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Urteil gegen Karadzic: Das Angesicht des Grauens

von Walter Mayr, Der Spiegel, 23. März 2016.

Gedenkstätte in Srebrenica mit den Namen der getöteten Menschen

REUTERS

Gedenkstätte in Srebrenica mit den Namen der getöteten Menschen

Radovan Karadzic hat
schreckliche Kriegsverbrechen zu verantworten – mitten in Europa. Kein
Strafmaß kann die Schuld aufwiegen, die er auf sich geladen hat.

Das Urteil gegen Radovan Karadzic kommt gerade noch zur rechten
Zeit – weil immer weniger von denen am Leben sind, die Söhne und Enkel
verloren in Srebrenica, und weil die Erinnerung nach und nach verblasst
an das, was damals geschah. In Bosnien und Herzegowina, mitten in
Europa.

40 Jahre Haft für Radovan Karadzic,
den Anführer der bosnischen Serben im Krieg von 1992 bis 1995. 40 Jahre
Haft, weil der Angeklagte für schuldig befunden wurde – des Völkermords
an den Muslimen von Srebrenica und der Verbrechen gegen die
Menschlichkeit bei Massakern in anderen Teilen der Republik.

Der Schuldspruch ist unverhältnismäßig. Weil kein Strafmaß, wie es
auch ausfallen mag, im Verhältnis stehen könnte zu dem, was sich zutrug –
ein jugoslawischer Erbfolgekrieg, der in Gemetzel mit an die 100.000
Toten mündete. Unverhältnismäßig ist das Urteil auch, weil es mehr als
sechs Jahre nach Prozessbeginn gefällt wird.

Das Verfahren vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal
für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag dauerte grob gerechnet acht
mal so lang wie der erste Nürnberger Prozess, bei dem immerhin gegen
Gallionsfiguren des Nazi-Terrors, gegen Göring, Hess, Streicher und 19
andere, verhandelt wurde. Auch die Urteilsbegründung gegen die braune
Elite damals fiel, zumindest dem Umfang nach, schlank aus gegenüber
jener, die nun auf fast 2000 Seiten den Schuldspruch in Sachen Karadzic
untermauert.

Schwierige Beweislage? Rund um Srebrenica wurden im Juli 1995 mehr
als 8000 muslimische Jungen und Männer ermordet – der Name der
ostbosnischen Kleinstadt steht seither für das größte Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
Und die Belagerung der im Kessel gelegenen Stadt Sarajewo währte länger
als jene der russischen Metropole Leningrad im Zweiten Weltkrieg.


Bomben auf das weltoffene Sarajewo

Karadzic, Präsident der Serbischen Demokratischen Partei und später
der serbischen Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina, war der Mann,
der die Weichen stellte. Wer ihn erlebte, in seinem Büro in Sarajewo
Anfang Januar 1992, der sah einen eben erst zum Politiker gewandelten
Psychiater und Hobby-Poeten, wirrer Haarschopf, theatralischer Auftritt,
eine bunt gesprenkelte Landkarte in der Hand, auf der die serbischen
Siedlungsgebiete in der Vielvölker-Republik Bosnien-Herzegowina blau
markiert waren. Die Teilrepubliken Kroatien und Slowenien
hatten sich vom serbisch dominierten Jugoslawien bereits abgespalten –
und Karadzic ließ wenig Zweifel daran, dass er die Absicht der Muslime
und katholischen Kroaten in Bosnien, sich nun ihrerseits zu
verabschieden vom Traum der “Brüderlichkeit und Einheit”, als
Kriegserklärung verstehe.

Die meisten Serben aus Sarajewo verstanden den Wink und setzten sich
ab, ehe am 6. April 1992 erste Bomben auf die Stadt fielen. Karadzic
selbst wich aus in die nahe Bergfeste Pale, von wo aus er verfolgte, wie
Sarajewo – die weltoffenste Stadt Jugoslawiens – nach und nach in Asche
und Schutt gelegt wurde.


Eine bittere Pointe


Weshalb der gebürtige Montegriner Karadzic nach Kriegsende noch
geschlagene 13 Jahre untertauchen konnte, ohne entdeckt zu werden, zählt
zu den Rätseln, die auch das Uno-Tribunal in Den Haag nicht zu lösen
vermochte; beziehungsweise nicht zu lösen versuchte. Aussagen der
ehemaligen Uno-Chefanklägerin Carla del Ponte und ihrer Sprecherin legen den Verdacht nahe, dass die Aufenthaltsorte des Mannes, der am Ende unter dem Pseudonym Dr. Dragan Dabic Neurosen und Erektionsstörungen behandelte, führenden Amerikanern und Franzosen, Russen und Briten durchaus bekannt war.

Dass Karadzic nun vor Richtern in den Niederlanden zur Rechenschaft
gezogen wurde, birgt eine bittere Pointe: Waren es doch niederländische Blauhelme,
die mit ihrem Abzug aus der Uno-Schutzzone Srebrenica das Massaker in
den umliegenden Wäldern erst ermöglichten; und die dafür später bei
ihrer Heimkehr in Anwesenheit des damaligen Kronprinzen Willem Alexander
auch noch bejubelt wurden.

Der Verurteilte hat bereits zu erkennen gegeben, dass er sich in der
Rolle eines der langen serbischen Leidensgeschichte würdigen Märtyrers
sieht. Für Bosnien und Herzegowina bedeutet das nichts Gutes – vor allem
nicht für die serbische Teilrepublik, in der die Karadzic-Tochter Sonja
inzwischen zur Vize-Präsidentin aufgestiegen ist. In Pale oberhalb von
Sarajewo, wo einst ihr Vater herrschte, hat sie am Montag an den
Eröffnungsfeierlichkeiten für ein Studentenheim teilgenommen. Benannt
ist es nach Radovan Karadzic.