Abtreibung in Marokko: eine heikle Debatte
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Rik Goverde
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Übersetzt von Milena Rampoldi میلنا رامپلدی |
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Herausgegeben von Fausto Giudice Фаусто Джудиче فاوستو جيوديشي |
Abtreibung ist in Marokko illegal, außer bei Gefahr für das Leben der
Frau. Aber vor kurzem hat der König eine Revision des Gesetzes
angeordnet.
Rabat. Salma sagt, ihre erste Abtreibung sei keine große Sache
gewesen, als diese in Rabat ausgeführt wurde. Nach einem positiven
Schwangerschaftstest, fragte sie im Freundinnenkreis herum und ging in
die Klinik. Die Prozedur nahm ungefähr 15 Minuten in Anspruch, erinnert
sie sich. Vielleicht aber auch weniger.
„Der Arzt führte die Abtreibung durch Absaugung durch, ohne
Betäubung, da diese gar nicht notwendig war“, erzählte sie Middle East
Eye, während sie auf einem Sofa in ihrer Wohnung in Rabat saß.
Salma, 44, führt ihren Daumen und ihren Zeigefinger eng zusammen, um
die Größe des Zellenbündels zu zeigen, das in ihrem Bauch herangewachsen
war. „Ich war drei Wochen schwanger, vielleicht einen Monat. Der Embryo
war noch sehr klein. Ich fühlte mich nicht schuldig. Es war ein Unfall,
und es war nicht der richtige Moment, um ein Kind zu bekommen“.
Die von einem Arzt durchgeführten Abtreibungen – sie hatte mehrere –
kosteten je ungefähr 270 € (3 000 Dirham). Salma (das ist nicht ihr
wahrer Name) meint, dass sie das Glück hatte, sich das überhaupt leisten
zu können. „Ich kann mir aber vorstellen, dass Mädchen, die weniger
finanzielle Mittel zur Verfügung haben, sich an Menschen wenden, die
überhaupt nicht qualifiziert sind oder andere Methoden anwenden.“
Diese Beobachtung ist der Fokus einer heftigen, aber heiklen Debatte,
die aktuell in Marokko geführt wird. Auf Verordnung von König Mohamed
VI hin, der sich zum ersten Mal zu diesem Thema äußerte, wird das
einschränkende Abtreibungsgesetz des Königreichs revidiert.
Chloé Poizat, Libération, Frankreich
Die Abtreibung ist gemäß dem Artikel 453 des Strafgesetzbuches nur
gestattet, falls die Gesundheit der Mutter in Gefahr ist. Im März
beauftragte König Mohamed VI den Minister für Islamische Angelegenheiten
und den Justizminister, sie sollten nach Beratung mit islamischen
Gelehrten und Menschenrechtsorganisationen einen Gesetzesentwurf
ausarbeiten.
Seine Entscheidung wurde von vielen willkommen geheißen. „Das
marokkanische Strafgesetzbuch ist sehr einschränkend; das Gesetz ist
frauenfeindlich“, teilte der marokkanische Gesundheitsminister Houssaine Louardi
vor kurzem Associated Press mit. „Es berücksichtigt die Realität nicht,
in der die Marokkaner heutzutage leben – es ist somit unbedingt
notwendig, dieses Gesetz zu revidieren.“
Dr Chafik Chraibi, ein langjähriger Aktivist gegen die illegale
Abtreibung, spielt eine wesentliche Rolle in der Debatte. Chraibi verlor
im Februar seine Stelle als Oberarzt in der Entbindungsklinik Les
Orangers in Rabat, nachdem er im französischen Fernsehen aufgetreten
war, um über das Thema zu sprechen. Dies hat die Debatte zum Thema der
Abtreibung neu geweckt, die in Marokko seit Jahren ab und zu geführt
wird.
In seiner Praxis berichtete Chraibi, hinter einem Eichenschreibtisch,
MEE von seinen alltäglichen Treffen mit schwangeren Frauen, die
suizidgefährdet und sozial ausgeschlossen sind oder die nur gebaren und
ihr Neugeborenes dann in einen Müllcontainer warfen; Frauen, die die
Abtreibung von einer unerfahrenen Hebamme, einem unqualifizierten Arzt
durchführen ließen oder sogar selbst außer Haus auf einem Stuhl
vornahmen. Sie leiden unter heftigen Blutungen, Infektionen und
psychischen Problemen.
„Ich bin schon seit 30 Jahren in diesem Beruf“, so Chraibi. „Und nichts hat sich wirklich geändert in dieser ganzen Zeit.“
Chraibis NRO, der Vereinigung zum Kampf gegen klandestine Abtreibung
(AMLAC) zufolge, treiben 600 bis 800 Frauen jeden Tag in Marokko ab, das
heißt, mindestens 220.000 illegale Abtreibungen werden pro Jahr
durchgeführt. Die Zahl erscheint hoch, denn sie würde bedeuten, dass auf
8,29 Millionen Frauen im Alter zwischen 15 und 44 mindestens eine von 38 im Jahre 2014 eine Abtreibung hatte.
Chraibi gibt zu, dass die Schätzung schwer überprüfbar ist. „Es gibt
eine Studie über Rabat und Salé, und in dieser Region gibt es mindestens
50 illegale Abtreibungen pro Tag. Wir haben diese Daten auf das gesamte
Land übertragen. Unsere Schätzung entspricht der der Marokkanischen
Vereinigung für Familienplanung und der der
Weltgesundheitsorganisation.“
Die Abtreibung ist eine sehr heikle Angelegenheit in der
marokkanischen Gesellschaft, in der man versucht, ein Gleichgewicht
zwischen Moderne und Tradition herzustellen, indem man gleichzeitig den
traditionellen, religiösen Werten treu bleibt. „Aber im Koran gibt es
keinerlei Hinweise auf ein Verbot der Abtreibung“, sagt Chraibi.
Obwohl in vielen Ländern im Nahen Osten bzw. in Nordafrika
einschränkende Gesetze gelten, schließt der Islam die Abtreibung nicht
aus, teilte der Soziologieprofessor Abdessamad Dialmy MEE teil. Dialmy
zufolge hängt es nur davon ab, für welche sunnitische Schule man sich
entscheidet.
„Marokko richtet sich im Allgemeinen nach der malikitischen Schule,
die die Abtreibung verbietet. Aber die hanbalitische und schafiitische
Schule billigen die Abtreibung bis zum 42. Tag, und die hanafitische
Schule sogar bis nach vier Monaten“, so Dialmy.
Dialmy zitiert das Beispiel von Tunesien, wo die Abtreibung 1973
legalisiert wurde. Zu jenem Zeitpunkt war die malikitische Lehre im
Lande vorherrschend wie in Marokko. „So entschied sich Habib Bourguiba
für die hanbalitische Schule zu diesem besonderen Thema. 2004 änderte
Marokko das Familiengesetz, indem es sich zum Teil an der hanafitischen
Schule orientierte.“
Die Debatte ist aber eher gesellschaftlicher als religiöser Natur.
Diamly erklärte hierzu: „Eine unverheiratete schwangere Frau in Marokko
denkt: Allah wird mir verzeihen, aber die Menschen nicht.“
Dies ist Dialmy zufolge der Grund, wofür die Debatte auch auf den
Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe fokussieren sollte. Und dieser ist
illegal. Der von Gesetzes wegen biologische Vater kann nicht in
juristischer Hinsicht der Vater sein, wenn das Paar unverheiratet ist.
„Dies bedeutet, dass das Kind keine wahre Identität hat“, so Dialmy.
„Wenn wir aber den Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe legalisieren,
so ist der biologische Vater auch der Vater im juristischen Sinne und
wir entziehen die Hauptgründe der Abtreibungen.“
Demo für die Rechte der Frauen
Aber dazu wird es wohl nicht kommen. Der Justizminister Mustafa Ramid
führt im Moment eine gründliche Revision des marokkanischen
Strafgesetzes durch. Vor kurzem meinte er, dass zwei Dinge nicht
legalisiert werden könnten: das Fastenbrechen in der Öffentlichkeit
während des Ramadan und außerehelicher Geschlechtsverkehr. Somit werden
die meisten Abtreibungen auch in Zukunft illegal bleiben.
Dr Chraibi geht davon aus, dass der neue Gesetzesentwurf die
Vergewaltigung, den Inzest und die fetale Missbildung als Gründe für die
legale Abtreibung anerkennen wird. Diese Faktoren werden ungefähr 5-10
Prozent der Fälle ausmachen, schätzt er. Die Gesundheit der Mutter ist
in weiteren 5-10 Prozent der Abtreibungsfälle in Gefahr.
„Dies bedeutet, dass auch gemäß dem neuen Gesetz mindestens 80
Prozent aller Abtreibungen illegal sein werden. Was werden wir in diesen
Fällen tun?“, fragt Chraibi.
Das ist der Grund, wofür einige MenschenrechtsaktivistInnen teilweise
der Meinung sind, dass die aktuelle Debatte die falsche ist. Sie sollte
sich nicht auf den Kampf gegen die illegale Abtreibung konzentrieren,
sondern auf die Selbstbestimmung der Frau, so Ibtissame Lachgar von der
Alternativen Bewegung für die individuelle Freiheiten (MALI), einer kleinen Gruppe von Aktivisten, die sich seit Jahren für die individuelle Freiheit einsetzt.
„Die Menschenrechte dürfen nicht von einer Region, von der Hautfarbe
oder von der Religion abhängen. Sie sind universell. Der Körper der Frau
ist ihr Eigentum“, teilte sie MEE mit.
Lachgar zufolge wäre es kein „guter erster Schritt“, die Abtreibung in den Fällen von Inzest und Vergewaltigung zu legalisieren.
„Falls ein neues Gesetz verabschiedet wird: müssen dann alle Frauen
behaupten, vergewaltigt worden zu sein, um abtreiben zu dürfen? Das ist
barer Unsinn.”
Die Abtreibung ist in Marokko ein wahres Geschäft geworden,
behauptete sie gegenüber MEE. Ärzte können verlangen, was sie wollen,
manchmal sogar bis zu 30.000 Dirham (2700 €), weil Frauen sich an
niemanden anderen wenden können. Und das muss ein Ende haben, sagt
Lachgar.
„Menschen, die meinen, dass Frauen Gelegenheitssex haben werden, nur
weil die Abtreibung legal ist, die haben keine Ahnung, wovon sie
sprechen“, teilte Lachgar MEE mit. „Keine Frau treibt aus Spaß ab.“
Tlaxcalas
Anmerkung: Dieser Artikel wurde am 30. April 2015 veröffentlicht.
Inzwischen wurde ein neues Gesetz im Mai 2015 angenommen. Es ist
minimalistisch, indem es die Abtreibung nur in drei Fällen erlaubt:
fetale Missbildung, Vergewaltigung und Inzest. Die Zivilgesellschaft ist
enttäuscht.