Kaschmir und Palästina: beide unter Besatzung und beide Opfer des militärisch-industriellen Komplexes
von Kit O’Connell, MintPress, 4. Oktober 2016, deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik. Der
Befreiungskampf der beiden Völker von Palästina und Kaschmir begann am
Ende der 1940er Jahre während der schwindenden Tage des britischen
Kolonialismus.
Frau geht auf einer Straße, die nach einer Demo während der
Ausgangssperre in Srinagar, im von Indien besetzten Kaschmir, am
Freitag, den 30. September 2016, mit Ziegeln und Steinen übersät ist.
AUSTIN, Texas — Obwohl deren Heimatländer in einer Entfernung
von ungefähr 4 000 Kilometer liegen, haben Palästinenser und Kaschmiris
einen Befreiungskampf und das Recht auf Selbstbestimmung gegen die durch
den Machteinsatz des US-amerikanischen militärisch-industriellen
Komplexes unterstützten Besatzungskräfte gemeinsam.
Während das schrumpfende palästinensische Heimatland infolge der
stetig expandierenden illegalen Siedlungen Israels immer mehr schwindet,
befindet sich Kaschmir an der Grenze zwischen Indien und Pakistan
gefangen. Beide Länder erheben Besitzansprüche, obwohl die ethnische
Gruppe der Kaschmiris die Unabhängigkeit wünscht.
Die Bevölkerung von Kaschmir wurde seit der britischen Aufteilung der
Region 1947 in drei Kriege zwischen Indien und Pakistan verwickelt. In
einer der größten Parallelen zwischen deren gegenseitigen Kämpfen gegen
den Kolonialismus, widerstehen die Palästinenser seit 68 Jahren ihrer Vertreibung durch den Staat Israel, der durch das Britische Mandat errichtet wurde. Wie die Palästinenser werden auch die Kaschmiris als zweitklassige Bürger im eigenen Land behandelt. Und Kaschmir ist zu einer der am intensivsten militarisierten Grenzen der Welt geworden.
In einem Kommentar vom 24. August auf Al-Jazeera erklärte die geopolitische Analystin Goldie Osuri:
„Es gibt in der Region ungefähr eine halbe Million Soldaten – in
anderen Worten einen Soldaten für 25 Zivilisten. Die Jammu and Kashmir
Coalition of Civil Society berichtet von mehr als 70.000 Tötungen, von
ungefähr 10.000 erzwungenen Verschwinden und 7.000 Massengräbern.“
Während sich die US-Regierung manchmal der israelischen Besatzung und der dauernden Expansion ins palästinensische Territorium widersetzt, erhält das israelische Militär immer noch mehr als 3,1 Milliarden $ jährliche Hilfe. Diese Zahlung wird gemäß einer kürzlichen Vereinbarung auf jährliche 3,8 Milliarden $ erhöht, wobei in diesem Betrag die finanzielle Unterstützung der USA für das israelische sog. Eisenkuppel-Raketenverteidigungssystem gar nicht enthalten ist.
Obwohl Indien viel weniger direkte militärische Unterstützung erhält als Israel, erhält Indien eine großzügige wirtschaftliche Unterstützung von den USA und
ist als Waffenkäufer ein Schlüsselakteur im militärisch-industriellen
Komplex der USA. 2014 wurde Indien direkt nach Saudi-Arabien zum
zweitgrößten Käufer US-amerikanischer militärischer Ausrüstung . Im
April berichtete Reuters, dass Indien mit den USA den Kauf von
Predator-Überwachungsdrohnen verhandelte.
indischer Polizist durchfilzt einen jungen Kaschmiri, während ein
indischer Paramilitär (links) am Mittwoch, den 4. November 2015, einen
zeitweiligen Kontrollpunkt in Srinagar, im von Indien besetzten
Kaschmir, bewacht.
Sobald die Mitglieder jeglicher Gruppierung Widerstand gegen die
Apartheidpolitik leisten, ob nun durch friedliche Proteste oder direkte
Vergeltung der Gewalt des Staates, werden sie von den herrschenden
Medien als „Terroristen“ abgestempelt. Diese Terminologie verdunkelt
nicht nur deren Recht auf Auflehnung gegen die Besatzung, sondern
unterstützt auch deren dauerhafte Unterdrückung. Osuri bemerkte hierzu:
„Dieser Terrorrahmen unterstützt die Wirtschaft des Waffenhandels
zwischen Indien, Israel und den USA. In dieser Geschichte … werden die
Selbstbestimmungsforderungen der Kaschmiris und Palästinenser auf die
Nachbarschaft mit muslimischen und arabischen Staaten reduziert, die
Unruhe stiften.“
Um die Ähnlichkeiten zwischen Israel und Indien zu verstehen, betonte
Osuri die Notwendigkeit, die aktuellen Geschehnisse in einem „längeren
Kontext“ zu sehen. Israel ist ein Schlüsselverbündeter der USA im Nahen
Osten, der den US-amerikanischen Plan unterstützt, die fossilen Brennstoffe im Nahen Osten zu kontrollieren und sogar die Außenpolitik der Region zu bestimmen.
Die USA versuchen inzwischen ihre Verbindungen zu Indien zu vertiefen, um Druck auf Russland und China auszuüben. Gemeinsam mit Brasilien und Südafrika, haben die fünf Länder ein mächtiges Wirtschaftsbündnis namens BRICS gebildet, aber die USA hoffen, dass ausländische Hilfe und Waffen Indien dazu bewegen könnten, anstatt dessen ein Bündnis mit der NATO zu schließen.
Da die USA davon abhängig sind, ein strategisches Bündnis sowohl mit
Israel als auch mit Indien beizubehalten, sind beide Länder frei, die
Palästinenser oder Kaschmiris fast straffrei zu unterdrücken.
„Seit den 1990ern erreichte die staatliche Gewalt in
Kaschmir durch ein Jahrzehnt bewaffneten Kampfs gegen den indischen
Staat ihren Höhepunkt“, schrieb Osuri, indem sie auf eine kürzliche
Razzia der indischen Streitkräfte hinwies, bei der Hunderte durch Schrotkugeln ihr Augenlicht verloren oder verstümmelt wurden. Osuri schrieb hierzu:
„Es gab 70 Tote und mindestens 6000 Verletzte. Und diese Zahlen
steigen. Trotzdem protestieren die Kaschmiris weiterhin gegen den
indischen Staat und fordern Azadi (Freiheit).“
Im Vergleich dazu starben infolge der israelischen Angriffe gegen
Gaza im Sommer 2014 ungefähr 2.200 Menschen, einschließlich 500 Kindern.
500.000 wurden obdachlos. Die Palästinenser leben unter einer
militärischen Besatzung, die durch ähnlich übertriebene Truppenanzahlen
umgesetzt wird. Sie sind gezwungen, militärische Kontrollpunkte zu durchlaufen, wenn sie irgendwo hin wollen oder zur Arbeit pendeln. Alltagsgegenstände wie Musikinstrumente, Zeichenstifte und Baumaterialien werden routinemäßig an den Grenzen beschlagnahmt.
Soldaten kontrollieren die Personalausweise von Palästinensern neben
einem israelischen Kontrollpunkt in der Nähe von Nablus, im von Israel
besetzten Westjordanland, am Dienstag, den 3. Juni 2014.
Die Vereinten Nationen haben die Handlungen der Besatzermächte Indien und Israel wiederholt
als Kriegsverbrechen verurteilt, aber dadurch kam es nicht zu
nachvollziehbaren Verbesserungen der Menschenrechte der Völker im
Kaschmir oder Palästina. Indem man die Regierungsnarrative nachplappert,
welche die Freiheitskämpfer als Terroristen darstellen und die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass die Befreiungskämpfe der besetzten Völker mit der Militärmacht gleichzusetzen sind, die sie unterdrückt, spielen auch die herrschenden Medien eine Schlüsselrolle in der Schönfärbung von Kriegsverbrechen.
Frauen gehen an einem geschlossenen Markt vorbei. Auf den Rollläden
eines Ladens finden sich Graffitibemalungen. Auf Urdu steht hier: „Es
lebe Pakistan“. Srinagar, im von Indien besetzten Kaschmir, am
Donnerstag, den 29. September 2016.
„Trotz einer langen Geschichte ausgedehnter kultureller und
Handelsbeziehungen der Kaschmiris zu Pakistan vor der Errichtung des
modernen Nationalstaates, wünschen sich die meisten Kaschmiris eine
Unabhängigkeit sowohl von Indien als auch von Pakistan“, schrieb Tariq
Mir, ein Journalist aus Pakistan in einer Analyse vom 26. September 2016 auf der Boston Review.
Die letzte Welle von Protesten und Unruhen begann nach dem Tod von
Burhan Muzaffar Wani, dem 22jährigen Anführer des Aufstandes der Hizbul
Mujahideen, der am 8. Juli am dritten Tag des Eid al-Fitr-Festes, einem
der wichtigsten islamischen Feiertage, von den indischen
paramilitärischen Polizeikräften getötet wurde.
Die Kaschmiris unterstützen verschiedene Widerstandsgruppen, die
verschiedene Ideologien wiederspiegeln. Dazu gehören die Jammu und
Kashmir Befreiungsfront, die die Unabhängigkeit Kaschmirs anstrebt. Der
Hizbul Mujahideen (Partei der Widerstandskämpfer) ist eine
pro-pakistanische Widerstandsgruppe, die von der Jamat-i-Islami, einer
Gruppe, die der Muslimbruderschaft nahesteht, beeinflusst wird. Trotz
der Unterschiede, so Mir, „bevorzugt der Großteil des Volkes alle
kaschmirische Guerillakämpfer, unabhängig von ihrer besonderen,
politischen Orientierung, solange sie sich Indien widersetzen“.
Die Nachricht von Wanis Tod verbreitete sich wie ein Lauffeuer:
Tausende strömten durch die Straßen von Tral, seiner Heimatstadt. „Bald
füllten ganze 250.000 Menschen die Gassen der Stadt, die offenen Felder
und Gärten“, schrieb Mir, „und es war wohl die größte Zusammenkunft der
letzten Jahre in Kaschmir“.
Die Trauernden sangen, warfen Steine und verbrannten einige
Außenposten der indischen paramilitärischen Polizei. Die Niederschlagung
war rasch und hart und zündete Proteste, bei denen von Fällen von Polizeigewalt berichtet wurde.
Obwohl höhere Beamte des US-Außenministeriums in der Vergangenheit ihre Bedenken über
die Gewalt in Kaschmir geäußert hatten, kam es nach den kürzlichen
Geschehnissen zu keiner wesentlichen Handlung von Seiten der
US-Regierung.
Indien und Israel dürfen einfach Kriegsverbrechen mit der impliziten
Unterstützung der USA begehen. Daher, so Osuri, „sind die transnationale
Solidarität und der transnationale Aktivismus dringend notwendig, wenn
fast alle Nationalstaaten Schurkenstaaten sind.“
Sie gelangte zur folgenden Schlussfolgerung:
„Die kleinen, aber zunehmenden Solidaritätserklärungen sind für
die Kaschmiris ermutigend, wie sie es auch für den palästinensischen
Kampf sind.Wenn wir die Besatzungen von Kaschmir und Palästina vor Augen
halten, sehen wir die Notwendigkeit für mehr Solidarität für diese
beiden Befreiungskämpfe.“
Im Oktober 2011 begab sich die Journalistin Tara Dorabji nach Kaschmir, um
über die Spannungen zu berichten, die auch zwischen den einzelnen
Volksaufständen weiterhin köcheln. Dorabji schrieb hierzu:
„Die Folter und der Tod können nicht mehr verdeckt werden. ….. Die
Kinder wachsen in Kaschmir auf und sehen, wie sich die Gräber in ihren
Dörfern vermehren. Wenn eine Person begraben wird, bewahrt die
Gemeinschaft ihre Geschichte und ihr Gedächtnis. Die mündliche
Geschichte ist die größte Waffe gegen die brutale indische Besatzung.
Sogar unter Besatzung können diese Geschichten der Toten nicht
verschwiegen werden.“
Dorabji sieht eine große Hoffnung in der Zukunft Kaschmirs, eine von
den Einheimischen geführte Nation aufzubauen, wenn sie schreibt:
„Wenn die gewaltfreie Volksbewegung in Kaschmir das Recht auf
Selbstbestimmung erhält, wird eine neue Art von Demokratie ins Leben
gerufen: eine Demokratie, die nicht auf der Kontrolle durch militärische
Besatzung basiert und auch nicht die Flagge der Demokratie schwingt, um
einen Völkermord zu vertuschen.“
Jahre später und mit viel mehr Toten bleibt jene Hoffnung auf
Selbstbestimmung sei es für die Kaschmiris, als auch für die
Palästinenser ein Traum.