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Der unerklärte Krieg Europas gegen den Islam


Von James Renton, Middle
East Monitor
, 8. März 2016, deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik
e.V.
Der Waffenstillstand in Syrien hat den Krieg nicht beendet.
Er hat den aktuellen Krieg der EU-Mitgliedstaaten nur in Richtung des Islamischen
Staates (IS) in Syrien gelenkt. Die französische, britische und niederländische
Luftwaffe haben ihre Mission nicht beendet. Sie bemühen sich weiterhin darum,
Mitglieder der Gruppe zu töten und ihre Ressourcen und militärische
Infrastruktur zu zerstören. Auf ersten Blick erscheint der Krieg gegen den IS
ein Sonderfall, der sich von den restlichen Gegebenheiten in Syrien und somit
auch im weiteren Nahen Osten unterscheidet. Ist denn der Konflikt gegen den IS
der einzige oder der wichtigste der europäischen Kriege in der Region, denen
man nicht Einhalt gebieten kann?
Als François
Hollande nach den Anschlägen von Paris im November 2015 vor dem französischen
Parlament in Versailles stand und meinte: „Frankreich ist mitten im Krieg“, welchen Feind meinte
er da? Mit wem ist denn Frankreich genau im Krieg? Hollande sagte uns das nicht
direkt; denn den Feind braucht man nicht direkt zu erklären. Aber dann
erörterte Hollande diesen Feind und bezeichnete ihn als den „jihadistischen
Terrorismus“, der die „gesamte Welt“ bedroht.
Hollandes Anschauung zufolge sind der Islamische Staat
und der Konflikt in Syrien somit Teil eines weiter ausgelegten Weltkrieges.
Aber Hollande ist nicht alleine. Hollande und Frankreich gehören zu einem
Consensus von EU-Staaten, die diesen Krieg gemeinsam führen möchten. Sie
kämpfen aber keinen „Krieg gegen den Terror“, einen Konflikt gegen den
terroristischen Feind. Europa kämpft seinen Krieg, um dem Terrorismus
vorzubeugen; es geht somit um einen Kampf gegen den Terrorismus als Ideologie und
Praxis, bevor er sich überhaupt offenbart. Diese Form der Kriegsführung
erfordert, gemäß der offiziellen europäischen Politik, die Überwachung aller
potentieller Terroristen in der Bevölkerung, aus der sie stammen, und zwar der
muslimischen Weltgemeinschaft, der Ummah. Dieses Überwachungsgebot lässt
sich auf die Anschauung zurückführen, nach der der Islam selbst eine inhärente
Bedingung imminenten Fanatismus unter seinen Anhängern schafft. Diese
Anschauung vertritt man im europäischen politischen Denken seit Jahrhunderten.
Im aktuellen globalen, politischen Kontext hat diese Idee zum sogenannten
europäischen „Krieg gegen den Islam“ geführt.
Dieser Krieg wurde nicht erklärt; er bleibt verborgen,
unausgesprochen. Aber wenn wir hinsehen, finden wir die öffentliche Gliederung
dieser Kampagne in der derzeitigen Sicherheitsstrategie und in den politischen
Richtlinien der gesamten EU. Man fokussiert auf den Kampf gegen die „Radikalisierung“.
Dieser Kampf wird als ein Kampf gegen den „extremistischen“ Islam präsentiert. Wenn
wir uns aber eingehend mit den Modalitäten, nach denen das Projekt der
Extremismusbekämpfung umgesetzt wird, und mit seinem globalen Apparat befassen,
stellen wir fest, dass sich hinter der Maske der Extremismusbekämpfung ein
existentieller Kampf gegen den Islam an sich wiederfindet. Der Nahe Osten wird
neben anderen Regionen mit muslimischen Bevölkerungen in Afrika und
Südosteuropa zu einem wichtigen Schauplatz dieses Krieges. Es handelt sich um
einen Konflikt, der sich ausweiten wird, bis er rund um den Planeten alle
Regionen erreichen wird, in denen Muslime leben.
ISIS: Was
steckt in einem Namen?
Wie in anderen Phasen des historischen Konflikts des
christlichen Europas mit dem Islam, hat Frankreich in den letzten Jahren eine
führende Position eingenommen. In diesem letzten Kapitel wurde, wie bei den
Kolonialkriegen des 20. Jahrhunderts, der Benennung oder des Verzichtes auf die
Benennung des Feindes wesentliche Bedeutung beigemessen. Während des
französischen Kolonialkrieges in Algerien in den 1950ern und 1960ern weigerte
sich der imperialistische Staat, wie auch die Briten in Palästina in den
1930ern, zuzugeben, dass sie eine politische Bewegung bekämpften, ganz zu schweigen
einen komplexen Nationalismus. Anstatt dessen wurde der Feind als Terrorist,
Bandit und Krimineller eingestuft. Die Regierung Hollande hat die europäische
Bewegung angeführt, die sich der direkten Benennung des sichtbarsten
muslimischen Feinds unserer Zeit als „Islamischen Staat“ widersetzt.
In Großbritannien
hat David Cameron persönlichen Druck auf den öffentlich finanzierten nationalen
Rundfunksender BBC ausgeübt, damit dieser nicht den Begriff „Islamischer Staat“
mit dem „sogenannten“ Attribut verwendete. Er äußerte diese
These im Januar live auf Sendung gegenüber der BBC-Journalistin Sarah Montague.
Selbst eine Bezugnahme auf den „Islamischen Staat“ mit einem hinzugefügten
Attribut wäre unzureichend. Wie die französische Regierung, verwenden auch die
Tories und deren Anhänger in der Labour Party anstatt dessen lieber den Begriff
„Daesh“. Warum?
Daesh ist
die Abkürzung der arabischen Bezeichnung des islamischen Staates vor der
Ausrufung des Kalifats: Al-Dawla al-Islamiya fil Iraq wa al-Sham. Der
ehemalige, französische Außenminister Laurent Fabius rief im September 2014 zur europaweiten
Verwendung dieses Begriffes auf. Daesh ist der bevorzugste Begriff für die politische
Elite der EU, da die Aussprache des Wortes „Islamisch“ entfällt.
Persönlichkeiten wie Cameron behaupten, dass die Verwendung des Begriffs Daesh
wesentlich ist, da der islamische Staat keinerlei Bezug zum wahren Islam hat;
es wäre somit ungerecht und irreführend, behaupten sie, diesen Staat als islamische
Entität zu etikettieren. Es ist aber extrem ungewöhnlich für einen britischen
Premierminister, öffentlich auf Sendung vorzuschreiben, welche Terminologie die
BBC-Journalisten zu verwenden haben. Es wäre äußerst schwierig, andere
Beispiele Camerons oder seiner Kollegen zu finden, die so gegen das Protokoll
verstoßen, um die Ehre des Islam zu verteidigen. Es ist wohl eher
wahrscheinlich, dass die Feindseligkeit der Politiker gegenüber der Bezeichnung
„Islamischer Staat“ damit zu tun hat, wie sehr diese ihre eigenen politischen Interessen
betrifft; in diesem Falle geht es somit um die Notwendigkeit für die
europäischen Staaten, nicht im Konflikt mit dem Islam an sich zu erscheinen.
Die Religion des Islam und alle islamischen Angelegenheiten können nicht als
Feind etikettiert werden.
Dieser Impuls unter den europäischen Staaten geht
sogar bis auf den Ersten Weltkrieg zurück. Das französische und das britische
Reich, die von einer imaginären Angst vor dem Islam und seinem revolutionären,
fanatischen Potential ergriffen waren, taten alles in ihrer Macht stehende, um
zu sich als Freunde des Islam zu zeigen, als sie das osmanische Kalifat und
seinen Aufruf zum Jihad bekämpften. Seit der Finanzierung der arabischen
Revolte gegen die Osmanen bis zum Respekt vor den heiligen Stätten des Islam in
Jerusalem: die Entente Cordiale strebt bis heute ein Bild der innigen
Freundschaft mit dem Islam an. Dieses Projekt einer Freundschaft war aber von
Problemen und konzeptuellen Inkonsistenzen gekennzeichnet. Nicht nur war das
letzte Kalifat der Feind der Entente, die es zerstörte, aber das gesamte Konstrukt
der Umarmung des Islam durch die europäischen Reiche war auch auf eine
existentielle Angst vor dem Islam als einem globalen Feind auf der Lauer
zurückzuführen.
Verweigerung,
den Feind beim Namen zu nennen
Die
Tatsache, dass die französische und britische Regierung so sehr auf die
Bezeichnung Daesh beharren, ist nur eine der Erscheinungsformen eines
systematischen Versuchs, die Verwendung von Worten wie Islam und Muslim in der
Artikulation des Feindes zu vermeiden. Die Europäische Sicherheitsagenda, die im April 2015
veröffentlicht wurde, ist ein aufschlussreiches Beispiel. Das Dokument legt den
EU-Sicherheitsrahmen bis 2020 fest. Es führt den „Terrorismus“ als europäische Priorität
neben der „organisierten Kriminalität“ und der „Cyberkriminalität“ an. Diese
letzteren gelten als Bedrohungen, die der europäische Sicherheitsapparat oft
mit dem Terrorismus verbindet. Bezugnehmend auf den Kampf gegen den
Terrorismus fokussiert die Agenda auf die Prävention der „Radikalisierung“ und
auf das Anhalten der Entwicklung des „Extremismus“. Nichtsdestotrotz verrät das
Dokument dem Leser nichts über die Form des Extremismus, der es gerne vorbeugen
möchte; es führt auch nicht an, wer radikalisiert werden könnte und zu welchem
Zwecke, und sagt auch nichts über die Bedeutung des Begriffs „radikal“. Das
Wort Islam oder islamisch kommt in den 21 Seiten des Berichtes gar nicht vor. An
einer einzigen Stelle kommt das Wort „Muslimisch“ vor. Hier wird eine Methode zwecks
Konfliktbewältigung und Einrichtung einer „runden Tafel wichtiger
Persönlichkeiten aus Europa und der muslimischen Welt zwecks Förderung des
intellektuellen Austauschs und des ausgedehnteren Dialog zwischen Gesellschaften“
vorgeschlagen. Die europäische Sicherheitsagenda verrät uns nicht, warum es
einen Dialog braucht oder was dies mit der „muslimischen Welt“ zu tun hat. Die
Einführung ins Dokument teilt uns indirekt mit, dass die „Instabilität“ in der „direkten
EU-Nachbarschaft“ heute die Ursache „zahlreicher Sicherheitsprobleme“ ist. Aber
weder der Begriff „Nachbarschaft“ noch die Probleme werden angeführt.
Der Feind
Die Zurückhaltung, den muslimischen Feind offen
benennen, ist auf die Art und das Ausmaß der Islamophobie (Angst vor dem Islam)
unter den europäischen Entscheidungsträgern zurückzuführen. Sprächen die EU und
ihre Mitgliedstaaten ihren Krieg gegen den Islam und die Muslime wirklich aus, dann
würde das politische Establishment meiner Meinung nach die Materialisierung des
letzten Ergebnisses erwarten, dem sie durch ihren Kampf vorbeugen möchte: und zwar
die kollektive Erfüllung unter den Muslimen ihrer wahrgenommenen inneren
Neigung zum „Extremismus“ , d.h. zum Einwand gegen die westliche, liberale
säkulare Demokratie und die Interessen ihrer Regierungen. Das EU-Präventionsprojekt
ist erforderlich, weil dieses den politischen Entscheidungsträgern zufolge befürchtete
Ergebnis der muslimischen Selbstverwirklichung immer imminent ist. Jeder
einzelne Muslim besitzt ihrer Meinung nach das Potential, ein Fanatiker zu
werden. Dieser imminente Fanatismus führt zu einer zweifachen Handlung: wir
müssen einen Krieg gegen einen Feind führen, der aber nicht als Antagonist
vorgeführt werden darf, indem man ihn identifiziert. Oft versuchen europäische
Regierungen dieses Problem zu lösen, indem sie die muslimische Ummah in „moderate“
und „extremistische Muslime“ aufspalten. Diese Zweiteilung erfolgt im Rahmen
einer Weltanschauung, in der nur eine Minderheit von „Extremisten“ das Problem
darstellt. David Cameron, der derzeitige französische Außenminister Jean-Marc
Ayrault, der EU-Antiterrorkoordinator Gilles de Kerchove und seine Kollegen
werden dies zwar niemals zugeben, aber für sie ist der Islam selbst, mit seiner
Tendenz zum Fanatismus, wie sie ihn sehen, das zugrunde liegende Problem.
Der
EU-Apparat und der seiner Mitgliedstaaten für die Bekämpfung des Terrorismus,
der 2015 dramatisch ausgeweitet wurde, geht von der
maßgeblichen Voraussetzung aus, dass alle Muslime in der Bevölkerung überwacht
werden müssen und man sich keine Unterscheidung leisten kann. Somit gibt es:
die Europol-Einheit Internet Referral Unit für die Bekämpfung des
Online-Extremismus; das Netzwerk Radicalisation Awareness Network (RAN), das
mehr als tausend Fachleute miteinander vernetzt; das Zentrum RAN Centre of
Excellence; die vorgeschlagene Richtlinie Passenger Name Record (Fluggastdatensatz) zwecks
Teilung der Daten über Fluggäste; die Bemühung um den Austausch von
Geheimdienstinformationen und Daten; und eine Reihe von Überwachungsgesetzen,
die die Mitgliedstaaten erlassen haben und gerade verschärfen. Es handelt sich
hierbei um eine Infrastruktur, die entworfen wurde, um die Kommunikationen und
die Bewegung der gesamten Bevölkerung zu überwachen. Somit ist jeder Muslim ein
nicht beim Namen genanntes Ziel.
Der Vorbeugungsimperativ
wird durch andere staatliche Werkzeuge gefördert, die mit der Überwachung
einhergehen: Propaganda, Sicherheitsverwahrung und Tötung. Was die Sicherheitsverwahrung
angeht, so ist das selbstverständlichste und berüchtigste Beispiel der
Verhaftung von Muslimen als Vorbeugungsmaßnahme das von Guantanamo Bay, das
lange Zeit im gesamten politischen Spektrum auf dieser Seite des Atlantiks
kritisiert wurde. Trotzdem bemerken wir heute in Europa die Ausdehnung der Sicherheitsverwahrung.
Als die französische Regierung im November 2015 den bis jetzt anhaltenden Notstand
ausrief, änderte sie das Gesetz so, dass Personen unter Hausarrest gestellt
werden können, falls „ernstzunehmende Gründe
vorliegen, die zur Annahme verleiten, dass deren Verhalten eine Bedrohung für
die Sicherheit und öffentliche Ordnung darstellt
”. Zwischen 14. November 2015 und 3. Februar 2016 stellten
die französischen Behörden 407 Menschen unter Hausarrest. Der staatliche
Vorbeugungswunsch bedeutete auch, dass im Notstand das Gerichtsverfahren für
die Durchsuchung von Räumlichkeiten aufgehoben wird: ein Richter wird nun darüber in Kenntnis gesetzt, dass eine
Durchsuchung erfolgt
und wird nicht wie in der Vergangenheit auf der
Grundlage des Nachweises bereits ausgeführter Handlungen um die Genehmigung
derselben gebeten.
Verlegung
des europäischen Krieges in die muslimischen Länder
Die IS-Angriffe in Paris im November 2015 hoben
offensichtlich die politischen Grenzen zwischen Europa und dem Nahen Osten auf,
in dem eine Region hermetisch von der anderen getrennt war. Der europäische
Krieg in Syrien war nach Hause gekommen; das Albtraumszenario, vor dem die
europäischen, politischen Entscheider bezüglich der europäischen IS-Rekruten
gewarnt hatten, war wahr geworden.
Aber die europäische politische Elite hatte schon
lange den Begriff über Bord geworfen, dass es eine politische Trennlinie
zwischen dem Nahen Osten und Europa gäbe. Seit Anfang 2015 hatten die
europäischen Politiker bereits eine Politik vereinbart, um den Krieg gegen den
Islam auf den Nahen Osten auszuweiten. Dies sollte in Zusammenarbeit mit den
Regierungseliten der europäischen Verbündeten in der Region und mit anderen
Regionen mit bedeutenden muslimischen Bevölkerungen außerhalb der EU erfolgen.
Nach den
Angriffen in Paris im Januar 2015, kündeten der Europarat und die EU-Staats- und Regierungschefs ihre
Strategie zwecks Verstärkung der „Aktion gegen die terroristischen Bedrohungen“
an. Dieser Plan schloss auch einen Fokus auf die Arbeit mit „internationalen
Partnern“ der Regionen mit muslimischer Mehrheit und jenen mit hohem
muslimischen Anteil in Westasien, Afrika und Südosteuropa ein. Die Begriffe
Islamisch und Muslim/Muslimisch kamen in dieser Erklärung gar nicht vor. Anstatt
dessen verwendete der Rat das geopolitische Stichwort für diese Regionen, in
denen die muslimische Präsenz außer Sichtweise ist, aber von allen verstanden
wird: der Nahe Osten und Nordafrika, die Sahelzone (der Landgürtel südlich der
Sahara) und der Westbalkan.
Wie de Kerchove gegen Ende 2015 dem EU-Rat berichtete, hat
die EU seitdem Antiterror-„Experten“ in eine Reihe von Staaten, inklusive
Marokko, Irak und Saudi Arabien, entsendet. Weitere Entsendungen sind nach
Algerien und Ägypten geplant. €9 Millionen Euro wurden für die Prävention der „Radikalisierung“
in Jordanien bereitgestellt, €2,5 Millionen im Libanon, €5 Millionen im Maghreb
und €1,675 Millionen in der Sahelzone. Der höchste Betrag von €23 Millionen
ging an Tunesien für die „Reform des Sicherheitssektors“. Denn hier hatte die
erste Revolution des Arabischen Frühlings stattgefunden. Außerdem ist Tunesien
das Nachbarland des vom Konflikt heimgesuchten Libyen, das vom Islamischen
Staat infiltriert ist.
De Kerchove betonte gegenüber dem Rat die Bedeutung
der Bereitstellung weiterer Ressourcen und der Einführung von „umfassender CT [Antiterror]-Supportpakete“
wie die an Tunesien. Aktionspläne sind mit Jordanien, Libanon und Tunesien noch
in Vorbereitung oder schon vereinbart. De Kerchove empfiehlt den Austausch
zwischen RAN, der Region des Nahen Ostens und Nordafrikas, dem Westbalkan und
der Türkei. Die Planung für die Intensivierung der Vollstreckung des EU-Gesetzes,
die Kooperation im Bereich des Justizwesens und der Ausbildung der
polizeilichen Streitkräfte mit Regierungen in diesen Regionen im
Antiterrorbereich wurde von de Kerchove bereits für den ständigen EU-Ausschuss
für die Innere Sicherheit ausgearbeitet.
Die europäische Präventionsagenda wurde somit in die
muslimischen Länder verlegt. Diese Ausweitung war eine unvermeidbare Konsequenz
der Anschauung, die dem Krieg gegen den Islam zugrunde liegt; alle Muslime
müssen überwacht und davon abgehalten werden, ihr innerstes Selbst zu
realisieren. Denn jeder einzelne Muslim ist eine potentielle Zeitbombe.
‘Bekämpfung
des gewalttätigen Extremismus’
Die intensive
Besorgnis der europäischen politischen Elite und deren Kollegen im globalen
Westen um diesen Begriff hat zur Erfindung einer neuen politischen Disziplin im
Bereich der Waffensysteme geführt. Sie nennt sich “Countering violent
extremism” (CVE, Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus, wie sie von der
Elite der Sicherheitspolitik genannt wird) und geht nun in den politischen
Dokumenten und Initiativen der EU einher mit dem „Antiterror“. Die CVE ist der
Abzug des Vorbeugungsimperativs; sie liegt einen Schritt jenseits der
Handlungen zwecks Vorbeugung des Terrorismus und ist anstatt dessen das Projekt
zwecks Vorbeugung eines psychologischen Zustandes — des Denkenszustandes des
potentiellen Terroristen  — der als die
aktuelle Definition eines „Extremisten“ gilt. Dieser imaginierte Prozess der
kognitiven Transition ist das neue Ziel. „Die EU ist mobilisiert, sich mit dem
zugrunde liegenden Faktoren der Radikalisierung zu befassen“, erklärte Federica
Mogherini, die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, beim
Gipfeltreffen im Weißen Haus über die CVE, am 19. Februar 2015.
Persönlichkeiten wie die Mogherini gehen davon aus,
dass eine kognitive Revolution vor sich geht, die sich wie eine
unkontrollierbare tödliche Krankheit verbreitet und die muslimische Ummah
verwüstet; „diese metastasierte terroristische Bedrohung“, wie sie diese in
Washington DC beschrieb. Wie die meisten metastasierten Tumorerkrankungen
unheilbar sind, so befürchtet man die massenhafte Hinwendung der Muslime zum
Fanatismus als eine vollendete Tatsache, die bekämpft werden muss. Erfolg ist
unwahrscheinlich. Die Überlebenschancen sind gering. Der Krieg ist unvermeidbar
und wird nur noch auswegloser werden.
Die Wortwahl
der Mogherini verrät viel über die Konzeption des europäischen politischen
Establishments bezüglich des Krieges gegen den Islam. Jener Krieg ist durch das
Jahrhunderte andauernde islamfeindliche Denken in Europa geprägt. Der
europäische Krieg gegen den Islam unterscheidet sich somit von ähnlichen und
damit zusammenhängenden Unternehmungen an anderen Orten. Über die
Veröffentlichung seines „Aktionsplans zwecks Vorbeugung des gewaltsamen Extremismus
im Januar 2016 äußerte sich UN-Generalsekretär Ban Ki-moon wie folgt: „Wir …
kennen die kritischen Elemente des Erfolgs: verantwortungsbewusste
Regierungsführung; Rechtsstaatlichkeit; politische Teilnahme; qualitative
Erziehung und ordentliche Jobs; vollständige Einhaltung der Menschenrechte.“
Diese ist aber nicht die Antwort in den Fluren der europäischen Staatschefs. Hier
lautet die Antwort Krieg, aber erwarten Sie nicht, dass dieser bald angekündigt
wird.
James
Renton ist Dozent für Geschichte an der Edge Hill University. Seine Forschung
fokussiert auf Rassismus, im Besonderen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit; Weltreiche;
und die Genealogie der globalen Politik. Mit Ben Gidley, ist er Mitherausgeber des
Werkes Anti-Semitism and Islamophobia: A Shared Story? (Palgrave Macmillan,
bevorstehende Veröffentlichung).