Überleben im Chaos – Flüchtlingslager Borj el Borajne, Libanon
DAS LEID HAT KEIN ENDE
Fotos: Pascal Mora / Text: Sara Sahli
Quelle: heks
Im palästinensischen Flüchtlingslager Borj el Borajne im Süden Beiruts leben die Menschen dichter zusammengedrängt als irgendwo sonst auf der Welt. Knapp 30 000 Flüchtlinge harren unter extrem prekären Bedingungen auf 1.5 km². Seit Ausbruch des Krieges haben hier Tausende aus Syrien kommende Palästinenser Schutz gesucht. Die lokale Organisation Najdeh versucht zusammen mit HEKS, die Lebensbedingungen der Menschen mit verschiedenen humanitären Hilfsprojekte zu verbessern. Seit 2016 bietet sie Flüchtlingen aus Syrien an, am Projekt «cash for work» teilzunehmen. Freiwillige reinigen die Strassen im Lager und erhalten dafür monatlich 50 Dollar.
«Manchmal träume ich davon, dass alles einfach einstürzt»
Der schmale Weg, auf dem Aïda Mustapha unterwegs ist, wird schwach von einer Glühbirne erhellt – Tag und Nacht. Mit ihrer Abfallzange greift Aïda nach Müll. «Wenn es regnet, verwandeln sich die Strassen in übelriechende Flüsse», erzählt die Palästinenserin. Im Lager Borj el Borajne, am südlichen Stadtrand von Beirut, ähneln die Gassen Tunnels. Strom- und Wasserleitungen haben sich zu einer Decke verflochten und lassen kaum noch Licht durch. «Oft sterben Menschen durch Stromschläge», erklärt Simon Salman, HEKS-Delegierter im Libanon. Seit dem Bau des Lagers in den 1950er-Jahren und der Aufnahme der ersten 1948 aus ihrer Heimat vertriebenen Palästinenser wächst die Bevölkerungszahl unaufhaltsam – auf einer seit jeher gerade einmal 1.5 km² grossen Fläche.
«Ich komme aus Jarmuk», sagt Aïda stolz. «Das kann man mit Borj el Borajne überhaupt nicht vergleichen. Jarmuk war ein Stadtteil von Damaskus. Mir wäre es lieber, ich wäre im Krieg gestorben, als hier zu landen. Die Häuser hier sind am Zerfallen und man teilt sich – eng zusammengepfercht – ein feuchtes Zimmer. Manchmal träume ich davon, dass alles einfach einstürzt.»
In diesem Lager, das nie erneuert wird, sind ganze Generationen gross geworden. «Anders als in Shatila, das im Zentrum von Beirut liegt, gelangt kein Baumaterial nach Borj el Borajne », erzählt Simon Salman. Die Palästinenser im Libanon verharren seit über sechzig Jahren in Wartestellung. Sie haben nicht die gleichen Perspektiven wie die Palästinenser in Syrien, die dort ein neues Leben beginnen und fast jeden Beruf ergreifen konnten. «Im Libanon ist die Liste der für Palästinenser verbotenen Berufe lang. Nur drei Bereiche stehen ihnen offen: die Landwirtschaft, das Bau- und das Reinigungsgewerbe. In Borj el Borajne kann ihnen im Rahmen des Projekts «cash for work» nur der letztgenannte Bereich angeboten werden», erklärt Simon Salman.
«Sie weint jeden Tag stundenlang»
«Bis unser Haus in Daraa (Syrien) fertig war, hat es fast drei Jahre gedauert. Dann konnten wir vier Monate darin leben, bevor es 2012 von einer Bombe zerstört wurde. Alles, was mir davon geblieben ist, sind Bilder. Eine Freundin hatte von allen Räumen ein Video gedreht. Damals habe ich gelacht und gesagt, dass sie mir das Video schicken soll; falls ich eines Tages mal verreise, will ich es dabei haben … Heute schaut meine Tochter es immer wieder an». Roua (9 Jahre) leidet an den psychischen Folgen des Krieges und des langen Exils. «Sie weint jeden Tag, stundenlang.»
Die ersten Monate im Lager Borj el Borajne waren für Noura schwer. «Mein Mann hatte in Syrien einen Polierbetrieb, er musste alles zurücklassen … Seit sein Bein von einer Kugel getroffen wurde, kann er nicht mehr arbeiten. Deshalb bin ich putzen und kochen gegangen. Ich arbeitete elf Stunden am Tag, weit weg von meinen Kindern. Ich war völlig erschöpft.» Seit einem Monat nimmt Noura teil an «cash for work» von Najdeh. «Jetzt verdiene ich mehr und arbeite nur zwei Stunden am Tag. Das hat unser Leben verändert.»
«Ich kann nicht zurück»
Mohammad Aoud (35 Jahre) schleppt einen grünen Abfalleimer auf die Strasse von Borj el Borajne. Er gehört zu den ganz wenigen Männern, die am Projekt «cash for work» teilnehmen. «Dass ich eine Ausnahme bin, stört mich nicht, auch nicht, dass ich mit Frauen arbeite. Meine Kolleginnen machen diese Arbeit, um ihren Männern zu helfen, das Lager zu verlassen. Ich aber habe niemanden hier und ich finde keine Arbeit. Als Najdeh diesen Job anbot, habe ich mich sofort gemeldet», erklärt der junge Mann. Seine Ex-Frau ist mit den Töchtern in Syrien geblieben. «Ich kann nicht zurück. Aber ich schicke ihnen das Geld, das ich verdiene.»
«Da wo wir lebten, gab es nur noch Gemetzel»
Auch die 38-jährige Sawjiya Mohammad Miejal nimmt am HEKS-Projekt teil. Sie hat den Reinigungsjob vor zwei Monaten angenommen. «Anfangs war es nicht leicht, aber ich freue mich, dass ich zum Überleben meiner Familie beitragen und die Strassen verschönern kann. Ausserdem hilft es mir, auf andere Gedanken zu kommen. Ich fühle mich weniger isoliert und habe im Team eine Freundin gefunden.» Auf dem Weg ins Exil vom Palästinenser-Lager von Sibani in Syrien ins Lager Borj el Borajne im Libanon musste Sawjiya immer wieder Traumatisches durchmachen. «Da wo wir lebten, gab es nur noch Gemetzel», sagt sie und streicht dabei über den Kopf ihres kleinen Sohnes. 2013 floh die Familie nach Sidon im Südlibanon. Aber die Gewalt und die Unsicherheit im Lager Ain al-Hilweh, das 2015 Schauplatz interner Kämpfe war, zwangen die Familie ein weiteres Mal zur Flucht. «Mein Mann fand eine Arbeit auf einer Baustelle in der Bekaa-Ebene. Weil er herzkrank wurde und die Arztkosten im Libanon nicht bezahlen konnte, ging er zurück nach Syrien.» Sawjiya floh mit ihren Kindern nach Borj el Borajne. Mittlerweile verflucht sie den Moment, als das Exil ihrer Familie seinen Anfang nahm: «Wäre mein Grossvater doch bloss in Palästina geblieben …»