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ProMosaik-Fragen Treblinka

Von Milena Rampoldi, ProMosaik. Nach
der Veröffentlichung der Reihe von Jürgmeier über Treblinka, nun unser
Interview mit dem Autor anbei.

Warum Treblinka?
In gewisser Weise ist es ein Zufall. In
Zusammenhang mit zwei Radio-Sendungen zum Thema Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus
(Der Faschismus ist das Menschenmögliche; Aufrechter Gang ist das
Menschenmögliche) bin ich Ende der Achtzigerjahre auf Richard Glazar gestossen und
habe dann mit ihm allein eine Sendung mit dem Titel «Ich war in Treblinka»
produziert. Für diese Sendung habe ich insgesamt sieben Stunden aufgenommen, die
ich auf anderthalb Stunden zusammenschneiden musste. In den Jahren danach habe
ich immer wieder an Richard Glazar – der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in
der Tschechoslowakei mit Repressionen zu kämpfen hatte – gedacht, der gerne
auch über diese Erfahrungen gesprochen hätte. Eigentlich plante ich, mit ihm
eine zweite Sendung zu machen. Aber aufgrund der medialen Realitäten (schnell
wechselnde Aktualitäten) und wegen neuer Projekte ist es nie dazu gekommen. Als
ich ihm in den Neunzigerjahren schrieb, war er schon schwer krank; ein Jahr
darauf las ich in der Zeitung, er sei gestorben.
Nachdem ich mich entschlossen hatte, 75
Jahre nach dem Aufstand in Treblinka für die Online-Zeitung Infosperber einen Text aufgrund des damals
aufgenommenen Materials zu schreiben, nahm ich Kontakt mit seinem Sohn, ebenfalls
Richard Glazar, auf, der sich zu einem Gespräch bereit erklärte, so dass ich zu
direkten Informationen über das spätere Leben und den Tod Richard Glazars, des
Vaters, kam. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, es Richard Glazar «schuldig
zu sein», sein Leben in ganzheitlicherer Form darzustellen; im Allgemeinen
interessierten sich alle (auch ich) immer nur für ihn, weil er aus Treblinka zurückgekommen
war.
Nebst der Person Richard Glazar geht es mir
auch um Treblinka selbst. Treblinka ergänzt und schärft das Bild, das wir von
der nationalsozialistischen Massenvernichtung haben. Dieses Bild ist vor allem
von Auschwitz geprägt, aber in Treblinka wird fast noch deutlicher, was
industrielle Vernichtung von Menschen bedeutet und was dieser Tötungsprozess
mit den wenigen, die ihn überleben, macht. Treblinka ist der extremste und
brutalste Beleg dafür, dass Überleben immer auch Sich-Verstricken bedeutet – in
die jeweils aktuellen soziopolitischen Verhältnissen und die allenfalls damit
verbundenen Zerstörungs-, Vernichtungs- beziehungsweise Tötungsprozesse.
Wie kann man mit Genozid umgehen? Was bedeutet hier für Sie die „Verarbeitung“
wie im Falle Glazars (dem Sohn zufolge)?
Die Frage betrifft ja nur die Überlebenden.
Das sind im Falle von Treblinka sehr wenige, und diese Wenigen waren in
Treblinka als sogenannte «Arbeitsjuden» in den Tötungsprozess verstrickt. Das
macht es noch viel schwieriger, damit «umzugehen». Aufgrund der Aussagen von
Richard Glazar, dem Vater, und Richard Glazar, dem Sohn, nehme ich an, dass es
Richard Glazar, dem Vater, im Gegensatz zu vielen «Überlebenden», gelungen ist,
einen Weg ins Leben (zurück) zu finden und sich darüber zu freuen. Aber
natürlich war das mit grossen Kraftanstrengungen verbunden – von ihm, aber auch
von seiner Frau.
«Verarbeitung» scheint mir ein Begriff, der
durch die (durchaus auch hilfreiche) Psychologisierung unseres Lebens geprägt
und an die Vorstellung gebunden ist, individuelle beziehungsweise kollektive
Katastrophen könnten «verarbeitet», hinter sich gelassen werden. Ich vermute,
Richard Glazar hat versucht, die mit Treblinka verbundenen Belastungen und
Traumata von seiner Familie fernzuhalten, sie davor zu schützen. Ihm selbst
gelang das nicht wirklich. Ein Teil der «Verarbeitung» bestand von einem
bestimmten Zeitpunkt an in der öffentlichen Bezeugung des Erlebten, mit dem
Ziel, die Erinnerung an das grosse Morden aufrechtzuerhalten.
Der Satz «Ich bin für ihn wie die Luft, die
er zum Atmen braucht», den seine Frau mehrfach formuliert hat, ist ein Indiz
dafür, dass er diese Kraft nur aufbrachte, weil seine Frau ihn bedingungslos
unterstützte. Sie nahm ihm, vermutlich, einen Teil der Schatten der
Vergangenheit ab, und irgendwie sind sie am Ende beide doch auch daran
zerbrochen. Aber vielleicht ist das etwas viel psychologische Interpretation. Schliesslich
geht das Leben für alle irgendwann zu Ende. Auch für die Überlebenden von
Treblinka. Offensichtlich scheint, dass angesichts des Todes seiner Frau die
Schatten der Vergangenheit Treblinka auch bei Richard Glazar zurückkehrten,
u.a. in Form von schweren Ängsten, und ihn in den selbst gewählten Tod trieben.
Warum ist dieser Satz vor allem heute immer noch so wichtig? «Es ist für die
Geschichte wichtig, dass die Geschichte, die meistens von den Siegern
geschrieben wird, auch von den Opfern geschrieben wird.»
Dieser Satz ist solange wichtig, wie die
Geschichte beziehungsweise die gesellschaftliche Realität nicht von denen massgeblich
mit-geprägt wird, die, bisher, und wahrscheinlich, leider, noch auf längere
Zeit zum Opfer der Geschichte beziehungsweise der aktuellen gesellschaftlichen
Verhältnisse werden. Aber immerhin sollten die Opfer – sofern sie das überhaupt
noch können, die Toten schweigen für immer – das Bild dessen, was passiert und passiert
ist, zentral mit-gestalten können. Das Problem – in Bezug auf Treblinka und
sämtliche Opfer des Nationalsozialismus – ist, gerade jetzt, da auch die
überlebenden Opfer sterben, dass jene das Bild der Vergangenheit mehr und mehr zu
bestimmen drohen, die einen Schleier des Vergessens über das legen möchten, was
vor nur rund achtzig Jahren geschehen ist. Ausgehend von einem jener Staaten,
die sich heute als Fahnenträger der Zivilisation und der Menschenrechte sehen.
Die Geschichte müsste immer auch von jenen
geschrieben werden, ohne die Gesellschaften nicht «funktionieren» würden, der
«Fortschritt» nicht möglich wäre, die im Namen dieses «Fortschritts»
ausgebeutet, deren Lebensgrundlagen beispielsweise durch das ökonomische
Wachstum um jeden Preis gefährdet werden. Mehr noch, sie müssten Teil der
Entwicklung eines Prozesses werden, der zu einem wirklichen «Fortschritt» der
Menschheitsgeschichte führt, damit für sie nicht nur hinterher Gedenkstätten
errichtet werden müssen.
Für mich beginnt Genozid immer und überall mit Sätzen wie diesem von Stangl: «Ich
bin zwar Kommandant des Lagers Treblinka gewesen, habe aber mit der Tötung der
Juden im Lager nichts tun gehabt.»
Ich vermute, das gilt nicht nur für
Genozid, sondern für alle Formen des organisierten Tötens, also auch den Krieg.
Die Organisation der Vernichtung und des Mordens in Form arbeitsteiliger
Prozesse ermöglicht es den Befehlenden und Planenden, sich die Hände in
Unschuld zu waschen, sie tun ja konkret niemandem weh, bringen niemanden
eigenhändig um. Umgekehrt können sich die Ausführenden, die konkret Hand
anlegen beziehungsweise Menschen ermorden, darauf berufen, sie würden nur
Befehle ausführen. Das heisst, es gibt letztlich niemanden, der oder die
Verantwortung für das übernimmt, was andere erleiden.
Wie können wir durch Erziehung dazu beitragen, dass Menschen sich dafür
einsetzen, Verantwortung zu übernehmen für das, was in ihren Ländern geschieht?
Es ist ja eine viel diskutierte und umstrittene
Frage, ob die Erziehung «des Menschen» beziehungsweise die Pädagogik der
Befreiung tatsächlich einen «neuen Menschen» hervorzubringen sowie die Welt vor
Genozid, Massenmord und Krieg zu schützen vermöchte. Der aufrechte Gang ist sowohl
eine Frage des individuellen Handelns als auch eine Frage gesellschaftlicher
Strukturen und kultureller Werte. Wer Verantwortung für sein Handeln in
sozioökonomischen und soziokulturellen Kontexten übernehmen will, muss immer
auch bereit sein, sich gegen die Macht zu stellen und entsprechende Nachteile,
inklusive Repressionen, in Kauf zu nehmen. Das heisst in «gemütlichen» Zeiten –
berufliche und ökonomische Einschränkungen, «sozialer Tod» usw. Bedeutet in der
heutigen Realität, sich nicht an Prozessen zu beteiligen, die – beispielsweise
– zum Klimawandel beitragen, die Lebensgrundlagen unseres Planeten gefährden, oder
welche die Ausbeutung von Menschen (durch den Kauf von Produkten aus
Tieflohnländern) und Kriege (durch die Produktion von Waffen) unterstützen.
Hier wäre Verweigerung gefragt, müsste der Mut zum Ungehorsam geprobt werden, damit
er (auch) in bedrohlicheren Zeiten praktiziert werden könnte.
Wer sagt, er oder sie würde sich (künftig) niemals
an einem Völkermord oder Massenmord beteiligen, aber (heute) keinen Konflikt
mit dem Chef beziehungsweise der Chefin wegen irgendwelcher «Kleinigkeiten»
(zum Beispiel wegen sexueller Übergriffe im Betrieb, nicht nachhaltiger Produktionsformen)
riskieren will, macht sich etwas vor. Widerstand ist in «härteren» Zeiten nicht
leichter als in «gemütlichen». Die Fähigkeit, Verantwortung im eigenen
Handlungsfeld zu übernehmen, aufrecht zu gehen, ungehorsam zu sein, müsste täglichstündlich
im Kleinen und Grossen praktiziert beziehungsweise trainiert werden. Die
Erziehung zur Mündigkeit müsste auch den Ungehorsam sowie den Widerstand (gegen
die Erziehenden) fördern. Wer mündige Menschen will, darf ungehorsame Kinder
nicht bestrafen, höchstens mit ihnen streiten und verhandeln.
Wie wichtig ist es, den Zusammenhang zwischen Massenmord und Aufstand
aufzuzeigen?
Das organisierte Töten Treblinkas
begünstigte ganz offensichtlich den Widerstand nicht. Aus verschiedenen Gründen.
Da die meisten umgebracht wurden, kaum waren sie in Treblinka angekommen, konnten
sie sich nicht verständigen, zusammentun, organisieren usw. Richard Glazar
beschreibt die Momente, in denen sie als «Arbeitssklaven» den Ankommenden zuriefen,
sie würden getötet, sie sollten sich mit ihnen auf die SS-Leute stürzen. Aber «die
Neuen» glaubten nicht an das Menschenmögliche.
Der Aufstand kann in diesen mörderischen
Kontexten vermutlich nur gelingen, wenn die einzelnen nicht (mehr) auf
individuelles Überleben hoffen, sondern sich in den Dienst des Überlebens im
Allgemeinen beziehungsweise anderer stellen. Auch darauf weist Richard Glazar
hin – sie, die zwar vorerst als «Arbeitssklaven» überlebten, hätten nicht
wirklich daran geglaubt, dass sie durch einen Aufstand ihr persönliches Leben
retten könnten.
Es gab, soweit ich das verstehe, zwei zentrale
Motive für den Aufstand, der im August 1943 gelang – einerseits, um den Respekt
vor sich selbst nicht zu verlieren. Wenn sie den Aufstand nicht versucht
hätten, wären sie, in ihren eigenen Augen, nichts anderes als «willige
Handlanger» des Mordens geworden beziehungsweise geblieben. Um zu überleben,
müsse man «in so einem Lager … Sachen machen, wo man vor sich selbst dann
ausspuckt». Sagt Richard Glazar einmal. Andrerseits wollten sie «der Welt»
gegenüber Zeugnis ablegen, öffentlich machen, was da geschah, und das war nur
möglich durch einen Aufstand, der zumindest einigen zur Flucht verhelfen und es
den Überlebenden ermöglichen würde, zu bezeugen, was die Nazis mit allen Mitteln
zu vertuschen suchten und die Holocaust-Leugner noch heute ungeschehen machen
wollen. Ohne diesen Aufstand wären auch Richard Glazar und seine paar Kollegen ermordet
worden. Es hätte keine Opfer gegeben, welche die Geschichte Treblinkas hätten
(mit‑)schreiben können. Und, so vermute ich, natürlich gab es auch einen Rest
an individueller Hoffnung, zu überleben und doch noch ein Leben vor dem Tod zu
haben. Die Hoffnung auch, dass am Ende das Leben im Kollektiven (repräsentiert
durch ein paar Wenige) doch noch über den Tod, das Morden siegen würde.