Prof. Dr. Rudolf Bauer: WIR BEFINDEN UNS MITTEN IM KRIEG, Militarisierung im digitalen Zeitalter
Zum Titelbild:
Denkmal in den Bremer Wallanlagen hinter der Kunsthalle. Die im Foto
festgehaltene anonyme Protest-Aufschrift wurde umgehend entfernt.
Erste Ausgabe:
http://www.bremerfriedensforum.de/pdf/Militarisierung-im-Digitalen-Zeitalter.pdf
Inhalt | Überschriften
WIR BEFINDEN UNS MITTEN IM KRIEG
Militarisierung im Digitalen Zeitalter
Einleitung |
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Die Venusberg-Gruppe |
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Militärische Leitlinien für die europäische „Sicherheitspolitik“ |
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Der Grundsatz umfassender militärischer „Sicherheit“ |
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Bedrohungsszenarien der Venusberg-Gruppe |
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„Fortschritte“ bei der Militarisierung |
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Militärische Leitlinien „sicherheitspolitischer Strategieplanung“ |
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„Verteidigungsplan“ für die Streitkräfte |
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„Solidarität mit unseren Soldaten“ |
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Exkurs: Die USA als erschreckendes Vorbild |
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Militarisierungsagentur Bertelsmann-Stiftung |
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Die Stiftung und der Konzern |
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Stiftungszweck „Umgestaltung aller Lebensbereiche“ |
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Verbindungen von Militär und Wirtschaft |
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Der Bertelsmann-Unternehmenskomplex |
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Bertelsmann und die Militarisierung der Wissenschaft |
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Bertelsmann und die Militarisierung der Politik |
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Unser angeblicher Frieden |
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Der zivil-militärische Kampf-Raum |
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Liste der verwendeten und weiterführenden Literatur |
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In seinem 2007 veröffentlichten Buch „Flat Earth News“ (2007; deutsch etwa: Einheitsbrei-Nachrichten)
schreibt der Londoner „Guardian“-Mitarbeiter Nick Davies, dass die
Kommerzialisierung der Medien ihre Funktionsweise grundlegend verändert
hat. Immer weniger Journalisten müssen in immer kürzerer Zeit immer mehr
News produzieren. Das geht zu Lasten gründlicher Recherchen und einer
sorgfältigen Prüfung der Nachrichten.
Interessegeleiteten Public-Relations-Agenturen, Stiftungen und
Denkfabriken gelingt es immer leichter, ihre tendenziösen Informationen
in den Nachrichtenkreislauf einzuschleusen und dadurch eine unabhängige
und objektive Berichterstattung zu verhindern. Konrad Hummler, der
Verwaltungsratpräsident der „Neuen Zürcher Zeitung“, leugnet nicht, dass
„80 Prozent der Informationen, die uns erreichen, in speziellen
Interessenkonstellationen entstanden sind. Letztlich stecken immer
Machtfragen dahinter.“
Infolge dieser Entwicklung ist die Militarisierung der Medien
generell sowie die der Nachrichten und Kommentare im Besonderen zu einer
Selbstverständlichkeit geworden. Auf dem Weg über Informationen und
Medien in Wort und Bild zielt die Militarisierung darauf ab, eine neue
Form des Militarismus massenhaft zu verankern. Dieser Neo-Militarismus
hat zum Inhalt, dass militärisch-kriegerische Konflikt-„Lösungen“
weltweit alternativlos erscheinen, „schutzverantwortlich“ legitimiert
werden und kaum auf Widerstand stoßen.
Indem die arglosen Informationskonsumenten sich unterrichten und
unterhalten lassen, werden sie sich der Kriegsvorbereitungen und des
Kriegszustandes, in dem sich die Welt befindet, kaum noch bewusst.
Gleichsam wie ihr tägliches Brot nehmen sie die Nachrichten über
Terrorbedrohungen und die Kriegsberichte des „embedded journalism“ mit
der medial verbreiteten Informationsflut auf.
Im Folgenden geht es um die Frage, wie Militarisierung heute
funktioniert: Wer sind die Agenten des Neo-Militarismus? Mit welchen
Gefahrenszenarien wird Militarisierung heute begründet? Auf welche
strategischen Pläne stützt sie sich? Wer entwirft diese Pläne? Die
Antwort darauf nimmt Bezug auf einen wenig bekannten Bericht eines fast
unbekannten Expertengremiums: der Venusberg-Gruppe. Diese Gruppe hatte
schon im Jahre 2007 im Auftrag der einflussreichen Bertelsmann-Stiftung
ein Dokument erstellt: den Venusberg-Bericht mit neuen militärischen
„Leitlinien für die europäische Sicherheitspolitik im Zeitalter der
Globalisierung“.
Das Dokument der Venusberg-Gruppe enthält Überlegungen zur
Militarisierung Europas – Überlegungen, die in der Zwischenzeit mehr und
mehr Gestalt annehmen und das militärische Denken der Gegenwart
bestimmen. Seine Verbreitung fand das Konzept auf unterschiedlichen
Wegen, von denen einer der wichtigsten mit dem Namen Bertelsmann
verbunden ist: mit der schon erwähnten Bertelsmann-Stiftung und dem
Bertelsmann-Konzern. Die Stiftung hatte den Venusberg-Bericht
veröffentlicht, und die Mediensparte des Bertelsmann-Konzerns war
maßgeblich daran beteiligt, die darin enthaltenen Leitlinien der
Militarisierung Europas inhaltlich publik machen und im öffentlichen
Diskurs zu verankern.
Die Venusberg-Gruppe
Die nach dem Ort ihres Treffens, dem Venusberg bei Bonn, benannte
Gruppe entstand 1999 im Rahmen des vom Centrum für Angewandte
Politikforschung (CAP) initiierten Projekts „Europas weltpolitische Verantwortung“.
Das Projekt wurde gegründet, „um über die Zukunft der europäischen
Sicherheit nachzudenken“. Die personelle Zusammensetzung erfolgte unter
Leitung der Bertelsmann-Stiftung und der „Bertelsmann Forschungsgruppe
Politik“ des CAP. Die dreizehn Mitglieder der Venusberg-Gruppe
rekrutierten sich aus Ministerien, der Wissenschaft, militärnahen
Institutionen und der Stiftung selbst.
Zur Venusberg-Gruppe gehörten als Mitglieder u. a.:
- ein ehemaliger Leiter des Planungsstabes beim Bundesministerium der Verteidigung in Berlin;
- der Stellvertretende Direktor der Fondation pour la recherche stratégique in Paris;
- der Stellvertretende Direktor der Direktion für Sicherheitspolitik
des österreichischen Bundesministeriums für Landesverteidigung in Wien; - ein Professor der Abteilung für Strategische Studien des Schwedischen Landesverteidigungskollegs in Stockholm;
- ein Professor für operationelle Verteidigungskunst und -wissenschaft
der Niederländischen Verteidigungsakademie, der als Leitender
Wissenschaftler der Verteidigungsakademie des Vereinigten Königreichs in
Shrivenham tätig ist; - ein ehemaliger polnischer Minister für Landesverteidigung aus Warschau;
- ein Professor, Präsident des Istituto Affari Internazionali sowie
ehemaliger Stellvertretender Staatssekretär im italienischen
Verteidigungsministerium in Rom; - ein Professor für Strategische Studien und Direktor des Haager Zentrums für Strategische Studien in Den Haag.
Charakteristisch für die Venusberg-Gruppe war, dass sie sich als ein
Expertengremium konstituiert hatte, welches weder in seiner
Zusammensetzung noch hinsichtlich seiner Aufgabenstellung demokratisch
legitimiert bzw. rechenschaftspflichtig war. Trotz- und außerdem hatte
die Venusberg-Gruppe via Bertelsmann-Stiftung und den
Bertelsmann-Konzern einen privilegierten Zugang zur vernetzten Medienwelt.
Militärische Leitlinien für die europäische „Sicherheitspolitik“
Der Venusberg-Bericht erschien erstveröffentlicht 2007 in englischer
Sprache. 2008 war die deutsche Übersetzung zugänglich. Ihr Titel
lautete: „Was folgt nach 2010? Leitlinien für die europäische
Sicherheitspolitik im Zeitalter der Globalisierung“ (Gütersloh:
Bertelsmann Stiftung, Februar 2008; im Folgenden beziehen sich die in
Klammern gesetzten Ziffern auf die betreffenden Seiten der aus dem
Dokument von 2008 zitierten Passagen).
Vorausgegangen waren 2004 ein Venusberg-Report mit dem Titel „A
European Defence Strategy“ (deutsch: Eine Europäische
Verteidigungsstrategie) und 2005 ein Papier zur Frage: „Why the World
needs a Strong Europe and Europe needs to be Strong. Ten Messages to the
European Council“ (deutsch: Warum die Welt ein starkes Europa braucht
und warum Europa stark sein muss. Zehn Botschaften an den
Europäischen Rat). Im Unterschied zu diesen auf Europa ausgerichteten
Venusberg-Papieren forderte die Bertelsmann-Stiftung im Jahre 2006:
„Deutschland braucht eine nationale (sic !) Sicherheitsstrategie“
(Autor: Klaus Brummer).
Das Leitlinien-Papier der Venusberg-Gruppe ist in zwei Teile
untergliedert. Der erste Teil ist grundsätzlicher Natur. Ferner listet
er die Bedrohungsszenarien auf und bewertet die bis 2007 erfolgten
„Fortschritte“ der Militarisierung. Im zweiten Teil werden die
militärischen Leitlinien der „sicherheitspolitischen Strategieplanung“
vorgestellt.
Der Grundsatz umfassender militärischer „Sicherheit“
Das von der Bertelsmann-Stiftung durchgeführte Venusberg-Projekt
„Europas weltpolitische Mitverantwortung“ formulierte als Kerngedanken
„ein umfassendes Programm des strategischen Sicherheitsengagements,
welches das ganze zivil-militärische Spektrum umfasst“ (5). Ein
solches Konzept erfordere „eine langfristige strategische Vision“ (6).
Die Venusberg-Gruppe betrachtete es als ihre zentrale Aufgabenstellung,
„von der Notwendigkeit einer wirksamen Außen- und Sicherheitspolitik der
Europäischen Union (EU) zu überzeugen“ (5).
Der damit intendierte Ansatz eines „umfassenden Sicherheitsbegriffs“ sollte
die Herstellung „eine(r) kosteneffektive(n) und strategische(n)
Verbindung zwischen Sicherheit und Verteidigung wie auch (zwischen)
zivilen und militärischen Mitteln und Vorhaben“ (6) bezwecken. Gefordert
wurde „die Ausgewogenheit zwischen ‚hard security’ und ‚soft
security’“. Mit anderen Worten: Es galt, in Europa eine Balance
herzustellen zwischen einer nach außen gerichteten „starke(n) und
glaubwürdige(n) strategisch-militärische(n) Komponente“ einerseits und
der „zivile(n) Sicherheit“ im Inneren andererseits. Für „absehbare Zeit“
wäre allerdings noch immer „das transatlantische Verhältnis [der NATO-Partnerschaft mit den USA; R. B.] … Eckpfeiler für die Sicherheit Europas“ (6).
Zur Begründung für die Forderung nach einem neuen militärpolitischen Konzept wurde – man staunt! – auf die „Schattenseite der Globalisierung“
hingewiesen sowie auf die „Gefahren einer uneingeschränkt
marktgesteuerten Herangehensweise an die internationalen Beziehungen“
(9; vgl. ebenso 17). Diese Argumentation überrascht, weil die
Bertelsmann-Stiftung bekannt ist als Propaganda-Agentur (und der
Bertelsmann-Konzern als Nutznießer) der Globalisierung, neoliberaler
Marktideologie, des ‚schlanken Staates’ und der Privatisierungspolitik.
Merke: Es kommt nicht so sehr auf die Wahrheit an, sondern auf die
Wirkung; denn im Interesse der Militarisierung ist die Berufung auf die
Marktgesetze obsolet.
Bedrohungsszenarien der Venusberg-Gruppe
Die Venusberg-Liste der Interventions- und Kriegsgründe (siehe Kasten 1)
ließ so gut wie keines der vorstellbaren Konflikt- und Krisenszenarien
unerwähnt. Die Bedrohungen und somit die Gründe, militärisch aktiv zu
werden, reichten von Energie-Engpässen bis zur organisierten
Kriminalität, vom Terrorismus bis zu scheiternden Staaten, von
pandemischen Krankheitsbildern bis zur Atomwaffen-Proliferation, von
Behinderungen des internationalen Handels und der Kommunikation bis zu
Naturkatastrophen und Umweltzerstörung.
Das Dokument der Venusberg-Gruppe nennt die folgenden Kriegs- und Interventionsgründe:
- den Wettbewerb um knappe Energien; die Energie (21) bzw. die „Sicherung der Energieversorgung“ (60) seien Europas „Vitalinteresse Nr. 1“ (21);
- den religiös motivierten Radikalismus und Terrorismus; „Vitalinteresse Nr. 2“ sei die „Terror- und Kriminalitätsbekämpfung“ (21);
- die internationale „organisierte Kriminalität“ (20), etwa in Gestalt der Piraterie bekämpfen;
- die Weitergabe von Technologien mit massiver Zerstörungskraft; „Vitalinteresse Nr. 3“ sei die Verhinderung der „Verbreitung von Massenvernichtungswaffen“ (24);
- gegen Pandemien einschreiten, wie z. B. die „Vogelgrippe“ (25), denn sie berührten Europas „Vitalinteresse Nr. 4“ (25);
- beim „Scheitern von Staaten“ intervenieren, etwa auf dem afrikanischen Kontinent, als Kerninteresse Nr. 1“ (25);
- Interventionsgrund „regionale Kriege“ (25);
- Interventionsanlass Umweltzerstörung als „Kerninteresse Nr. 2“ (26);
- „human security“, d. h. Menschenrechtsverletzungen, als „Gemeininteresse Nr. 1“ (26 f.);
10. Katastrophenhilfe bzw. die Verhinderung von Naturkatastrophen als „Gemeininteresse Nr. 2“ (27 f); in diesem Fall werden „Europäische humanitäre und Rettungseinsätze“ gefordert (28);
11. Militäreinsätze gegen die Gefährdung von „Europas Wirtschaftsordnung“ (60), was auch auf die militärische Unterdrückung innenpolitischer Unruhen abzielt;
12. die Notwendigkeit von militärische Maßnahmen zum Schutz der „internationale(n) Versorgungs- und Kommunikationswege“ (60);
13. Interventionsnotwendigkeit, um „Schäden von kritischer Infrastruktur und den Menschen abzuwenden“ (60).
Nicht zuletzt wurde auf für den Fall eine Zuständigkeit des Militärs
behauptet, dass eine Gefährdung von Europas Wirtschaftsordnung vorliegt –
wenn also das (eben erst als „Schattenseite“ apostrophierte) globale,
neoliberal-kapitalistischen Wirtschaftssystem in Frage gestellt wird.
Das Militär wurde zur allzeit und allerorts zuständigen Ordnungsmacht erklärt – nach Außen und nach Innen. Die Trennung von Polizei und Militär ist aufgehoben.
„Fortschritte“ bei der Militarisierung
Im Anschluss an die Liste der Bedrohungen und Interessenkonflikte
verzeichnete der Venusberg-Bericht die bis zum Jahr 2007 in Europa
erfolgten institutionellen Fortschritte und Einsätze
militärisch-strategischer Art (30 ff.). Dabei handelte es sich um
militärische Einsätze in Bosnien-Herzegowina und im Kongo; um
„Polizeimissionen“ in Palästina, Bosnien-Herzegowina und im Kongo; um
die „Mission“ zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit im Irak; die
„Mission“ zur Reform des Sicherheitssektors im Kongo; „Missionen“ im
Kosovo und in Afghanistan; ferner um eine Reihe von
„Beobachtermissionen“ sowie „zahlreiche andere Einsätze außerhalb der
Zuständigkeit der Union“ (31).
Längst sind deutsche Truppenkontingente inzwischen auch in
Somalia, auf den Seychellen und in Kenia präsent. Sie zeigen Flagge im
Kosovo, im Libanon, in Südsudan, am Horn von Afrika, in Uganda und an
der türkischen Grenze zu Syrien. Deutsche Spionageschiffe sind vor der
syrischen Küste stationiert und versorgen die Regierungsgegner mit
Informationen. Das Einsatzgebiet deutscher Soldatinnen und Soldaten
umfasste im Oktober 2013 ein Gesamtareal von ca. fünf Millionen
Quadratkilometern.
Anerkennend hervorgehoben wurde von der Venusberg-Gruppe außerdem die Einrichtung der europäischen Battle Groups,
d. h. landorientierter EU-Einsatztruppen mit einer Stärke von je 1.500
Soldaten. Gelobt wurden ferner die neuen Gefechtsverbände der Luft-,
Marine- und Sondereinsatzkräfte zur Unterstützung der Battle Groups
(36). Schließlich fand die Finanzierung der Sicherheitsforschung im
Themenfeld Konfliktverhütung die Anerkennung der Venusberg-Gruppe.
Bis 2007 wurden innerhalb der EU folgende militärisch relevante Einrichtungen
geschaffen (vgl. 31): das Politische und Sicherheitspolitische Komitee
(PSK); der EU-Militärausschuss (EUMC); der EU-Militärstab (EU-MS); die
Zivil-Militärische Zelle zur Sicherung der Verbindung zwischen zivilem
und militärischem Krisenmanagement; das Lagezentrum SitCen; das
EU-Satellitenzentrum SatCen, das Bilddaten von militärischen und zivilen
Satelliten für EU-Entscheidungsträger und Befehlshaber im Einsatz zur
Verfügung stellt; die grenzüberschreitenden Polizei- und
Justizeinrichtungen von Europol und Eurojust.
Militärische Leitlinien „sicherheitspolitischer Strategieplanung“
Als Zwischenergebnis hielt das Venusberg-Dokument fest: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
(ESVP) habe sich bislang „auf kleine Kriege in Europa konzentriert,
obwohl Europas Interessen von der EU sowohl eine globale
Sicherheitsvision als auch eine umfassende strategische Antwort
verlangen“ (33); „die Europäer (haben) gar keine andere Wahl …, als die
Reichweite und Intensität ihrer sicherheitspolitischen Zusammenarbeit
auszubauen“ (ebd.) Daraus leitete die Venusberg-Gruppe die Notwendigkeit
einer Strategieplanung ab, die im Einzelnen vier Planungsebenen umfasste: einen Führungsplan, einen Partnerschaftsplan, den Verteidigungsplan und den Solidaritätsplan (40 ff.).
1. Der von der Venusberg-Gruppe entworfene Führungsplan gewichtete die militärische Rolle der EU-Mitgliedstaaten. Er sah unterschiedliche Führungsgruppen vor:
- eine erste Führungsgruppe, bestehend aus Deutschland, Frankreich und
Großbritannien als den „drei großen europäischen ‚Investoren in
Sicherheit’“ (10); - eine „zweite Führungsebene“ aus Italien, den Niederlanden, Spanien, Schweden und Polen.
- Unterhalb dieser beiden Führungsebenen waren die verbleibenden 19
Mitgliedstaaten angesiedelt, wobei hier Griechenland eine besondere
Rolle zugewiesen bekam.
Als dringend erforderlich mahnte das Dokument eine Reform der
Entscheidungsfindung an. Zur Unterstützung der Entscheidungsprozesse
wurden „leistungsfähige nachrichtendienstliche Fähigkeiten“ (11) als
notwendig erachtet.
2. Der Partnerschaftsplan (46 ff.) formulierte außenpolitische
Empfehlungen. Außer mit den USA und der NATO als den „Eckpfeiler(n) der
Sicherheit“ (48) seien strategische Partnerschaften notwendig mit den
„neu aufstrebenden und wieder aufstrebenden Mächten“ (46). Hierzu zählte
das Venusberg-Dokument Russland (46 f.) sowie China und Indien (47 f.),
ferner auch „regionale Mächte wie Brasilien, Südafrika, Südkorea und
Australien“ (46).
„Verteidigungsplan“ für die Streitkräfte
3. Die Streitkräfte waren zentrales Thema des Venusberg-Verteidigungsplans. Dieser sprach im Einzelnen folgende Kern- und Programmpunkte an (51):
(I.) Die „Territorialsicherung der EU“; sie „umfasst
fünf Elemente: Raketenabwehr, Abschreckung, konventionelle Verteidigung,
Lufthoheit und die Bewältigung der Folgen eines (terroristischen)
Angriffs (‚consequence management’)“. (12)
(II.) Auf der Basis „wirkungsvoller, adäquater Streitkräfte“
müsse sich die „Fähigkeit, wirksamen Zwang auszuüben“, entwickeln (12).
Der „Einsatz von Zwangsmaßnahmen“ sei notwendig, um „antagonistische Akteure … zu bestrafen“ (51).
(III.) Ein weiteres „Kernelement europäischer Strategie“ sei die „Durchhaltekraft bei Stabilisierungs- und Wiederaufbaumaßnahmen“ (51).
(IV.) Die „militärische Aufgabenliste“ (siehe Kasten 2) verlange nach einer Aktualisierung (52).
(V.) Erforderlich seien ferner Maßnahmen „grenzüberschreitender Zusammenarbeit zwischen den jeweiligen Nachrichtendiensten, der Polizei und den Streitkräften“ (54).
(VI.) Notwendig sei weiterhin die Konsolidierung der „europäische(n) rüstungsindustrielle(n) und rüstungstechnische(n) Basis“ (12).
(VII.) Entsprechend den „Lehren aus Afghanistan und Irak“ sei es nötig, „militärisch auf asymmetrische Herausforderungen zu reagieren“ (54). Wörtlich: „Asymmetrische Widersacher
[…] haben keinen natürlichen Bezugspunkt wie einen Staat und ihnen kann
nicht im klassischen Sinn begegnet werden. Vielmehr werden komplexe militärische Einsätze
zum Normalfall. […] Der EU-Militärausschuss sollte ein
Forschungsprogramm einleiten, das Aufschluss darüber gibt, welche
Konsequenzen sich folglich für die Fortentwicklung europäischer
Einsatzstreitkräfte ergeben.“ (54) „Die Erfahrung lehrt, dass es für
moderne Streitkräfte in schwierigem Gelände sehr mühsam ist, ihre
technischen Vorteile optimal auszunutzen.“ (Ebd.) – (Siehe über „low
intensity conflicts“ bei Martin van Creveld, Die Zukunft des Krieges,
München 1998.)
- die „Truppenbereitstellung zur Stärkung der inneren Sicherheit
der EU oder als Element einer europäischen Strategie zur Bekämpfung des
Terrorismus“ durch „Regionale Sicherungs- und Unterstützungskräfte“
(RSUKr) in Gestalt von Heimatschutz-Kompanien [in der Bundesrepublik
wurden 2013 die ersten RSUKr in Dienst gestellt, um die Bundeswehr im
Inneren bei Katastrophen und schweren Unglücksfällen zu unterstützen
oder Wach- und Sicherungsaufgaben für militärische Anlagen und zivile
Objekte zu übernehmen; der Publizist und Rechtsanwalt Rolf Gössner sieht
darin „ein Element der militärischen Aufstandsbekämpfung“ gegen
„widerstrebende“ Bevölkerungsteile]; - „friedensunterstützende und humanitäre Einsätze“;
- die „Unterstützung von EU-Maßnahmen … zur wirtschaftlichen Sicherheit“;
- Interventionen bei Regionalkonflikten sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU, „möglicherweise gemeinsam mit der NATO“;
- „weltweite Präventiveinsätze zur Verhinderung von … Terroranschlägen in Europa oder gegen europäische Interessen“;
- die „Abschreckung von Staaten, die im Besitz von Massenvernichtungswaffen sind, einschließlich nuklearer Abschreckung“.
„Vor diesem Hintergrund müsste ein neues Planungskonzept auch die militärischen und zivilen Zuständigkeiten definieren, … aufeinander abstimmen und die für weltweite Einsätze notwendigen Mittel und Kräfte … bündeln.“ (52)
Fazit der Venusberg-Gruppe: „Europa braucht viel mehr Truppen, die
fähig und in der Lage sind, länger andauernde und anspruchsvolle
Koalitionseinsätze im Ausland durchzuführen. […] Zunächst muss
besonderes Augenmerk auf die Entwicklung robuster, entsendbarer Kräfte gerichtet werden. Diese müssen auf oberster Operationsebene durch Spezialkräfte und auf unterster Ebene durch Gendarmeriekräfte gestärkt werden, sodass sie entsprechende Stabilisierungsaufgaben wahrnehmen können.“ (13)
„Solidarität mit unseren Soldaten“
4. Zusätzlich zum Führungs-, Partnerschafts- und Verteidigungsplan konzipierte die Venusberg-Gruppe einen sog. Solidaritätsplan.
Diesem zufolge sei es die Aufgabe der „Politiker in der EU […], die
Bevölkerung gemeinsam davon zu überzeugen, dass Vorkehrungen für eine
sichere Zukunft getroffen werden müssen und (dass) dies Mühe,
Verpflichtungen und Geld kosten wird“ (59). Die Armee selbst habe
ebenfalls darum bemüht zu sein, sowohl die Verbindungen zwischen
Soldaten und Bevölkerung zu stärken als auch „hochrangige zivile
Führungskräfte“ aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und
Zivilgesellschaft für ihre Interessen zu gewinnen.
Ganz im Sinne des Solidaritätsplans wurde in Deutschland 2010 ein Runder Tisch „Solidarität mit Soldaten“
eingerichtet, bei dem Soldaten- und Reservistenverbände ebenso
vertreten sind wie die Kirchen und die Big Band der Bundeswehr. Ziel ist
es, „dass die Soldatinnen und Soldaten sowie deren Familien sich von
ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern angenommen und verstanden fühlen
können“. Auf Initiative des Runden Tisches wurde von der Bundespost 2013
die „erste deutsche Briefmarke für Solidarität mit unseren Soldaten“ herausgebracht.
Ein anderes Beispiel der Umsetzung des Venusberg-Solidaritätsplans:
Im Oktober 2013 nahm der Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Torsten
Albig, an einer „freiwilligen Informationswehrübung“ im
niedersächsischen Osterholz-Scharmbeck teil. Albig, so berichtete die
Presse, sollte auf diese Weise Einblick erhalten in die Arbeit der
„Streitkräftebasis, die für logistische Unterstützung und Versorgung der
Bundeswehr im In- und Ausland verantwortlich ist“.
Das Venusberg-Dokument resümierte: „Den politischen
Entscheidungsträgern bleibt keine andere Wahl, als mit der
Öffentlichkeit in eine ehrliche sicherheitspolitische Debatte
einzutreten.“ (Ebd.) Im Sinne des Solidaritätskonzepts sei es außerdem
an der Zeit gewesen, „Maßnahmen gegen illegale Einwanderung, internationale Kriminalität, strategischen Terrorismus und systemfeindliche Ideologien“ zu ergreifen (61).
Bis auf eine einzige Ausnahme verwendet der gesamte Bericht der von
der Bertelsmann-Stiftung zusammen mit der „Bertelsmann Forschungsgruppe
Politik“ des CAP ins Leben gerufenen Venusberg-Gruppe an keiner Stelle
den Begriff Militarisierung. Die einzige Ausnahme lautet: „Dieser
Bericht der Venusberg-Gruppe plädiert nicht für eine Militarisierung
Europas.“ (59) Es bleibt jeder Leserin und jedem Leser selbst
überlassen, sich ein eigenes Urteil darüber zu bilden, ob diese
Beteuerung zutrifft.
Exkurs: Die USA als erschreckendes Vorbild
Der strategische Forderungskatalog der Venusberg-Gruppe aus den
Jahren 2007/08 hatte in einer ganzen Reihe von Punkten Positionen
aufgegriffen, die schon Jahre zuvor auch in der militärischen
Strategie-Debatte der USA eine Rolle gespielt hatten. Die Militärpolitik des Pentagon ist erschreckendes Vorbild für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP).
1992 erstellten die Berater des damaligen US-Verteidigungsministers
Dick Cheney das Geheimdokument „Defense Planning Guidance“ (deutsch:
Leitfaden zur Verteidigungsplanung). Das Papier wurde den Zeitungen „New
York Times“ und „Washington Post“ zugespielt und von ihnen
veröffentlicht. Als hauptsächliche Zielsetzungen der amerikanischen
Außenpolitik wurden in dem Dokument folgende drei ungeheuerliche Forderungen
erhoben: „Erstens die Entstehung irgendeiner globalen oder regionalen
Supermacht zu verhindern, die in der Lage wäre, amerikanischen
Zielsetzungen entgegenzutreten; zweitens, den ‚Zugang zu Rohstoffen, vor
allem zum Öl des Persischen Golfes’ zu sichern sowie die ‚Verbreitung
von Massenvernichtungswaffen’ zu verhindern; und drittens die Billigung
einseitiger oder unilateraler Militäreinsätze als eines Mittels, um
diese Zielsetzungen zu erreichen.“ (Weber 2006: 142)
Etwa zeitgleich gab auch der Bundeswehr-Viersternegeneral und
Generalinspekteur Klaus Naumann ein Geheimpapier in Umlauf, in dem die Kompetenzerweiterung der NATO
gefordert wurde. Im Rahmen eines „weiten Sicherheitsbegriffs“ wurde
empfohlen, die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs
zu strategischen Rohstoffen“ als „sicherheitsrelevant“ einzustufen.
Diese Forderung nach der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen mit
militärischen Mitteln fand in Deutschland ihren Niederschlag in den
Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) von 1992.
Nach seiner 2001 erfolgten Berufung zum Direktor des neu gegründeten
Office of Force Transformation (deutsch: Amt für die Transformation der
Streitkräfte) sagte Admiral a. D. Arthur K. Cebrowski anlässlich eines
Interviews: „Fast alle Nationen gehen vom Industriezeitalter in das Informationszeitalter
über. Einer der Züge, die den Eintritt in das Informationszeitalter
kennzeichnen, ist der Preissturz höchstwertiger Informationstechnik.“
Damit würden „sehr tiefgreifende Veränderungen“ einhergehen (zit. nach
Weber 2006: 135), erklärte er. Mit den „tiefgreifenden Veränderungen“
waren solche gemeint, deren Folgen heute an der Tagesordnung sind: z. B.
Drohnenangriffe und die weltweite Totalausspähung durch die NSA.
Die im Cebrowski-Interview angedeuteten Veränderungen zur
Rechtfertigung von Angriffskriegen fanden sich 2002 in einem Bericht der
US-Regierung über die Nationale Sicherheitsstrategie wieder. Dort hieß
es: „Angesichts der Ziele von Schurkenstaaten und Terroristen
können die Vereinigten Staaten nicht länger allein auf eine reaktive
Haltung vertrauen, wie es in der Vergangenheit der Fall war. […] Wir
dürfen unsere Feinde nicht zuerst zuschlagen lassen.“ (Zit. nach Weber
2006: 137.) Das besagt: Die USA beanspruchen für sich das Recht, selbst
als erste zuzuschlagen.
In der Vorbemerkung zu dem zitierten Bericht über die Nationale Sicherheitsstrategie äußerte Präsident George W. Bush:
„Heutzutage können schattenhafte Netzwerke von Einzelpersonen großes
Chaos und Leid über unser Land bringen – und es kostet sie weniger als
ein einziger Panzer. […] Es ist eine Sache des gesunden
Menschenverstandes und der Selbstverteidigung, dass die Vereinigten
Staaten gegen solche aufkommenden Bedrohungen vorgehen werden, bevor sie
übermächtig werden.“ (Zit. nach Weber 2006: 140.)
Militarisierungsagentur Bertelsmann-Stiftung
Die Militärpolitik in den USA findet ihre Entsprechung in Europa. Ein
bahnbrechender Faktor dieser Entwicklung ist in Deutschland die
Bertelsmann-Stiftung. Sie hat sich seit ihrer Gründung 1977 „zu einer
der wichtigsten neo-liberalen Denkfabriken innerhalb Deutschlands
entwickelt“. Das stellten die Kommunikationsforscher Jörg Becker und
Christian Flatz in einer vom DGB-Bildungswerk herausgegebenen Broschüre
fest. Sie trägt die den Titel: „Medien im Globalisierungsrausch – Kommt
die Demokratie unter die Räder?“ (2003).
Die Frage, ob die Demokratie Schaden nimmt, ist berechtigt. Nicht
ohne gute Gründe gab Thomas Schuler seinem 2010 veröffentlichten
Sachbuch mit Recherchen über die Bertelsmann-Stiftung den zutreffenden
Titel: „Bertelsmannrepublik Deutschland. Eine Stiftung macht
Politik“. Bekanntlich hofierten deutsche Regierungschefs wie Gerhard
Schröder und Liz-Mohn-Feundin Angela Merkel die Bertelsmann-Stiftung,
und sie geizten nicht mit huldvollen Ergebenheitsadressen (siehe Zeitungsausriss 1).
Zeitungsausriss 1: Aus „junge Welt“ Nr. 16 vom 19. Januar
2012. Der Artikel trägt die Überschrift: „Profit aus Zerstörung.
Bertelsmann steigt groß ins Geschäft mit akademischer Bildung ein.
Teilprivatisierung der Hochschulen hatte im Vorfeld die konzerneigene
Stiftung besorgt“.
Bei der Stiftung selbst sind mehr als 300 Mitarbeiter beschäftigt.
International agiert sie in New York (als „Bertelsmann Foundation North
America“) und in Barcelona (als „Fundación Bertelsmann“) sowie durch ein
Vertretungsbüro bei der Europäischen Kommission in Brüssel. Außerdem
existiert bei der Stiftung eine „Stabsstelle Internationaler
Kulturdialog“.
Die Stiftung und der Konzern
Ihren Hauptsitz hat die Bertelsmann-Stiftung in Gütersloh, dem Standort des Unternehmenskomplexes Bertelsmann SE & Co. KGaA (Kommanditgesellschaft auf Aktien mit einer Societas Europaea
als geschäftsführende Gesellschafterin). Der Bertelsmann-Konzern ist
mit einem Jahresumsatz von 18 Milliarden Euro und einem Gewinn von 619
Millionen Euro (im Jahr 2012) weltweit vernetzt und besitzt zahlreiche
ausländische Niederlassungen.
76,9 % der Aktienanteile des gesamten Bertelsmann-Unternehmens
gehören der Stiftung. Ihre Stimmrechte liegen bei der
Bertelsmann-Verwaltungsgesellschaft unter Federführung der Eigentümerfamilie Mohn
(siehe: Thomas Schuler, Die Mohns. Vom Provinzbuchhändler zum
Weltkonzern: Die Familie hinter Bertelsmann, 2004). Unter
wirtschaftlichem und steuerrechtlichem Aspekt ist das unternehmerische
Konstrukt der Übertragung von mehr als zwei Dritteln der
Konzern-Aktienanteile auf die als gemeinnützig anerkannte
Bertelsmann-Stiftung ein Modell für erhebliche Steuerersparnisse des
Unternehmens.
Die Bezeichnung „Stiftung“ ist freilich irreführend, ihr Status als
gemeinnützig anzuzweifeln. Sie arbeitet operativ, d. h. aus ihren
Mitteln werden ausschließlich Eigenprojekte finanziert. Es werden keine
Gemeinwohl-Interessen anderer, sozialer oder kultureller Träger
gefördert. Der Stiftung, die ohne demokratische Kontrolle walten
kann, geht es primär um den Gewinn: um den Gewinn von politischem
Einfluss und um den wirtschaftlichen Gewinn des
Bertelsmann-Unternehmens. Auch in denjenigen Fällen, bei denen das
Gewinnmotiv nicht offensichtlich ist, dient die Stiftungstätigkeit der
Imagepflege und somit letztendlich den Marketingbelangen des
gleichnamigen Konzerns. Gleichwohl dulden die Finanzbehörden des Landes
Nordrhein-Westfalen den Gemeinnützigkeitsstatus der Stiftung.
Stiftungszweck „Umgestaltung aller Lebensbereiche“
Das Stiftungskapital umfasst 619 Millionen Euro, der Stiftungs-Etat
rd. 72 Millionen Euro jährlich (Angaben aus dem Jahr 2008). Mit der
Formulierung der sehr weit reichenden Stiftungszwecke (siehe Kasten 3)
beansprucht der Stifter eine gesellschaftliche und ideologische
Machtstellung, wie sie in der Demokratie verfassungsmäßig nur den
Parteien und – in Deutschland – zum Teil auch den Kirchen zukommt.
Allerdings unterliegen die Parteien einer gewissen demokratischen
Kontrolle durch das wahlberechtigte Volk, und der Einfluss der Kirchen
beschränkt sich in der Hauptsache auf Stellungnahmen in ethischen
Grundfragen. Die Verantwortlichen der Bertelsmann-Stiftung indessen
werden weder vom Volk gewählt, noch ist ihre Ethik einer anderen Moral
verpflichtet als der des Geldes.
Bertelsmann-Stiftung realisiert ihre Zwecke einerseits durch die
organisatorische Bündelung der eigenen materiellen und personellen
Forschungsressourcen, ferner durch erworbenes wissenschaftliches
Know-how und Expertenkompetenz mittels Gutachten oder Auftragsforschung.
Andererseits setzt die Stiftung auf Kooperation mit zahlreichen
Institutionen: sowohl mit sonstigen Stiftungen – auch mit der
gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung und der „grünen“
Heinrich-Böll-Stiftung – als auch mit Organisationen wie z. B. der Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet, der Evangelische Akademie Loccum oder dem Staatsinstitut für Frühpädagogik
(IFP). Darüber hinaus verfügt die Stiftung durch ihre Nähe zum
Bertelsmann-Konzern – und das ist entscheidend – über ein
bewusstseinsindustrielles Propaganda-Arsenal, wie man es sonst nur aus Diktaturen kennt.
Als Stiftungszwecke nennt die Satzung der Gütersloher „Denkfabrik“
des Wirtschaftsriesen und „Medienimperiums“ (Böckelmann/Fischler 2004)
folgende Aktivitäten und Handlungsfelder:
1. die Umgestaltung aller Lebensbereiche nach den „Grundsätzen des
Unternehmertums und der Leistungsgerechtigkeit“ sowie entsprechend dem
Privatisierungs-Leitbild „so wenig Staat wie möglich“, um dadurch
2. einen Beitrag zu leisten zur Lösung aktueller gesellschaftlicher
Probleme und zum gesellschaftlichen Fortschritt auf der Basis von
Wettbewerb und bürgerschaftlichem Engagement;
3. die direkte Einflussnahme auf politische Entscheidungsträger;
4. die Durchführung von Projekten in den Themenfeldern Bildung,
Wirtschaft und Soziales, Unternehmenskultur, Gesundheit, Internationale
Verständigung, Kultur und Stiftungsentwicklung;
5. die Veranstaltung von Workshops, Seminaren und Tagungen für
Treffen zwischen Beamten und Politikern sowie den der Stiftung nahe
stehenden Experten;
6. das Ranking gesellschaftlicher Akteure oder Bereiche in Feldern
wie Arbeitsvermittlung, Gesundheitssystem, Kommunalverwaltung,
Bildungseinrichtungen, Bundesländer oder Staaten;
7. das Standort–Ranking zur Bewertung der Wirtschaftspolitik von wichtigen Industriestaaten und Schwellenländern zwecks Bewertung der Wachstums- und Beschäftigungsaussichten dieser Länder.
Die Bertelsmann Stiftung stellt als Think Tank (engl. für
Expertenkommission; „Tank“ in der Militärsprache = Panzer) eine Art
Schnittstelle dar. In ihr überlappen und ergänzen sich fünf Bereiche,
die auch in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht Wirkungsfelder der
Militarisierung darstellen. Im Einzelnen handelt es sich um die Bereiche
Wirtschaft, Medien, Wissenschaft und Politik sowie um diverse andere
gesellschaftliche Segmente.
Verbindungen von Militär und Wirtschaft
Die Verbindungen von Militär und Wirtschaft sind vielfältig, oft aber
unter Geheimhaltungsvorbehalt. Offensichtlich ist der
militärisch-ökonomische Zusammenhang im Bereich der Rüstungsindustrie.
Weniger offenkundig sind indes die Beziehungen zwischen dem Militär und
jenen Produktions- und Dienstleistungsbereichen, welche Waren anbieten,
die auch zivil genutzt werden können: z. B. jede Art von Schiffen,
Fahr- und Flugzeugen, Textilien, Lebensmitteln, Möbeln,
Einrichtungsgegenständen, Elektronik, Überwachungssystemen, Nachrichten
oder Unterhaltungsangeboten.
Weitere Verknüpfungen ergeben sich dort, wo bestimmte militärisch
relevante Aufgaben wie Verwaltung, Beschaffung, Transport und Logistik
an Private ausgelagert werden („Outsourcing“ genannt) – etwa an die
Deutsche Bahn, die Post, Siemens und IBM. Mit Ausnahme der
Rüstungsindustrie manifestieren sich in den genannten zivilen, aber
militärisch nicht irrelevanten Wirtschaftsbereichen auch
unternehmerische Interessen des Bertelsmann-Konzerns.
Zwischen Militär und Wirtschaft lassen sich darüber hinaus auch
personelle und institutionelle Zusammenhänge beobachten. Beispiele sind
der „Arbeitskreis Bundeswehr und Wirtschaft“ mit entsprechenden
Beratungszentren sowie der „Celler Trialog“. Bei ihm handelt es sich um
ein Forum aus Vertretern von Politik, Wirtschaft und Bundeswehr, organisiert von der „Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik e.V.“
und ihrer Studiengesellschaft. Die Zusammenkunft verfolgt das Ziel,
„die Vernetzung deutscher Sicherheitspolitik zu stärken“. Im Mai 2013
trafen sich beim „Celler Trialog“ der Bundesminister der Verteidigung,
der Vorstandsvorsitzende des Rüstungskonzerns Rheinmetall AG
und der Generalinspekteur der Bundeswehr zu Gesprächen über die Frage:
“Politik – Bundeswehr – Wirtschaft: Kooperation oder Konkurrenz?”.
Der Bertelsmann-Unternehmenskomplex
Der Bertelsmann-Unternehmenskomplex ist weltweit vernetzt und besitzt
zahlreiche ausländische Niederlassungen. Die rund 105.000 Mitarbeiter
verteilen sich auf vier Unternehmenssparten (siehe Kasten 4): Arvato AG, BMG/Bertelsmann Rights Management und Be Printers Group sowie den weit verzweigten Medienbereich.
1. Die Arvato AG ist ein international vernetzter
Outsourcing-Dienstleister mit 270 Tochterunternehmen und mehr als 63.000
Mitarbeitern in über 35 Ländern. Schwerpunkt des Leistungsangebots, das
auch für militärische Zwecke nutzbar ist, sind die Erstellung, der
Vertrieb und das Management von digitalen Speichermedien und von
Druckerzeugnissen. Einer der Arvato-Geschäftsbereiche entwickelt
crossmediale Konzepte, mit deren Hilfe auf der Klaviatur sämtlicher
Medien (einschließlich der Social Media) zielgruppenspezifisch die
gesamte Bandbreite von thematischen Kundenwünschen für Kampagnen und
Werbefeldzüge – auch öffentlicher Verwaltungen oder des Militärs –
bedient werden kann. In anderen Bereichen von Arvato werden
Call-Center-Netzwerke und Programme zur Kundenbetreuung angeboten.
Weitere Geschäftsfelder betreffen die Software-Entwicklung und den
Betrieb von sowohl IT- als auch Finanzdienstleistungen, darunter
Wirtschaftsauskünfte, diverse Schuldeneintreibungs- und Inkassoverfahren
sowie eine „schwarze Liste“ von auffälligen Versicherten. Weltweit
produziert der Unternehmenszweig täglich mehr als sechs Millionen
Datenträger, CDs und DVDs, aber auch Printmedien. Arvato betreibt eigene
Onlineshops für den elektronischen Handel oder installiert solche im
Kundenauftrag. Schließlich verfügt die Firma über ein umfassendes
Angebot von Logistiklösungen und Logistikzentren.
2. Der Unternehmensbereich BMG / Bertelsmann Rights Management umfasst eine internationale Gruppe von Musikfirmen und ist auf das Management von Musikrechten
spezialisiert. Sein Hauptsitz befindet sich in Berlin mit weiteren
Büros in New York, Nashville, Los Angeles, London, Madrid, Mailand,
Paris, München, Stockholm, Dublin und Hilversum (Niederlande).
3. Be Printers Group ist ein Bertelsmann-Unternehmenszweig auf
dem Gebiet der Druck- und Kommunikationsdienstleistungen. Dieser
Bereich bündelt organisatorisch die Mehrzahl aller Druckaktivitäten der Bertelsmann SE & Co. KGaA.
Be Printers Group unterhält 17 Produktionsstandorte in sechs Ländern:
USA, Kolumbien, Spanien, Italien, Großbritannien und Deutschland. Die
Gruppe ist in drei Geschäftseinheiten organisiert: Americas, Southern
Europe und Prinovis.
4. Bertelsmann Medien (siehe Kasten 5)
Die Bertelsmann-Stiftung ist insbesondere hinsichtlich der im Konzern
vertreten Geschäftsbereiche eng mit der Wirtschaft verflochten. Dies
gilt vor allem mit Blick auf die in militärischer Hinsicht relevanten
Produktions- und Dienstleistungsbranchen, besonders aber für den
Unternehmensbereich Medien. Zeitungen, Radio und Fernsehen sind
einerseits zentrale Agenturen der ideologischen Militarisierung sowie
der Implementierung und Verfestigung militaristischer Denkstrukturen.
Darauf spielt Daniele Ganser, Friedensforscher an der Forschungsstelle
für Sicherheitspolitik der ETH Zürich an, wenn er feststellt: „Es ist
keine Kunst, Völker und Kulturen gegeneinander aufzuhetzen. Dies ist in der Geschichte immer wieder geschehen und gehört zum Repertoire aller hegemonialer Mächte.“
Andererseits genügen die Medien – und zwar sowohl die des
Entertainment-Zweiges als auch diejenigen für spezielle Zielgruppen –
dem Zweck, zu unterhalten, zu beschwichtigen und zu zerstreuen. Auch von
den Gefahren des Neo-Militarismus sollen sie ablenken – und
selbstverständlich auch von der Rolle, die Bertelsmann und die
Bertelsmann-Medien bei der Militarisierung spielen. Nicht zuletzt
verbreiten die Massenmedien die „wissenschaftlich“ garnierten Rankings,
Verlautbarungen und Dossiers der Stiftung und ihrer Satelliten, wie z.
B. das Venusberg-Dokument.
Der mit der Stiftung eng verbundene Bertelsmann-Konzern verklammert vier verschiedene Medien-Sparten (siehe Kasten 5):
nämlich Bücher, Zeitschriften und Periodika, Radio und Fernsehen sowie
die für die Medien und ihren Betrieb erforderliche Infrastruktur. Nicht
zuletzt die Fernsehproduktionen haben einen erheblichen Anteil an der
„Militarisierung des Denkens“ (Samuel Weber) sowie an der
unterhaltungsindustriellen Fertigung, Verbreitung und Verankerung der
„Bildermaschine für den Krieg“ (Peter Bürger).
Die Film- und Fernsehproduktionen der medialen Bewusstseinsindustrie
sind Instrumente der Militarisierung. Sie sichern einerseits die
bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, indem sie ein
allgemeines Klima der individuellen und kollektiven Gefährdung
herstellen und verbreiten. Andererseits tragen sie bei zur alltäglichen
Erscheinung und ‚Normalisierung’ von Bedrohung, Verdächtigung, Gewalt,
Zerstörung, Kriminalität, Mord und Totschlag. Von Kritik weitgehend
unbehelligt, beteiligen sie sich an der medialen Plättung der Vernunft
ihrer Zuschauer, Zuhörer und Leser. Dies trifft auch auf die nicht zum
Konzern gehörenden Medien zu, selbst auf die öffentlich-rechtlichen.
Medien, Mainstream und schleichende Militarisierung bilden im Zeichen
der Zuschauerquoten das Dreigestirn des Neo-Militarismus.
1. Die Bertelsmann-Büchersparte ist in der Verlagsgruppe
Random House (RH) mit Sitz in New York zusammengefasst. In Deutschland
sind unter dem Dach von RH 46 Verlage versammelt, darunter DVA,
Goldmann, Siedler, C. Bertelsmann, Heyne und der Luchterhand
Literaturverlag.
Weltweit handelt es sich um über 300 Titel, mehr als 50 davon allein in
Deutschland. Darunter sind Zeitschriften wie das Kunstmagazin Art,
Brigitte, Capital, Eltern, Essen und Trinken, Gala, GEO, National
Geographic Deutschland, Schöner Wohnen, Stern, die Magazine der DB und
von Lufthansa. Auch am „Spiegel“ hält Bertelsmann Anteile.
3. Im Bereich Radio und Fernsehen ist Bertelsmann mit RTL Group der größte europäische Betreiber von werbefinanziertem Privatfernsehen und Privatradio.
Außerhalb Europas ist RTL ebenfalls vertreten; z. B. als „Big RTL
Thrill“ in einem Joint Venture mit dem indischen Fernsehunternehmen
Reliance Broadcast Network. Zur Mediengruppe RTL gehören insgesamt 53
Fernseh- und 28 Radiosender, darunter in Deutschland die
Fernsehanstalten RTL Television,
RTL II und Super RTL. RTL Television betreibt Regionalsender in Hessen,
Hamburg/Nord und Köln/West sowie weitere Tochtergesellschaften wie z.
B. die Sender VOX und n-tv sowie die Pay-TV-Kanäle RTL Crime, RTL Living
und RTL Nitro. Unterhaltungssender wie RTL und Vox favorisieren mit
Dieter Bohlen und Daniela Katzenberger „Ikonen der Fernsehunterhaltung“,
von Bernd Gäbler in einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung der IG
Metall als „Hohle Idole“ charakterisiert. Weitere Teile des
RTL-Medienimperiums sind RTL interactive mit Online- und Mobilangeboten,
der Nachrichtenproduzent info Network, CBC, zuständig für Produktion
und Technik, sowie die Vermarktungsgesellschaft IP Deutschland für den
Verkauf von Werbezeiten und Internetangeboten.
4. Bei einem vierten Segment im Medienbereich handelt es sich um die distributive Infrastruktur
des Bertelsmann-Unternehmenskomplexes: um Sendeanlagen, Druckereien und
den Buch-Club mit seinen Filialen. Der Lesering hat mehr als 25
Millionen Mitglieder. Er bietet neben Büchern auch Reisen an und
konzentriert sich auf die großen europäischen Märkte.
Bertelsmann und die Militarisierung der Wissenschaft
Um entsprechend dem Stiftungszweck Einfluss zu nehmen auf politische
Entscheidungen bzw. auf die relevanten Entscheidungsträger, bedient sich
die Bertelsmann-Stiftung nicht nur ihres eigenen wissenschaftlichen
Apparats. Sie stützt sich auch auf eine Reihe wissenschaftlicher
Institutionen und Experten, die Nutznießer der Finanzierung durch die
Stiftung und von ihr nicht unabhängig sind. Es sind vor allem fünf Politikbereiche,
in denen die Stiftung und ihre akademischen Satelliten als Think Tanks
intervenieren: die Bildungspolitik, die Gesundheitspolitik, die
Arbeitsmarktpolitik, die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die
Medienpolitik.
Im Bereich der Bildungspolitik stützt sich die Stiftung auf die Aktivitäten, die vom Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) und vom „Projekt Selbstständige Schule“
(auch „Selbstverantwortliche Schule“ oder „Eigenverantwortliche Schule“
genannt) ausgehen. Das letztgenannte Vorhaben betrifft Modellversuche und Bildungsreformen, bei denen die Bertelsmann Stiftung in Kooperation mit den zuständigen Länderministerien auf eine Neugestaltung der Schulorganisation hinwirkt.
Das CHE hat seinen Sitz am selben Ort wie der Bertelsmann-Konzern: in
Gütersloh. Als Ausgründung mit wirtschaftlicher Beratertätigkeit
existiert neben dem CHE die CHE Consult GmbH mit Sitz in Berlin. Seinem Selbstverständnis gemäß versteht das Centrum sich als „Reformwerkstatt“
mit dem Ziel, die deutsche Hochschullandschaft „zu liberalisieren und
zu modernisieren“. Hierzu dienten Projekte innerhalb der Hochschulen,
Studien, Publikationen, Kampagnen und Workshops zu hochschulpolitischen
Themen sowie die berüchtigten und wissenschaftlich fragwürdigen CHE-Rankings.
Dem CHE ist es im Einvernehmen mit den Unternehmerverbänden – und
medial wirkungsvoll orchestriert – gelungen, den Boden für
Hochschulreformen wie den Bologna-Prozess zu bereiten. Im Verlauf dieser
Entwicklung, die flankiert war von Budgetkürzungen der
Universitätshaushalte, wurde der Forschungssektor immer offener und
anfälliger für unternehmensfinanzierte Stiftungsprofessuren und Forschungsaufträge aus
der Rüstungsindustrie (siehe: Jetzt entrüsten! Hochschulen:
Zukunftswerkstätten oder Kriegs-„Dienstleister“? Stuttgart 2012). Im
Endergebnis haben die Reformen und Rankings von CHE die eindimensionale
Anpassung der Hochschulen und Universitäten an wirtschaftliche, auch
rüstungswirtschaftliche Imperative bewirkt.
Ähnlich wie die Bertelsmann-Stiftung auf dem Gebiet der Bildungs- und
Hochschulpolitik das CHE fördert, so finanziert sie in Sachen
Gesundheitswesen das Centrum für Krankenhaus-Management (CKM) an
der Universität Münster. Dort unterhält sie außerdem eine
Stiftungsprofessur für Krankenhausmanagement. Auf diese und andere Weise
nimmt die Stiftung Einfluss auf die Gesundheitspolitik (siehe Matthias
Volke 2010 und Hermann Werle 2010). Das gesundheitskommerzielle
Interesse der Bertelsmann-Eigentümerfamilie Mohn erweist sich u. a. auch
aufgrund der Mitgliedschaft von Barbara Mohn im Aufsichtsrat von
Rhön-Klinikum AG, in dem auch der ehemalige Bundeswehr-Minister zu
Guttenberg Mitglied war (siehe Zeitungsausriss 2). Bei der Rhön-Klinikum AG handelt es sich um eine börsennotierte Betreibergesellschaft von Krankenhäusern, Kliniken und Medizinischen Versorgungszentren.Die AG erwirtschaftete 2012 einen Gewinn von 91,97 Millionen Euro bei einem Gesamtumsatz von 2,87 Milliarden Euro.
Zeitungsausriss 2: Aus „Weser Kurier“ Nr. 244 vom 17. Oktober
2009 anlässlich eines Berichts über die Trauerfeier für Reinhard Mohn,
das verstorbene Oberhaupt der Bertelsmann-Eigentümerfamilie Mohn.
Personelle Verflechtungen wie beim CKM bestehen auch im Bereich von Forschung, Lehre und Beratung durch das Centrum für soziale Investitionen und Innovationen
(CSI) an der Universität Heidelberg. Das CSI agiert als
Forschungsagentur für den gemeinnützigen Sektor in Deutschland und
Europa. Sein geschäftsführender Direktor ist Volker Then, der früher als
Leiter des Bereichs Stiftungswesen und Zivilgesellschaft bei der Bertelsmann Stiftung beschäftigt war.
Entsprechend ihrer Nähe zum Bertelsmann-„Medienimperium“
(Böckelmann/Fischler 2004) agiert die Stiftung erwartungsgemäß ebenfalls
auf medienpolitischem Gebiet (siehe Leidinger/Schöller 2010). Aber auch
die arbeitsmarktpolitischen Regelungen und Einschnitte unter Hartz IV wurden von der Bertelsmann-Stiftung propagiert.
Die Sozialrechtlerin Helga Spindler hat im Einzelnen belegt, wie die
Arbeitsgruppen der Bertelsmann-Stiftung „schon seit 1999 mit vielen
Fachleuten an diesem Thema zielstrebig gearbeitet und durchgängig die
Verschlechterung der Rechtspositionen von Arbeitslosen propagiert“ haben
(Spindler 2010, 303). Infolge der Hartz-Regeln und ihrem
quasi-militärischen Zuschnitt können heute Leiharbeiterinnen und
Leiharbeiter wie an der Kriegsfront von Einsatzort zu Einsatzort
befehligt werden.
Bertelsmann und die Militarisierung der Politik
Ein besonders wirkungsvolles Instrument zur Beeinflussung von Politik
und Gesellschaft ist das oben, im Zusammenhang der Venusberg-Gruppe
angesprochene Centrum für angewandte Politikforschung
(CAP) an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Das CAP wähnt sich
als das größte universitäre Institut der Politikberatung in Deutschland.
Es ist an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Medien
angesiedelt, befasst sich mit europäischen sowie internationalen Fragen
und liefert Entwürfe zu EU-Reformen sowie militärisch relevante Analysen
und Empfehlungen zur „Sicherheitspolitik“ Deutschlands und der EU.
Als sein Hauptarbeitsgebiet bezeichnet das CAP im weitesten Sinne die Europäische Einigung. Dabei werden u. a. Rüstungs- und Militärfragen sowie Themen wie Naher Osten, Transatlantische Beziehungen mit den USA und Osterweiterung einbezogen. Von der Bertelsmann-Stiftung finanziert wird auch die 1999 am CAP gegründete „Bertelsmann Forschungsgruppe Politik“.
Bei der militaristischen Durchdringung der Gesellschaft spielen auch
Projekte der Bertelsmann-Stiftung eine Rolle, die im Bereich Innere Sicherheit und Ehrenamt
angesiedelt sind. Die Stiftung ist bemüht um die Kooperation mit den
Bürgermeistern und Kommunalverwaltungen, den Wohlfahrtsverbänden sowie
mit Organisationen der Zivilgesellschaft, mit den Kirchen und anderen
Stiftungen. Nicht zuletzt pflegt sie Beziehungen zu den Parteistiftungen
und zum Deutschen Gewerkschaftsbund (siehe Zeitungsausriss 3).
Zeitungsausriss 3: Aus „junge Welt“ Nr. 244 vom 21. Oktober 2013. Überschrift: „Friedenspolitik à la DGB“.
Kurz zusammengefasst: Die Bertelsmann-Stiftung ist eine Art Zentrale
innerhalb eines von ihr finanzierten Informations- und
Kommunikations-Netzwerks, das vier Funktionen aufweist.
- Zum einen werden über die Verbindungen des Netzwerks die
politisch-ökonomischen Zielsetzungen und neoliberalen Vorstellungen
einschließlich der militärpolitischen Visionen der Stiftung und des
Mutterkonzerns Bertelsmann kommuniziert und verbreitet – nicht zuletzt
durch Nutzung der zum Konzern gehörenden Print-, Radio- und TV-Medien,
auf deren wohlwollende Berichterstattung und Home Stories auch die
Politik – nicht zuletzt Bundeskanzlerin Angela Merkel in
freundschaftlicher Verbundenheit mit Bertelsmann-Chefin Liz Mohn – gerne
zurückgreift (siehe Zeitungsausriss 4)
Zeitungsausriss 4: Aus „Der Tagesspiegel“ Nr. 19 321 vom 24.
September 2006. Die Reportage von Harald Schumann trägt den Titel:
„Macht ohne Mandat. Die Experten der Bertelsmann-Stiftung sind in der
deutschen Politik allgegenwärtig: Von den Kommunen bis zum Kanzleramt,
von den Hochschulen bis zur Sozialhilfe. Frage: Beraten sie die
Politiker nur – oder machen sie selbst Politik?“
- Zum zweiten erweist sich die Stiftung, die mit internationalen
Niederlassungen in Madrid und New York vertreten ist, durch ihr
scheinbar seriöses, mit den Ergebnissen wissenschaftliches Studien
unterfüttertes Auftreten als nützlich für die Imagepflege im Interesse
sämtlicher Unternehmensbereiche der Bertelsmann SE & Co. KGaA im globalen Maßstab. - Drittens: Die Kontakte und Programme der Stiftung dienen zur
Kundenpflege, vor allem aber zur Erzeugung einer Nachfrage nach
Produkten des Konzerns und zur Gewinnung neuer Kunden und Abnehmer. Das
zeigt sich u. a. im Schul- und Bildungswesen, im Bereich der
Kommunalverwaltungen und im Informationswesen, beim Vertrieb und der
Adressenverwaltung, bei Kampagnen und in der Logistik. - Nicht zuletzt hat die Bertelsmann-Stiftung im
Gewinnmaximierungskalkül des Konzerns einen festen Platz nicht nur als
unverdächtige Marketing-Agentur sondern auch als „Steueroase“.
Unser angeblicher Frieden
Die von der „Bertelsmann Forschungsgruppe Politik“ des CAP ins Leben
gerufene Venusberg-Gruppe spricht sich vehement für eine Militarisierung
Europas aus, auch wo sie dies bestreitet. Allerdings ist das
militaristische Plädoyer aus der „Denk“-Fabrik der Bertelsmann-Stiftung
und der „Bertelsmann Forschungsgruppe Politik“ des CAP sprachlich
geschickt in einer Sicherheits- und Schutzverantwortungsfolie verpackt und derart ansprechend serviert, dass man meinen könnte: Ein Schelm ist, wer da Böses denkt.
Das Leugnen der Militarisierungsabsicht und ihre Verschleierung mit
den Mitteln der Sprache sind weitere Erscheinungsformen des
Neo-Militarismus. Sie sind typisch für seine Agenten: Kriegstreiber
soft. Dies zu thematisieren und im Detail zu untersuchen, setzt voraus,
die Täuschungsmethoden von Orwellschen Dimensionen aufzuklären (siehe
Orwell, 1984: „Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, und
Unwissenheit ist Stärke.“) und die Vernebelungsmachenschaften aus dem
Wörterbuch des modernen Unmenschen zu entlarven (siehe Sternberger /
Storz / Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, Hamburg 1957;
München 1962).
Es muss immer wieder betont werden, dass die Wortführer und Agenturen
der gegenwärtigen Militarisierung in einem demokratisch
unkontrollierten, der Bevölkerung gegenüber nicht
rechenschaftspflichtigen, von außen kaum einsehbaren und
undurchschaubaren Vernetzungszusammenhang handeln. Darüber hinaus
erfreuen sie sich einer besonderen medialen Resonanz, die sich jedoch
keiner nennenswerten kritischen Gegenöffentlichkeit zu stellen hat. Am
Beispiel der Bedrohungsszenarien und der daraus abgeleiteten
militärstrategischen Leitlinien der Venusberg-Gruppe zeigte sich, dass
die Prozesse und Funktionen der Militarisierung heute – nicht zuletzt
dank der Elektronik und ihrer Fortentwicklung – weitaus vielfältiger und
vielschichtiger sind als früher.
In der Informations- und Mediengesellschaft des Digitalen Zeitalters herrscht eine allseitige Präsenz des Militärischen.
Die Neo-Militarisierung infiltriert die Welt der Informationen und
ihrer mediale Präsentation. Zwar orientiert sich das militärische
Strategiekonzept heute einerseits immer noch an der
klassisch-traditionellen Militarismus-Idee des Großkrieges „Staat gegen
Staat“ oder „Block gegen Block“ oder „Gute und Willige gegen die
Schurkenstaaten“. Um militärisch zu intervenieren, wird zum Teil immer
noch von einem feindlichen Gegenüber ausgegangen, bei dem es sich um die
Streitkräfte eines anderen Territorialstaates oder anderer, miteinander
verbündeter Territorialstaaten handelt.
Der zivil-militärische Kampf-Raum
Auf der anderen Seite wird aber das herkömmliche Konzept des
„symmetrischen“ Kampfes gegen eine identifizierbare feindliche Armee
ergänzt und überholt durch die neo-militaristische Wahnidee vom „asymmetrischen“ Krieg.
An die Stelle des zweidimensionalen Schlachtfeldes, auf dem sich Armeen
gegenüberstehen und bekriegen, ist die Vorstellung eines
dreidimensionalen Kampf-Raumes („battle space“) getreten, der sich über
die gesamte Welt erstreckt. Diese Art Krieg kennt keine territorialen
Grenzen, sondern geht aus von der Allgegenwart der Bedrohung, der
Sabotage und des Terrors.
Solange das kritische Bewusstsein nicht erwacht und gegen die
herrschenden Verhältnisse Widerstand leistet, überlappen und vermengen
sich im Digitalen Zeitalter das Zivile und das Militärische.
Schon 1982 hat der Politikwissenschaftler und Militärsoziologe Wilfried
von Bredow in seiner Studie „Moderner Militarismus“ darauf aufmerksam
gemacht, dass sich die „strikte Trennung der Bereiche zivil und
militärisch … zunehmend verwischt“ (S. 111). Deshalb erscheint der Neo–Militarismus
weniger martialisch und kriegerisch zu sein als der klassische
Militarismus der Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Zwar ist der Krieg im
Digitalen Zeitalter nicht weniger brutal als damals, er erscheint aber
als geschmeidiger, bunt, aufregend und abwechslungsreich wie das Spiel
an Videokonsolen.
Weil das Zivile und das Militärische ineinander übergehen, wähnen wir
uns noch immer als freie Subjekte, sind in Wahrheit aber Objekte der
Militarisierung. Wenn wir uns informieren oder miteinander
kommunizieren, wenn wir konsumieren oder etwas organisieren und planen,
wenn wir uns mit jemandem verabreden oder etwas wissen wollen, wenn wir
lernen und arbeiten – wir sind im Visier des Neo-Militarismus und sein
potenzielles Opfer. Jeder und jede Einzelne stehen unter
Feindesverdacht. Jeder und jede – d. h. wir alle – sind tendenziell
Zielscheibe einer Amok laufenden Überwachungs-, Auskundschaftungs- und Auslöschungsmaschinerie. Gleichzeitig und nachhaltig wird jeder und jede mit dem Virus der Angst infiziert, der besagt, dass unser Nachbar der Feind ist.
So gesehen, und weil das Kriegsgeschehen in der Welt tagtäglich medial präsent ist, befinden wir uns schon heute mitten im Krieg.
Der Kriegszustand herrscht, auch wenn in Deutschland zur Zeit keine
getöteten Soldaten und keine militärisch ermordeten Zivilisten zu
beklagen sind, keine zerbombten Wohnhäuser, zerstörten Fabriken und
keine ruinierte Infrastruktur, keine Migrantinnen und Migranten, deren
Fluchtboote vor unseren Küsten kentern, keine Kriegsflüchtlinge, die in
Massenlagern verelenden … Dies alles ist fern von uns.
Aber dieser Noch-Frieden ist trügerischer Schein. Er gründet darauf,
dass andere Menschen an anderer Stelle – und an Stelle von uns – bluten,
vertrieben, gefangen, gefoltert und getötet werden, dass anderswo die
Zerstörung wütet, dass anderswo unbeschreibliche, zugleich aber sinnlose
Opfer gebracht werden müssen.