viruskrise, die für alles verantwortlich ist und nicht ein Finanz- und Wirtschaftssystem, dessen Untergang – in seiner derzeitigen Form – viele Fachleute seit Jahren prognostizieren.
Muslime wird diese Situation ebenso vor ungeahnte Herausforderungen stellen. Wir sitzen im gleichen Boot, die Pandemie verschont uns genauso wenig, wie die sich abzeichnende Weltwirtschaftskrise. Wer in dieser Zeit das Phänomen und die potentielle Rolle des Islam wirklich verstehen will, muss sich seiner sozialen und ökonomischen Dimension zuwenden. Es gibt hier ein enormes Bildungsdefizit.
#23 Faust & Italien
Ach, Italien… Im Januar war ich noch beruflich in Rom und besuchte unter anderem das Goethe-Haus in der Innenstadt. Selbstverständlich hatte ich keine Ahnung, dass Italien kurze Zeit später Schauplatz der größten Krise der Nachkriegsgeschichte sein würde. Bilder aus den Krankenhäusern Norditaliens stehen heute für die Abgründe, die sich aus der Pandemie entwickeln, während Delfine, die sich in der Lagunenstadt Venedig tummeln, ebenso zur Besinnung anregen.
Die berühmte Italienreise Goethes (1786-1788) steht am Beginn der Faszination, die dieses Land bis heute auf Reisende ausstrahlt. Die Erfahrungen, die der Dichter in seinen Reiseschilderungen mit uns teilt, sind wichtig für das Verständnis des „Faust“. Das legendäre Werk nimmt wiederum Aspekte aller Krisen dieses Jahrhunderts vorweg.
Nach einem – heute würde man sagen – Burnout, der sich aus den zahlreichen Verpflichtungen am Weimarer Hof und einer Schaffenskrise ergab, flüchtete der Dichter 1786 über Nacht aus der Stadt. „Schweigen vor Glück“, mochte Goethe als Italienwanderer in dem Augenblick, da endlich die kaum zu bändigende Begierde, nach Rom zu kommen, gestillt ist. Er ist begeistert, „Schauen, Staunen, Schweigen“ – „wie wahr, wie seiend“ ruft er im Land seiner Träume aus. Goethe bewegt sich in der Tradition der antiken Philosophie, in der Übung, das Bewusstsein auf den Augenblick und auf das gegenwärtig hier Seiende zu richten.
Goethe verlässt das Land 1788 aus recht profanen Gründen, die Pflicht ruft und die Lohnzahlungen seines Fürsten sind auf Dauer nicht mehr zu erwarten.
Im Nachgang zitiert Eckermann im Oktober 1828 Goethe wie folgt: „Ja, ich kann sagen, daß ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei, – Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen, ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wider froh geworden. Doch wollen wir uns nicht melancholischen Betrachtungen hingeben.“
Hier manifestiert sich letztlich Goethes Kritik am Begriff der Moderne, deren Zeit- und Geschichtsmodus und deren Kennzeichen er in der Aufhebung der Gegenwart versteht. Im „Faust“ spiegeln sich diese Umstände in dem berühmten Pakt, den der „ewig Ungeduldige“ Faust mit Mephistopheles eingeht. Faust behauptet, dass keine teuflische oder magische Verführungskraft ihn in eine Lage bringen könnte, in der er „Augenblick verweile“ ausrufen würde.
In diesem Pakt diktiert Faust das moderne Gesetz der permanenten Revolution, die desgleichen keinen Augenblick zur Ruhe, nie ans Ziel gelangen darf, die immer auf der „Flucht nach vorn“ ist. (Michael Jaeger, Global Player Faust).
Faust wird zum Archetypus der Moderne. Im zweiten Teil des Dramas, schaffen Faerust und Mephistopheles das Papiergeld, ein magisches Symbol der Macht, der endlosen Expansion und etablieren rücksichtslos und gegen alle Gesetze der Natur ihr Projekt der Kolonialisierung.
#22 Restzweifel
Wenn man in grelles Scheinwerferlicht blickt, wird man leicht blind.
Wie ihr wisst, teile ich die Auffassung, dass sogar harte Maßnahmen zur Verhinderung des Zusammenbruchs des deutschen Gesundheitssystems gerechtfertigt sind. Allerdings – finde ich – sollte man einen Restzweifel nicht unterdrücken. Die Erfahrung lehrt: Insbesondere wenn die gesamte Medienlandschaft ein Phänomen bis in die letzte Ecke ausleuchtet, ist ein objektives Erkenntnisverfahren erschwert.
Beispiele dafür sind:
– Man sollte weiter darüber nachdenken, ob es für die offensichtliche Überlastung der Gesundheitssysteme in Italien, Spanien und Frankreich andere Gründe haben könnte. So sterben zum Beispiel in Krankenhäusern, die Probleme mit Krankenhauskeimen haben, mehr Menschen.
– Statistik hat immer ihre fragwürdige Seiten. Die Erhebung und Bewertung von „Big Data“ lässt stets Interpretationsspielraum offen.
– Verständlicherweise steht die Politik unter enormen Druck, „tödliche“ Fehler zu begehen. Dies bedroht naturgemäß den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
– Das föderale System der Bundesrepublik hat sich bewährt. Der Ruf – unter dem Eindruck der Pandemie – nach einem starken Zentralstaat ist zumindest diskutabel.
– Das deutsche InfektionsschutzG ist aus juristischer Sicht eine schwache Grundlage für massive Grundrechtseinschränkungen (die eine ganze Bevölkerung betreffen). Hier wird es sicher im weiteren Verlauf der Krise eine Debatte geben müssen.
Wir müssen gerade jetzt zwischen dummen Verschwörungstheorien und ernsten, substantiellen Zweifeln an staatlichem Handeln unterscheiden.
#21 Sprache
Zeiten existentieller Erfahrung spiegeln sich in unserer Sprache und im Sprachgebrauch wider.
Die Ausbreitung des Corona-Virus – wie immer wir ihn deuten oder definieren wollen – ist ein geschichtliches Ereignis, dem man sich nicht so leicht entziehen kann. Seine reale Wirkung zeigt sich in der symbolischen und imaginären Ordnung, in der wir uns bisher eingerichtet haben. Sie ist erschüttert, verändert und löst sich in Teilbereichen auf; unabhängig, ob wir die Lage als temporäre Störung, endgültige Katastrophe oder potentielle Chance bewerten wollen.
Diskurse verschieben sich. Der wissenschaftliche Diskurs dominiert den politischen. Ideologische Positionen verlieren ihre Bedeutung, die allgemeine Sorge um die Gesundheit verdrängt sie. Signifikante Worte – zum Beispiel „Bürgerrechte“ – lösen sich zeitweise auf, während der Begriff des „Ausnahmezustandes“ plötzlich unsere Realität bestimmt. Radikale Entscheidungen werden ohne lange Diskussionen gefällt.
Wir realisieren deutlicher, von welchem Ort wir sprechen: aus der Sicherheit oder aus der Not – von Erfahrung geprägt oder von Spekulation getrieben.
Sätze fallen anders.
Wir zitierten gestern kluge Worte der Philosophen, Weisheiten, wie zum Beispiel: „Der Verzicht nimmt nicht, er gibt.“ Heute erfahren wir selbst ihre reale Bedeutungen und den eigentlichen Gehalt der Aussagen in Form einer praktischen Übung. Wir bemerken, als Sender derartige Botschaften, dass sie an dritten Orten ganz anders treffen können: im Flüchtlingslager oder in Afrika. Was hier Weisheit artikuliert, kann dort wie Zynismus wirken.
Unsere Zustände fließen, wir Muslime kennen dieses Phänomen aus dem Ramadan. Wir schwanken zwischen Gerede und Schweigen. Wir sehen dem Realen ins Auge und verdrängen es wieder. Wir erfahren Einsamkeit, Stille und Isolation als existentielle Vertiefung, Erweiterung, Geschenk oder Langeweile. Wir entscheiden.
Das Virtuelle wird zum Fluchtort. Die verlorene Gemeinschaft wird in der Imagination gesucht. Dies kann – im Sinne Zizeks – durchaus als Vorbereitung für eine künftige Wirklichkeit begriffen werden. Oder es ist Ausdruck der Verdrängung; der hilflose Versuch, uns schnell in eine Pseudonormalität zu phantasieren.
Allein das Gebet steht wie ein Fels in der Brandung – unberührt, standhaft – in den Wogen dieser Zeit.
#20 Shutdown
Zu den schönsten Reiseerinnerungen meines Lebens gehört ein Besuch in einer Moschee in Soweto. Ich erinnere mich gut an diese Nacht, die wir mit gemeinsamen Gebeten verbracht haben. Diese Muslime sind arm. Ihre Gastfreundschaft betraf das nicht, das gemeinsame Abendessen bleibt mir unvergesslich.
Möge Allah sie alle schützen.
Heute lese ich den folgenden Beitrag eines Muslims aus Afrika: „For the first time since this outbreak began, my spirit is down. What will the poor of this country eat for 21 days if they cannot leave their homes? This shutdown cannot work, no matter how well-meaning the president is.“
Diese Worte fallen, auch in meine eigenen Einschätzungen der Lage.
Das Reale kann sprachlos machen.
#19 Dilemma
„Auf der einen Seite wollen wir die Zahlen runterdrücken, damit die Intensivstationen nicht überlastet sind. Doch wenn wir zu gut sind, werden wir das Problem haben, dass es sehr lange dauert, bis wir eine sogenannte Herdenimmunität erreichen.“ Hendrick Streeck, Uni Bonn
#18 Relevanz
Hände waschen, soziale Kontakte einschränken usw., sich nicht von Ängsten oder Panik bestimmen lassen, beten, Gottvertrauen – all dies sind die geboten Vorsichtsmaßnahmen und Einstellungen in Zeiten einer Pandemie.
Am Horizont erscheint gleichzeitig ein anderes Szenario: Geldentwertung, Massenarbeitslosigkeit und soziale Verwerfungen. Genauso darauf muss man sich vorbereiten. Die Relevanz von Wissen, gleicherweise über den Islam, verschiebt sich daher langsam.
Sind wir vorbereitet? Quellen haben wir, auch wenn praktische Modelle derzeit eher die Ausnahme sind. In den meisten Rechtsbüchern des Islam sind lange Kapitel über das Wirtschaftsrecht, soziale Institutionen oder Vertragsformen zu finden…
#17 Folgen
Und siehe da … es regnete Geld vom Himmel. Die Menschen staunten über die wundersame Geldvermehrung.
#16 Hamstern
„Ach, was könnte nicht alles geschehen!“ (Franz Kafka)
„Hamstern“ ist ein Begriff, den ich aus Erzählungen meiner Mutter kenne. Die verarmte Stadtbevölkerung machte sich in Kriegszeiten auf den Weg aufs Land, um ein paar Kartoffeln oder Eier zu ergattern. Wieder ein Wort, das sich heute anders auflädt. Heute beschreibt es den von Ängsten getriebenen Einkauf im Supermarkt und damit einen Moment in unserer Zivilisationsgeschichte.
In Franz Kafkas Abhandlung „Der Bau“ wird kein Hamster beschrieben, sondern der Bewusstseinsstrom eines Tieres, das verzweifelt versucht, sich abzusichern. In seiner Burg betreibt es seine Art der Vorsorge. „Auf diesem Burgplatz sammle ich meine Vorräte, alles, was ich über meine augenblicklichen Bedürfnisse hinaus innerhalb des Baus erjage, und alles, was ich von meinen Jagden außer dem Hause mitbringe, häufe ich hier auf.“ Der Rückzug gelingt – trotz aller Maßnahmen – nicht wirklich. Es bleibt das Gefühl tiefer Verunsicherung. „Das schönste an meinem Bau ist aber seine Stille. Freilich, sie ist trügerisch. Plötzlich einmal kann sie unterbrochen werden und alles ist zu Ende.“
Die Sphäre, die sich in und um den Bau bildet, würde man heute als „kafkaesk“ beschreiben. Trotz aller Bemühungen bleibt das Vorhaben zur Erreichung maximaler, materieller Absicherung letztlich sinnlos.
„Ich lebe im Innersten meines Hauses in Frieden und inzwischen bohrt sich langsam und still der Gegner von irgendwoher an mich heran.“ Das Tier verlässt schließlich seinen Bau und beobachtet seinen Höhleneingang, die Umgebung. Hin und her gerissen, ob der völlige Rückzug und die Meidung seiner Umwelt geboten ist. Was dem Tier Kafkas trotz all seiner Instinkthandlungen fehlt, ist existentielle Gewissheit.
Selbstverständlich ist es Teil der menschlichen Sorge in einer Krise, maßvoll entsprechende Vorräte anzulegen. Wir lesen ja schon die Nachrichten von möglichen Versorgungsengpässen. Nach dem „Corona-Wochenende“ (BILD) werden wir schon wieder neue Besorgungen machen.
Kurzum: Wir Muslime ignorieren nicht einfach nur das Reale der Krise. Aber wir erinnern uns zusätzlich gegenseitig an die Tiefe unserer Offenbarung. Wir lesen sie jetzt täglich neu.
In der Sura At-Tauba heißt es: „Sprich: ‘Uns kann nichts passieren, außer dem, was Allah für uns bestimmt hat. Er ist unser Meister. Auf Allah sollten die Gläubigen vertrauen.’“
Und der Prophet sagte: „Wie wunderbar ist die Angelegenheit des Gläubigen; In allem ist Gutes für sie, und dies gilt nur für Gläubige. Wenn Wohlstand sie begleitet, drücken sie Allah Dankbarkeit aus und das ist gut für sie; und wenn ihnen Widrigkeiten widerfahren, ertragen sie es geduldig und das ist gut für sie.“
#15 Einordnung der Lage
Die aktuelle Lage muss man gedanklich angemessen einordnen, um dann die Natur unserer Entscheidungen zu verstehen.
Stufe 1: die wissenschaftliche-medizinische Einordnung des Coronavirus
a) Das Virus ist für die absolute Mehrheit symptomatisch ungefährlich. Für die Meisten gilt daher: Panik? Selbstverständlich nicht! Der Laie wird hier sagen, dass es sich um eine Art Grippe handelt.
b) Wir reagieren jetzt drastisch, weil die Ausbreitung exponentiell erfolgt. Das simple und logisch nachvollziehbare Ziel lautet: Erkranken zu viele Menschen gleichzeitig ernsthaft, könnte unser Gesundheitssystem zusammenbrechen. Theoretisch ließe sich das einfach in Kauf nehmen, nur die ethischen Folgen dieser Strategie wären katastrophal.
Stufe 2: die notwendige ethisch-politische Einordnung
a) Es gilt bisher der Grundsatz, dass die Mehrheit verpflichtet ist, eine bedrohte Minderheit zu schützen. Es geht (so Gott will) dabei nicht um uns (siehe oben), sondern um den Anderen. Das ist eine ethische Entscheidung.
b) Der Ausnahmezustand greift massiv in unsere Bürgerrechte ein. Dabei lautet eine offene Frage, wie lange eine lebendige Gesellschaft diese Maßnahmen akzeptieren kann, muss oder will. Das ist eine politische Entscheidung.
Stufe 3: die ökonomischen Folgen
a) Die getroffenen Maßnahmen haben wirtschaftliche Folgen. Machen wir uns hier unnötig Sorgen? Nein. Diese Sorgen sind völlig gerechtfertigt. Auch unsere Schulden und die Geldmengen werden ein weiteres Mal exponentiell wachsen.
b) Es droht eine veränderte Gesellschaft, die von der Dynamik von Gewinnern wie Monopolen und Krisenverlierern wie Arbeitslosen zerrissen wird.
#14 Stresstest
Ein Land im Stresstest. Alles ist im Steigen. Schaubilder zeigen stark ansteigende Kurven: die Zahl der Infizierten, die Geldmenge und die Zahl der Experten.
Surprise! Surprise! Verschwörungstheorien gedeihen auf so gut wie jedem idealen Nährboden. Die möglicherweise wichtigste Erzählung geht in etwa so: Das Corona-Virus ist kaum schlimmer als jede Epidemie zuvor, aber böse Kräfte im Finanzsystem schüren jetzt die Panik, um ihren Machenschaften effektiver nachgehen zu können. Wenig überraschend sind derartige „Experten“ eher nicht in Colmar, Bergamo oder Heinsberg zuhause.
Grundsätzlich sind ideologisch motivierte Kritiker am Finanzsystem den Fallstricken ihrer Dialektik ausgesetzt. Hier mag die Hysterie paradox wirken: Was geschieht mit der eigenen Daseinsberechtigung, wenn der Feind plötzlich untergeht? Selbstverständlich ergreift die Regierung Maßnahmen, dann zum Wohle von Wallstreet. Realisiert sie diese nicht, dann ebenso zum Wohle der Wallstreet. Überhaupt ist jedes denkbare geschichtliche Ereignis in dieser Logik immer und in jedem Fall Resultat der Machenschaften geheimnisvoll agierender Eliten.
Die Immunität gegen simple Erklärungsmodelle, bedeutet keinesfalls, dass wir das Denken einstellen. Hier gibt es zunächst mehr Fragen als leichte Antworten:
Wem nützt künftig das Quantitive Easing, die ungezügelte Produktion von Geldmengen in Trillionenhöhe? (Tatiana Koffman kommentiert auf Forbes-Online: „In der Tat wurde die quantitative Lockerung als universelles Grundeinkommen für reiche Menschen bezeichnet, da sie die Bedürftigen, während einer Krise nicht direkt betrifft.“)
Wie gehen wir mit dem Argument Giorgio Agambens um, wonach der Ausnahmezustand radikal in unser Dasein eingreift und unser Rückfall auf das „nackte Leben“ und das reine „biologische Überleben“ den Sinn und die Würde unserer Existenz bedroht?
Wachen wir nach dieser Krise in einer Welt auf, in der unsere Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge, Monopolen sowie gigantischer Verschuldung keine gesellschaftlichen Alternativen mehr zulässt?
Wir erleben heute eine Phase radikaler Vereinzelung und sozialer Isolierung. Das darf nicht umsonst sein. Sondern wir müssen diese neue Realität als eine Vorbereitung für eine andere Welt verstehen.
#13 „Im Namen der Freiheit“
„Im Namen der Freiheit“ – dieser Buchtitel fällt mir auf, als mein Blick über das Bücherregal schweift.
Das Buch ist noch in eine Folie eingepackt. Ich hatte es vor Jahren gekauft und dann wieder vergessen. Heute ruft es nach meiner Aufmerksamkeit, in einer Zeit, in der die Ausgangssperre über dem öffentlichen Raum schwebt. Wir verstehen nun den Grund für die Beschränkungen unserer Freiheit. Aber: Wir sehnen uns sofort wieder nach den gewohnten Privilegien – sei es die Versammlungsfreiheit oder eine Reise nach Italien.
Michel Onfray hat das Buch geschrieben. Es ist eine Biographie über einer meiner Helden, die ich, bevor ich Muslim wurde, gerne gelesen hatte: Albert Camus. Als ich jung war, schien mir das Postulat des „Absurden“ eine treffende Zustandsbeschreibung deren persönlich und der allgemeinen Lage. Im Inhaltsverzeichnis gibt es ein Kapitel zur „Lebenskunst für Katastrophenzeiten“ und folgerichtig ein Abschnitt über „die Pest“, dem berühmten Buch des Franzosen.
Die Pandemie, der wir uns heute ausgesetzt sehen, hat gottlob nichts mit der Pest des Mittelalters zu tun. Aber Camus beschreibt in dem Buch ebenfalls mehr als nur eine medizinische Krise. Die Seuche trägt eine Symbolik mit einer zeitlosen Bedeutungsvielfalt in sich. Sie ist für ihn eine Metapher für den Totalitarismus, der die Bevölkerung, aber gleichermaßen uns, jederzeit befallen kann. Unter dem Eindruck des Faschismus schreibt er so bis heute gültige Sätze: „Der Faschismus kommt nicht von außen. Er ist von Menschen geschaffen. Er kommt nicht vom Himmel, sondern von der Erde. Wenn ihr in nicht wollt, gibt es ihn nicht.“
Camus sorgte sich zeitlebens um die Opfer, weniger die Mächtigen. Seine Haltung ist klar: „Ich sage nur, dass es auf dieser Erde Plagen und Opfer gibt und dass man sich, so weit wie möglich, weigern muss, auf Seiten der Plage zu sein.“ (Die Pest, S 288) Jede Krise ist demnach eine Chance zur Charakterbildung, ein Aufruf zum Widerstand gegen den inneren und äußeren, sichtbaren und unsichtbaren Feind. Der Dichter fordert den Menschen, der sich im Zaum hält – also das Individuum, dem die Zähmung des Tieres im Innern gelingt.
Bis heute schätze ich den Dichterphilosophen, auch wenn ich die verführerische Theorie des Absurden, längst durch die ganzheitliche Praxis des Islam ersetzt habe. Propheten kamen, um guten Charakter zu vervollständigen. In Krisenzeiten zeigen sich diese Charaktere – nicht in ihrer Rhetorik, auch nicht in der religiös angehauchten Floskel –, sondern in ihrem Handeln und Tun.
#12 Logik
In der aktuellen Krise muss man seine Aussagen möglichst einer Logikprüfung unterziehen. Sonst droht ein neuer Virus. Dann werden die Maßnahmen der Regierung pauschal in Frage gestellt und die Menschen weiter verunsichert.
Fakt ist, die Mehrheit aller in Deutschland lebenden Menschen wird das Virus – Gott sei Dank – gesundheitlich nicht schädigen. Das wurde auch nie behauptet.
Die absolute Mehrheit der Bevölkerung schützt eine Minderheit, die – bei einem rasanten Ausbruch der Pandemie – ernste Probleme bekommen könnte. Von dieser Schnittmenge wird wieder eine Minderheit ins Krankenhaus müssen. Geschieht dies zu schnell und zu sprunghaft, würde das Gesundheitssystem schnell und nach aller Logik an seine Grenzen kommen.
Helden (die wir brauchen werden, wenn es darauf ankommt) sind aufgerufen, die aktuelle Lage im Elsass und in Norditalien genauer zu studieren. Diese Lage ist neu und eben nicht mit den „normalen“ Grippewellen vergangener Tage zu vergleichen. Natürlich fahren hier alle nur auf Sicht und jede Maßnahme muss fortlaufend überprüft werden.
Die Regierung hat im Moment eine ethische Grundsatzfrage beantwortet. Man stelle sich vor, sie würde anders entscheiden: Also unnötig viele Tote in Kauf nehmen, um zum Beispiel das eigene Wirtschaftssystem zu schützen.
Eine völlig andere Frage ist, wer in dieser Krise Gewinner und Verlierer sein werden. Spätestens seit 2007 wissen wir, dass unser Finanzsystem fragil aufgebaut ist und keine globale kritische Situation so leicht übersteht. Das haben wir eher verdrängt und erleben jetzt die Dynamik des Zusammenbruchs. Um dies zur Kenntnis zu nehmen, bedarf es aber keiner Verschwörungstheorien.
Sorgen sollte die schnelle Aufhebung und Einschränkung diverser Bürgerrechte machen. Denn, so zeigt die Vergangenheit, diese Rechte werden uns nicht automatisch wieder zufallen. Hier bedarf es der Wachsamkeit.
Ein Gelehrter hat mir einmal eine zeitlose Formel vermittelt: „Hoffe auf das Beste und sei für das Schlimmste vorbereitet.“
#11 Das Dilemma
Ein unsichtbarer Virus.
Sichtbare Einschränkungen.
Eine Wissenschaft, die uns belehrt.
Ein Staat, der uns plötzlich rigoros regiert.
Eine Ökonomie, die in ihren Grundfesten erschüttert ist.
Die komplizierte Lage vermittelt sich naturgemäß als tiefe Verunsicherung: Was ist notwendig, gegebenenfalls aber auch übertrieben? Geht man besser auf Nummer sicher, oder sind die getroffenen Maßnahmen auf Dauer schädlicher als das Virus selbst?
Faust:
Da steh ich nun, ich armer Tor,
Und bin so klug wie stets zuvor!
Im Netz entwickeln sich hier die Positionen mehr oder weniger dynamisch – inklusive der üblichen Verschwörungstheorien. Jeder scheint die Botschaft zu senden, die ihm in der misslichen Lage den maximalen Genuss verspricht. Typen sprechen: der Unbelehrbare, der Belehrende, der Vernünftige, der Fromme, der Zyniker, der Wissende und der Kritiker. Manche Beiträge spiegeln die Überraschung, den Zweifel, den Verlust an Überzeugungen. Wir begegnen gleichzeitig jenen Zeitgenossen, die es schon immer wussten und praktisch jede Krise augenblicklich und spielerisch in ihre jeweilige Ideologie integrieren.
Wie immer ist auch der innere und äußere Ort interessant, von dem gesprochen wird: aus der Gelassenheit heraus, mit spürbarer Kompetenz, aus dem Argwohn, aus der Theorie, aus der Praxis oder aus dem Krankenhaus, aus der betroffenen Zone, aus dem Schaukelstuhl sowie vom Schreibtisch.
Gibt es so etwas wie objektive Wirklichkeit?
Immerhin, wir lernen zum Beispiel auch über das Phänomen des exponentiellen Wachstums. Muslime kennen das Phänomen schon im Rahmen der alten Zinsberechnungen. Das Wachstumspotential der Viren bildet heute eine Kurve, die merkwürdig an die Entwicklung der globalen Staatsschulden erinnert. Beides deutet Folgen und die Grenzen der Beherrschbarkeit an.
Auf Twitter erscheinen Bilder von Venedig, die Gassen sind so leer, wie das Wasser in der Lagune rein ist. Es entstehen Orte der Sehnsucht, die uns nicht zugänglich sind. Wir reisen zunächst im Innern.
Da alles still steht, müssen wir nicht schnell Endgültiges sagen. Wir haben nun Zeit, die Puzzleteilchen auf uns einwirken zu lassen. Vielleicht bilden die neuen Signifikanten bald eine Ordnung, in der wir uns morgen sicherer bewegen.
#10 Hamsterkäufe und innere Not
Nicht jeder Mensch ist gleich gut auf die anstehenden Veränderungen vorbereitet.
Der irrationale „Rush“ auf das Toilettenpapier zeigt ein Symptom, das man nicht nur verächtlich machen sollte. Es deutet auf eine profunde Not hin. Es ist eine unbewusste Handlung, die interessanterweise tiefer geht als die Angst vor dem Hunger. Hier äußerst sich die Angst vor dem Verlust der Würde und den Rückfall in das „nackte Leben“.
Die Begegnung mit elementaren Ängsten ist eine Übung, die leichter fällt, wenn eine Philosophie oder ein Glauben trägt. Wer hier den Mitmenschen etwas anzubieten hat, für den ist es an der Zeit zu sprechen!
#9 Nutzen wir die Gelegenheit
Die Menschheit geht nicht unter, wohl aber verändern sich die Perspektiven.
Langsam ahnen die Menschen, dass der Staat als gewohnter Allversorger ausfallen könnte. Im besten Fall ist er künftig in der Lage, ein allgemeines Grundeinkommen einzuführen. In einer weniger günstigen Prognose wird er seine Leistungen nach einer Weltwirtschaftskrise stark zurückfahren müssen.
Für uns Muslime – nutzen wir die Zeit – gilt es, neben unserer spirituellen Stärke unsere Kompetenz zu sozialen und ökonomischen Einrichtungen zu erneuern. Stiftungen, lokale Märkte, echtes Geld sowie Zakat sind hier die Stichworte, die wir in einer digitalen Welt neudenken und aktualisieren müssen.
#8 Das Virus und das Reale
Das Reale zeigt sich nicht in Statistiken, es wirkt in uns.
Sorge ist zunächst ein Existential und stellt sich naturgemäß ein. Wir besorgen die Lage, soweit wir das eben können.
Dann gilt es sich, dem inneren Feuerwerk zu stellen. Unsere imaginäre Vorstellungen: Was wäre wenn? Was könnte sein und was dann? Das kann spannend sein. Denn man spürt, wie sich die Priorität der Ängste langsam dem Elementaren zuwendet. Da fällt auch viel ab, was uns gestern noch verrückt machte. Es erscheint heute schon banal. So stellt sich langsam ein neuer innerer Haushalt ein und trägt zur Gesundung bei.
Die Sonne scheint. Der Augenblick lädt zum Verweilen ein. Wir wussten schon länger, dass der Fortschritt und die ewige Flucht nach vorne auf Grenzen stoßen müssen.
Die Offenbarung lehrt, wie man mit dem Realen der Situation umzugehen hat. Immer. Das Gebet erfüllt seine Funktion. Nicht als Flucht, sondern als Bekenntnis, dass da etwas Größeres in uns und um uns wirkt.
#7 Bastionen der Freiheit
Die Regierung verbietet Versammlungen mit mehr als fünf Personen. Das heißt: ade Bürgerrechte. Die letzte Bastion der Freiheit ist nun das Internet: Aber, nüchtern betrachtet: Schauen wir mal.
#6 Das Symbolische
Unsere symbolische Ordnung ist kein Haus aus Beton, in dem wir nur Mieter sind.
Dieser Grunderfahrung – ausgelöst von einer Störung aus dem Realen – sind wir heute ausgesetzt. Sprache verändert sich per Notwendigkeit. Zum Beispiel tauchen neue Signifikanten auf, wie „Triage“, die jetzt unsere imaginäre Vorstellung neuordnen. Meldungen, die uns gestern bedeutsam erschienen, verlieren – vergleichbar zum Geschehen an der Börse – ihren Wert.
Da die Bevölkerung über lange Zeit schon von irrationalen Ängsten geprägt ist, wird die neue Rationalität der Gefahr enorme Auswirkungen haben. Politisch ist unsere Ordnung erschüttert, gewohnte Bürgerrechte lösen sich in Luft auf. Ökonomisch bleibt alles beim Alten. Das Finanzsystem meldet sich mit seinem absoluten Anspruch zurück: „Whatever it takes.“
Alle diese Phänomene sind gefährlicher als das Virus selbst.
Wir werden sehen, dass unsere muslimischen Repräsentanten bedeutungslos werden, da ihre Signifikanz in den Medien vom Händedruck mit Politikern, aber nicht von relevanten Inhalten bestimmt wird. Das islamische Wirtschaftsrecht, Zakat, Stiftungen und unsere soziale Kompetenz werden in der Zukunft dagegen mehr Interesse finden. Zumindest dann, wenn es mehr Muslime gibt, die darüber sprechen.
#5 Die Geldpressen laufen
Sorge, Vorsorge und Fürsorge sind selbstverständlich das Gebot der Stunde. Darüber hinaus gilt aber auch, das Denken nicht einzustellen.
Besondere Aufmerksamkeit sollten wir dem dynamischen Geschehen auf der ökonomischen Bühne schenken. Die Fragen, die sich schon aus der Finanzkrise 2007/8 ergaben, wurden uns mehr oder weniger als gelöst verkauft. Allerdings liefen seitdem die Papiergeldpressen heiß, ohne dass wir uns der Frage nach der Ethik der Geldproduktion (Hülsmann) und den praktischen Folgen gestellt haben.
Die neue Coronakrise wird diese Dimension modernen Wirtschaftens nochmals neu entfesseln – mit bisher ungeahnten Dimensionen, da sie absolut alternativlos erscheinen wird. Schon heute sind die zahlreichen Verlierer klar: An den Börsen haben beispielsweise die Rentenkassen bereits gigantische Summen verloren. Gewinner werden dagegen die immer kleinere Zahl der Menschen sein, die über reale Werte verfügen. Was nun?! Denkt nach!
Es ist bedenkenswert, dass während der Finanzkrise 2007/8 der Islam als ökonomische Alternative kurz diskutiert wurde. Am Horizont erschien er so als Teil einer Lösung. Der folgende Aufstieg des sogenannten politischen Islam hatte diese konstruktive Debatte im Keim erstickt. Er wurde zum Teil eines Problems.
#4 Distanz und Solidarität
Vielleicht muss man diesen Begriff klären. Im Kontext der Pandemie meint dies, auf (unnötige) körperliche Nähe im Austausch mit Mitmenschen zu verzichten. Das ist nicht mit sozialer Kälte zu verwechseln!
Natürlich sind Muslime gerade jetzt aufgefordert, ihre Solidarität und soziale Kompetenz abzurufen. Das heißt, sich zum Beispiel darauf vorzubereiten, wie man in seinem Umfeld in Not geratenen Mitmenschen – wie ältere Nachbarn – künftig helfen kann usw.
#3 Nachricht aus Italien
Heute erhalte ich eine Nachricht von einem engen Fraund aus Norditalien:
Good morning,
I feel necessary to inform you that the situation about the virus here in Italy is a lot worst than we aspected. The Italian government has tempestively acted with the best possible countermeasures but many people are nevertheless dying in a horrific way and lonely.
Who is found positive is insulated and no relative can see him or her anymore, unless he or she survives!
I hope to be wrong but my strong impression is that other European countries are very late in the countermeasures and that this will lead to a disaster.
We are anyway, alhamdulillah, so far well.
#2 Soziale Distanz
Hm… Alltagspossen. O, Macht der Gewohnheiten. Den freundlichen Mann in der Werkstatt will ich wie üblich per Handschlag begrüßen. Er weicht zurück, wie von der Tarantel gestochen. Ich rette dann die Situation, indem ich mich souverän mit für den Fauxpas entschuldige und mit der Handbewegung zum Herzen, eine neue, sofort akzeptierte, und adäquate Begrüßungsform einleite. Allerdings grüße ich ihn jetzt, ebenso gewohnheitsmäßig sofort mit einem herzlichen „As Salaamu ‘alaikum“. Kurze Irritation, dann lachen wir gemeinsam. Soziale Distanz kann neue Türen öffnen…
#1 Das Virus und die notwendige Gelassenheit
Man liest heute viel über Panik und Hysterie, die das weltweit verbreitete Corona-Virus auslöste. Die Vernunft gebietet, dass man sich von diesem Zustand nicht anstecken lässt. Allerdings ist die Sorge um das eigene und das Wohlbefinden Anderer Teil unserer menschlichen Natur und eine grundlegende Seinsweise unserer Existenz. Der Mensch ist auf dieser Grundlage – im Gegensatz zur Panik – immer auch zur Vorsorge fähig, begleitet mit einer nüchternen Reflexion, Sinnsuche und Analyse der Lage.
Das Problem mit dem Virus fällt in eine Zeit, in der der Mensch sich unter dem Stichwort Globalisierung eingerichtet hat. Ewiges Wachstum, andauernde Beschleunigung, vollständige Kontrolle sind Maximen, die sich mit den Prinzipien der Natur nur schwer in Einklang bringen lassen. Schon Goethe hat sich mit diesem Grundwiderspruch im Faust beschäftigt: Das expansive Streben sowie der Herrschaftswille des modernen Menschen trifft dort auf die Grenzen der Natur. Oder wie der Dichter an anderem Ort mahnt: „Die Natur hat manches Unbequeme zwischen ihre schönsten Gaben ausgestreut.“
Wenn wir heute der unheimlichen Störung aus der Welt der Biologie ausgesetzt sind, betrifft das unsere imaginäre und symbolische Ordnung, die wir nach jeder neuen Krise immer mühsamer aufrechterhalten. Signifikante Begriffe unserer symbolischen Ordnung, wie zum Beispiel Menschenrechte, Demokratie und Gerechtigkeit haben unserer Politik bisher absolute Legitimität verliehen. In unserer Vorstellung sollte es eine Welt der Perfektion werden: Märkte die den Wohlstand verteilen, bürgerliche Gesellschaften sowie eine Technik, die uns bei der Umsetzung dient. Schon länger driftet aber das, was sein soll, und das Bestehende weit auseinander.
Es gehört zu den paradoxen Folgen der Epidemie dieser Tage, dass sie mit ihren, unserer Politik entzogenen Mitteln, einen faktischen Zustand der Mäßigung schafft. Weniger Konsum, weniger Reisefreiheit, weniger Ressourcen-Verbrauch sind in etwa die Verhaltensweisen, die wir für ein Überleben der Menschheit in der Theorie angemahnt hatten. Dass das konkret Notwendige mit derart schmerzlichen Folgen verbunden ist, gehört zur unausweichlichen Tragik der menschlichen Situation.
Unsere Hoffnung, dass diese Einschränkungen nur ein vorübergehendes Phänomen darstellen und nach einigen Monaten wieder der Vergangenheit angehören, deutet auf unseren geistigen Ort, den wir im Projekt der Moderne längst klaglos eingenommen haben. Wir Unverbesserlichen sehen in jeder dramatischen Krise nur noch eine kurzzeitige Störung. Vergessen wir nicht, mit dem Predigen von Mäßigung gewinnt man heute keine Wahlen, sie ist vielmehr eine Position, die der Politik von uns nur im Ausnahmezustand gewährt wird.
Die Aufforderung zur sozialen Distanz – der faktischen Entfernung zum Mitmenschen – korrespondiert merkwürdig mit dem Vorwurf der sozialen Kälte, der unsere Gesellschaften schon länger trifft und sich nun, und sei es nur für einige Monate, als Einheitlichkeit der Lebensumstände entfalten. Das Denken in Kausalitäten verbietet hier jede Konstruktion eines Zusammenhangs. Aber man mag hier dennoch einen Bedeutungszusammenhang sehen; nicht im Sinne einer Verschwörungstheorie, wohl aber bezüglich einer ganzheitlichen und nachdenklichen Bestandsaufnahme unserer Situation im Ganzen.
„Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewußtseins“, schrieb Marie von Ebner-Eschenbach einmal. Muslime haben kein gesondertes, geheimnisvolles Schutzschild gegenüber biologischen Katastrophen anzubieten. Islam beansprucht vielmehr nur, eine natürliche Lebenspraxis zu sein, die auf jede Lage, sei sie gut oder schlecht, passt. Es ist eine Praxis, die keinen menschlichen Fortschritt ablehnt, aber Mäßigung anempfiehlt und in jeder Lage, so wie sie eben ist, Trost, gutes Verhalten und Solidarität ermöglicht. In der Tat sagte der Prophet (möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben): „Die Gläubigen gleichen Halmen auf einem Feld, die der Wind hin und her wogen lässt.“