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„Über die Berge und über das Meer“, ein Roman von Dirk Reinhardt über das harte Leben von Paschtunen in Afghanistan

Hamid Beheschti 26/08/2019
Die siebte Tochter einer paschtunischen Familie in der Gebirgslandschaft zwischen Afghanistan und Pakistan und ihr Freund, ein junger Hirte, Sohn einer Nomadenfamilie, verlassen ihre Heimat gen Istanbul und Stuttgart. Soraya, die sich im Kindesalter als Junge zu verhalten hat und ihr Freund Tarek müssen aus verschiedenen Gründen vor Taliban fliehen, um vielleicht später ihren Familien aus dem Ausland zu unterstützen… Eine spannende Geschichte.

Am Ende des Romans hat der Verfasser kurz und leicht verständlich die Lebensverhältnisse in diesen Gebieten Afghanistans und die Gründe fürs Verlassen des Landes dargestellt:
„Nach 40 Jahren Krieg haben viele Afghanen die Hoffnung aufgegeben, dass sich in ihrem Land jemals noch etwas zum Guten wenden könnte. Seit dem Abzug der ISAF-Truppen der Vereinten Nationen Ende 2014, die wenigstens noch für eine gewisse Stabilität gesorgt hatten, hat eine neue Fluchtwelle das Land ergriffen. Zehntausende verlassen Afghanistan. Viele fliehen vor den Taliban, die damit drohen, jeden zu töten, der mit den US-Truppen zusammenarbeitet, und seien es nur als Fahrer oder Dolmetscher. Auch die Armut treibt viele aus dem Land, denn die Wirtschaft liegt im wahrsten Sinn des Wortes in Trümmern.
Besonders schwierig ist die Lage in den paschtunischen Bergdörfern, wie es in diesem Roman am Beispiel von Sorayas Heimatdorf beschrieben wird. Die Bevölkerung ist einerseits dem Terror der Taliban und andererseits den Foltergefängnissen der Amerikaner ausgeliefert. Dazu kommen die Herausforderungen des täglichen Überlebenskampfes in einer unwirtlichen Region und die Zwänge der traditionellen paschtunischen Gesellschaft, unter denen besonders Frauen und Mädchen zu leiden haben.
In Sorayas Schicksal bündelt sich all das. Sie ist eine ››bacha posh«, was wörtlich übersetzt ››wie ein Junge gekleidet« bedeutet. Um die Ehre ihrer Mutter zu retten und der Familie einen funktionierenden Alltag zu ermöglichen, wächst sie wie ein Junge auf. Anfangs ist dies mit Rechten und Freiheiten verbunden, wie sie einem Mädchen in Afghanistan normalerweise nicht zustehen. Aber als Soraya älter wird, gerät sie zwischen die Fronten und erlebt all die politischen und gesellschaftlichen Widersprüche, die Afghanistan beherrschen, am eigenen Leib.
Auch die Kuchi, die Nomaden, die wie Tareks Familie in traditioneller Weise mit ihren Schaf- und Ziegenherden durch Afghanistan ziehen, sind in ihrer Existenz bedroht. Dafür sind zum einen die mörderischen Hinterlassenschaften des Krieges verantwortlich. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen liegen in Afghanistan über 9 Millionen Landminen vergraben und die Kuchi haben unter diesen tödlichen Fallen naturgemäß stärker zu leiden als alle anderen Bevölkerungsgruppen.
Zum anderen macht der Klimawandel den Nomaden zu schaffen, ebenfalls eine Entwicklung, die von außen kommt und nicht von den Afghanen zu verantworten ist. Weideflächen verdorren, Flüsse versiegen. Seit den Tagen der sowjetischen Invasion hat sich die Anzahl der Kuchi halbiert und auch ein großer Teil der verbliebenen wird die traditionelle Lebensweise nicht mehr lange fortführen können.
Viele der Familien, sowohl in den paschtunischen Bergdörfern als auch in den Lagern der Kuchi, suchen verzweifelt nach Auswegen aus dieser Situation. Häufig wird eines der jüngeren Familienmitglieder ausgewählt, um das Land zu verlassen, sich in der Fremde eine Existenz aufzubauen und von dort die Familie zu unterstützen. Damit wird ihnen eine Verantwortung aufgebürdet, die sie kaum tragen können.
Manche gehen in die Nachbarländer Iran und Pakistan, andere nehmen gleich den Weg nach Europa auf sich. Von Herat bis Belgrad haben sich kriminelle Schleuserbanden etabliert, die darauf abzielen, aus den Flüchtlingen so viel Geld wie möglich herauszupressen. Der Weg ist gefährlich, in manchen Passagen, vor allem in den Bergen zwischen Iran und der Türkei oder bei der Überfahrt übers Mittelmeer zwischen der Türkei und Griechenland, sogar lebensgefährlich.
Und sind die Flüchtlinge in Europa angekommen, geraten sie in die Mühlen einer unentschlossenen, in sich widersprüchlichen europäischen Flüchtlingspolitik. Aufgrund der großen kulturellen Unterschiede und ihres eher geringen Bildungsniveaus gelten die Afghanen als besonders schwer integrierbar, was dazu führt, dass die europäischen Staaten sie bevorzugt abzuschieben versuchen. Dies geschieht mit oft fragwürdigen Begründungen, gipfelnd etwa in dem absurden Versuch der Bundesregierung, ausgerechnet Afghanistan, eines der gefährlichsten Länder der Welt, zum ››sicheren Herkunftsland« zu erklären.“
2019
318 Seiten
ISBN 9783836956765
EUR (D) 14.95 | EUR (A) 15.40 | SFr 19.90