Deutschlands globaler Horizont
von German Foreign Policy, 14.07.2016.
Die globale Ordnung
Das neue Weißbuch formuliert offen den Anspruch Berlins, in Zukunft eine führende Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Dieser Anspruch ist in den vergangenen Jahren immer wieder öffentlich vorgetragen worden. “Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen”, hieß es etwa vor fast drei Jahren in einem Strategiepapier, das von rund 50 teils hochrangigen Personen aus dem außenpolitischen Establishment der Bundesrepublik erstellt und im Oktober 2013 von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) publiziert wurde.[1] Im Weißbuch heißt es nun ähnlich, die Bundesrepublik sei “ein in hohem Maße global vernetztes Land”, das “aufgrund seiner wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bedeutung” daran gehen werde, “die globale Ordnung aktiv mitzugestalten”: “Deutschland ist bereit, sich früh, entschieden und substanziell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen … und Führung zu übernehmen”. Die Bundesrepublik werde nicht nur “zunehmend als zentraler Akteur in Europa wahrgenommen”; sie “gestalte” darüber hinaus die “internationale Ordnung mit”: “Deutschlands sicherheitspolitischer Horizont ist global. Dieser umfasst ausdrücklich auch den Cyber-, Informations- und Weltraum.” Entsprechend erklärt die Bundesregierung im Weißbuch auch, man sei “bereit”, “ständiges Mitglied des VN-Sicherheitsrates” zu werden.[2]
Rohstoffe und Handelswege
Auch die Beschreibung deutscher Interessen sowie tatsächlicher oder angeblicher Bedrohungen für die Bundesrepublik knüpft unmittelbar an die Debatte der vergangenen Jahre an. Die deutsche Wirtschaft sei “auf gesicherte Rohstoffzufuhr und sichere internationale Transportwege angewiesen”, heißt es im Weißbuch: “Die Sicherheit maritimer Versorgungswege und die Garantie der Freiheit der Hohen See sind für eine stark vom Seehandel abhängige Exportnation wie Deutschland von herausragender Bedeutung.” Hinzu komme, dass inzwischen auch “funktionierende Informations- und Kommunikationswege” unverzichtbar seien: “Deutschland muss sich daher für die ungehinderte Nutzung der Land-, Luft- und Seeverbindungen ebenso wie des Cyber-, Informations- und Weltraums einsetzen.” Als zentrale Bedrohungen werden daher nicht nur “zwischenstaatliche Konflikte”, “transnationaler Terrorismus” und “fragile Staatlichkeit” genannt, sondern auch die “Gefährdung … der Rohstoff- und Energieversorgung” sowie “Herausforderungen aus dem Cyber- und Informationsraum”. Originell ist der Gedanke, “weltweite Aufrüstung” im Weißbuch als Bedrohung aufzuführen: Die Bundesrepublik, drittgrößter Rüstungsexporteur der Welt [3], könnte die in der Tat brandgefährliche globale Hochrüstung mit dem Stopp ihrer Waffenausfuhren im Handumdrehen massiv verringern. Zu den Bedrohungen, denen Deutschland zur Zeit ausgesetzt sei, zählt das neue Weißbuch neben “Pandemien und Seuchen” auch “unkontrollierte und irreguläre Migration”.
Machtverschiebungen
Bei der Durchsetzung seiner weltweiten Interessen ist Deutschland dem Weißbuch zufolge mit weitreichenden Verschiebungen in den globalen Machtverhältnissen konfrontiert. “Perspektivisch” werde die Bundesrepublik ihre derzeitige “Stellung als weltweit viertgrößte Wirtschaftsmacht einbüßen”, heißt es: “Die Volkswirtschaften aufstrebender Mächte in Asien und Lateinamerika werden nach heutigem Ermessen in den kommenden Jahren das deutsche … Bruttoinlandsprodukt überholen.” Der Aufstieg vor allem Chinas, aber auch Indiens und auf lange Sicht auch Brasiliens habe Folgen: “Resultat des wirtschaftlich, politisch und militärisch weiter wachsenden Einflusses von Schlüsselstaaten vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika” seien “Multipolarität und geopolitische Machtverschiebungen”. Resümierend heißt es im Weißbuch: “Das internationale System entwickelt sich zu einer politisch, wirtschaftlich und militärisch multipolaren Ordnung.” Infolgedessen könnten sich “konkurrierende Ordnungsentwürfe für die Ausgestaltung internationaler Politik entwickeln”, heißt es weiter; das sei ein “Risiko”. Über die globalen Machtverhältnisse der Zukunft sagt das Weißbuch voraus: “Die USA werden die internationale Sicherheitspolitik auch in einer derart multipolaren Welt weiterhin prägen.”
Bündnis auf Gegenseitigkeit
Entsprechend folgert das Weißbuch: “Nur gemeinsam mit den USA kann sich Europa wirkungsvoll gegen die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts verteidigen”. “Bündnissolidarität” sei deshalb “Teil deutscher Staatsräson”. “Wahrnehmung deutscher Interessen” bedeute entsprechend “immer auch Berücksichtigung der Interessen unserer Verbündeten”; Berlin nehme “in Sicherheitsfragen bewusst gegenseitige Abhängigkeiten in Kauf”, nicht zuletzt die Abhängigkeit “von einer engen Sicherheitspartnerschaft mit den USA”. Allerdings müssten derlei “Interdependenzen” nun “im Interesse unserer Souveränität … grundsätzlich auf Gegenseitigkeit angelegt sein”. Vor allem Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat in jüngster Zeit mehrmals den gegenüber den Vereinigten Staaten gestiegenen Machtanspruch Berlins betont, zudem die Vorstellung von einer US-dominierten “unipolaren Welt” zur “Illusion” erklärt [4] und ausdrücklich dafür geworben, die EU zur “unabhängigen” globalen Macht zu formen [5]. Das Weißbuch bestätigt nun, die deutschen Aktivitäten im transatlantischen Bündnis beruhten “auf einer klaren nationalen Positionsbestimmung”. Die “transatlantische Sicherheitspartnerschaft” werde sich dabei “umso intensiver und fruchtbarer weiterentwickeln”, je stärker “unsere amerikanischen Partner den Weg gemeinsamer Entscheidungsfindung gehen”.
Strategische Rivalität
Erstmals seit 1990 erklärt das Weißbuch mit Russland einen Staat ausdrücklich zum “Rivalen”. Dabei räumt die Bundesregierung in dem Dokument ein, “die Krise in der und um die Ukraine” sei “konkreter Niederschlag einer langfristigen innen- und außenpolitischen Entwicklung”. Unerwähnt bleibt freilich – wie üblich – die treibende Rolle Berlins und Washingtons bei der Herbeiführung des Konflikts.[6] Über die russische Reaktion auf die westliche Aggression heißt es: “Russland wendet sich … von einer engen Partnerschaft mit dem Westen ab und betont strategische Rivalität. International präsentiert sich Russland als eigenständiges Gravitationszentrum mit globalem Anspruch.” Daraus folgert das Weißbuch: “Ohne eine grundlegende Kursänderung wird Russland … auf absehbare Zeit eine Herausforderung für die Sicherheit auf unserem Kontinent darstellen”. Die Absicht, kein “eigenständiges Gravitationszentrum” zu dulden, erklärt die neuen Aggressionen der NATO und die deutsche Beteiligung daran.[7] Dennoch heißt es weiter, die EU verbinde mit Russland “nach wie vor ein breites Spektrum gemeinsamer Interessen und Beziehungen”; es müsse deshalb in Zukunft wieder “eine belastbare Kooperation mit Russland” geben. Das Weißbuch schreibt die in jüngster Zeit von Berlin geforderte “Doppelstrategie” [8] gegenüber Moskau explizit fest: “Im Umgang mit Russland” überaus “wichtig” sei “die richtige Mischung aus kollektiver Verteidigung und Aufbau von Resilienz einerseits und Ansätzen kooperativer Sicherheit und sektoraler Zusammenarbeit andererseits”.
Innere Formierung
Weitreichende Aussagen enthält das neue Weißbuch auch zur inneren Formierung Deutschlands und der EU. german-foreign-policy.com berichtet am morgigen Freitag.