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Ein guter Grund zu bleiben – Menschen für Menschen in Äthiopien


von Joachim Umbach, Ein guter Grund zu bleiben,  Die Hilfsorganisation Menschen für Menschen verbessert die
Lebensbedingungen für zahlreiche Äthiopier.
ADDIS ABEBA. Peter Renner neigt nicht zum dramatischen Auftritt.
Er ist ein nüchterner Managertyp. „Die Menschen brauchen eine Perspektive“, so
definiert der neue Vorstand bei der Hilfsorganisation Menschen für Menschen
(MfM), was ihn antreibt. Der Münchner sieht sich da in der Tradition von
Schauspieler Karlheinz Böhm (1928-2014), dem MfM-Gründervater, dessen Ziel es
war, „die Bevölkerung im ländlichen Äthiopien zu befähigen, ihre
Lebenssituation aus eigener Kraft zu verbessern.“ Dafür hat Böhm seine ganze
Kraft eingesetzt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingssituation in
Europa sind mittlerweile auch EU- und UN-Einrichtungen auf das MfM-Modell
aufmerksam geworden. Peter Renner bestätigt: „Man hat uns gesagt, dass wir
vieles richtig machen.“ Ein Modell, um den Flüchtlingsstrom im Ansatz zu
stoppen? In Äthiopien gelingt das immer öfter.
Muhiye Hussein ist das, was man im Schwabenland ein Clevere nennt.
Man sieht es schon seinen verschmitzt blinzelnden Augen an. Sein Alter schätzt
er selbst auf 60. Seine überwiegende Lebenszeit hat der Bauer aus Mekane Selam,
gut 300 Kilometer nördlich von Addis, am Existenzminimum gelebt: „Meist hat es
noch nicht mal für die eigene Familie gereicht.“ Die übliche einseitige
Bewirtschaftung der Felder mit Weizen oder Hirse war zu anfällig für
Witterungseinflüsse. Blieb die zweite Regenzeit aus, war die gesamte Ernte
vernichtet. Erst die landwirtschaftlichen Berater von Menschen für Menschen brachten ihm bei, seine Flächen mit
unterschiedlichen Produkten und zum Teil kürzeren Wachstumsphasen zu bepflanzen
– zu Weizen und Hirse kamen Kartoffeln und Möhren sowie andere Gemüsesorten.
Seitdem geht es Muhiye Hussein besser. Er produziert regelmäßig weit über den
Eigenbedarf hinaus, erzielt bescheidene, aber regelmäßige Erlöse auf dem Markt
und muss in Notsituationen nicht mehr das Saatgut antasten. Muhiye Hussein ist
jetzt MfM-Modellfarmer. Das ganze Dorf kommt zu ihm, um zu schauen, wie man
auch unter widrigen Umständen erfolgreich sein kann. Sein größtes Glück ist
aber, dass er seinen mittlerweile 32-jährigen Sohn, der sich als Hilfsarbeiter
in Saudi-Arabien verkauft hatte und dort gequält und ausgebeutet wurde, wieder
zurückholen konnte. „Ich lebe mittlerweile besser und kann ihm eine Zukunft
bieten“, erzählt er stolz und rückt seinen kunstvoll gebundenen Turban zurecht.
Und er zeigt auf ein zweites Haus, dass er für seinen mittlerweile
heimgekehrten Sohn, dessen junge Frau und ein kleines Kind gebaut hat.
Auch Aberash, zwischen 40 und 50 Jahre alt, ist jetzt mit ihrer
Welt in Meragna, gleichfalls in der Region Amhara, zufrieden. Seit ein paar
Jahren nimmt sie am von Böhms Äthiopienhilfe initiierten Kreditprogramm für
Frauen teil. Erst mit einem kleinen Betrag von 1.000 Birr, was 43 Euro
entspricht, später nahm sie dann mehr – 10.000 Birr, also 430 Euro. Anfangs
kaufte sie sich nur Zutaten, die sie zum Backen von kleinen Broten brauchte,
die sie aus dem bescheidenen Haus heraus auf der Straße verkaufte. Später kamen
andere Lebensmittel hinzu, mittlerweile betreibt sie einen kleinen Handel. Ihre
neueste Geschäftsidee ist ein Billardtisch, der direkt von der Strasse genutzt
werden kann. Gegen eine kleine Gebühr kann der Tisch angemietet werden.
MfM-Schirmherrin Almaz Böhm, die Aberash schon lange kennt und immer wieder mal
besucht, hat die tapfere Frau aus Meragna[1] gefragt, was denn jetzt
das Wichtigste in ihrem neuen Leben sei. Die Antwort überraschte selbst Almaz:
„Frieden!“ Aberash meint damit nicht die große Politik, sondern den häuslichen
Frieden. Früher habe es immer Streit um kleinste Beträge und Ausgaben mit Ihrem
Mann gegeben. Seit dem sie im Kreditprogramm ist, passiert das immer weniger:
Die Frau verfügt über eigenes Geld. Und sorgt damit für einen bescheidenen
Wohlstand der gesamten Familie.
Zu den „Sparweibern“ von Meragna gehört auch Mesaw Lahew. Sie ist
mittlerweile schon für einen Kredit in Höhe von 30.000 Birr, also fast 1.300
Euro, gut. Wer ihr Geschäft an der Hauptstrasse besucht, versteht das sofort.
Es ist vollgestopft mit vielerlei Nützlichem, aber auch mit kleinen Dingen, die
der Mensch nicht unbedingt braucht. Das reicht von Lebensmitteln, Getränken bis
zu Kosmetikartikeln und Spielsachen. Dass die Nachfrage stimmt, beweisen die
Warteschlangen vor Mesaws Kiosk. Anfangs ist sie von ihrem Mann ausgelacht
worden. „Das schaffst du nie“, wurde sie verspottet. Mittlerweile hat sich die
private Stimmungslage geändert: „Er hat es ganz gerne, wenn ich ihm mal einen
Tee ausgebe.“ Und mit strahlenden Augen fügt sie hinzu: „Welcher Mann hat nicht
gern eine reiche Frau …“ Mittlerweile wollen die Männer sich mit dieser
Nebenrolle nicht mehr zufrieden geben und auch Mitglied im Meragna-Sparklub
werden. Doch die Damen sind eisern. Almaz Böhm formuliert es vor: „Frauen sind
verantwortungsvoller und deshalb kreditwürdiger.“ Basta!


Die 21-Jährige Likye Getu aus Borena ist über einen leidvollen
Umweg zu Menschen für Menschen gekommen. Nach Abschluss der 9. Klasse war sie
perspektivlos – keine Arbeit, keine Ausbildungsmöglichkeit, kein Geld, keine
Zukunft. Über Freundinnen hat sie von einer äthiopischen Agentur gehört, die
Hausmädchen nach Saudi-Arabien vermittelt. 12.000 Birr, das sind über 500 Euro,
musste sie für diese Vermittlung auf den Tisch der Agentur legen, die gleiche
Summe sollten sie von Ihrem Verdienst abstottern. Vor Ort zeigte sich sehr
schnell, dass sie getäuscht worden war. Sie wurde als Sklavin gehalten, die 22
Stunden am Tag arbeiten musste – Wäsche waschen, putzen usw. – immer nur von
muslimischen Gebeten unterbrochen. Nach einem Jahr hatte Likye das Agenturgeld
abbezahlt. Drei Monate später war der Entschluss gereift, sich zu befreien und
nach Äthiopien zurückzugehen. Menschen
für Menschen
fing sie auf, bildete sie zur Schneiderin aus und gab ihr einen
Kleinkredit. Heute hat Likye ein gut gehendes Nähstudio, dass sie zusammen mit
einer Freundin betreut. „Heute denke ich nicht mehr daran wegzugehen“, erklärt
sie stolz. Im Freundes- und Verwandtenkreis macht sie sogar Werbung dafür, dass
alle im Land bleiben sollen: „Geld kann man auch hier verdienen, ich bringe es
heute auf 4.000 Birr im Monat.“
Menschen für Menschen zeigt auf, dass es
möglich ist, auch in den Armutsregionen Afrikas Bedingungen zu schaffen, die es
den Menschen ermöglichen, in ihrer Heimat zu bleiben. Um dies noch in Zukunft
leisten zu können, muss sich die Hilfsorganisation anpassen. Als Karlheinz Böhm
in Äthiopien vor über 30 Jahren anfing, lebten in diesem Land 30 Millionen
Menschen, heute sind es nahezu 100 Millionen. Peter Renner bringt es auf den
Punkt: „Die Menschen haben heute andere Bedürfnisse.“ Und es gibt andere
Notwendigkeiten. Natürlich braucht das Land weiterhin in bestimmten Regionen
noch Straßen, Brücken, Wasserstellen, Schulen, Landwirtschafts- und
Gesundheitsprogramme. Aber mittlerweile werden Maßnahmen, die jungen Menschen
eine berufliche Bildung und eine Chance auf Existenzgründung ermöglichen, immer
wichtiger. Dazu Peter Renner: „Aus Entwicklungshilfe wird ein Förderprogramm.“
Die Hilfsorganisation stellt sich um. Zum Beispiel, in dem sie Technische
Zentren aufbaut, in denen ganz praktische, handwerkliche Fähigkeiten vermittelt
werden. Dazu Peter Renner: „Das wird im Land benötigt, das gibt den jungen
Menschen eine Chance auf Arbeit.“ Und er wiederholt noch einmal: „Die Menschen
brauchen eine Perspektive.“


[1]
Aberash ist in Tegora, nahe Meragna, der Hausptstadt des Distrikts Mida.