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Philosophisch-translationswissenschaftliche Überlegungen zur Bedeutung der Übersetzung und ihres Einsatzes im Koranunterricht



Ich möchte diesen Artikel mit einer herausfordernden Fragestellung
einleiten: Sind ÜbersetzerInnen, in unserem Falle die KoranlehrerInnen, die im
Unterricht Wörter und Begriffe für ihre SchülerInnen übersetzen, ExpertInnen
für interkulturelle Kommunikation? Wie gehen sie mit dem islamischen Prinzip
der Unübersetzbarkeit des Korans um?
Die Geschichte der Übersetzungswissenschaften in der islamischen
Welt war und ist bis heute dialektisch durch die Gegenüberstellung zwischen dem
Dogma der Unübersetzbarkeit des Korans und den sogenannten sinngemäßen
Reproduktionen des Korans in den Muttersprachen der Muslime und Musliminnen aus
aller Welt gekennzeichnet. Gleichzeitig aber diente die Übersetzung den Arabern
stets als Mittel, um die anderen nicht-muslimischen Kulturen kennenzulernen.
Der italienische Arabist und Islamwissenschaftler Francesco
Gabrieli betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Übersetzung als
kulturelle Mediation im Zeitalter der Abbasiden[1],
das ich hier, vor allem in Bezug auf Ibn al-Muqaffa‘, als Beispiel zitieren
möchte.
Wenn man diese Anschauung der Arbeit des Übersetzers bzw. der
Übersetzerin auf den Koranunterricht bezieht, so erkennt man klar und deutlich
die Rolle des Koranlehrers/der Koranlehrerin als interkulturelle MediatorInnen,
wie sie der australische Sozialpsychologe Robert Taft nennt, wenn er schreibt:
„Ein inter-kultureller
Mediator ist die Person, welche die Kommunikation, das Verständnis und die
Interaktion zwischen Personen oder Gruppen erleichtert, die sich in Sprache und
Kultur unterscheiden“[2]
.
Die heutige Lehrperson hat somit im Koranunterricht die Aufgabe,
sich instrumental der Übersetzung zu bedienen, um das Verständnis des arabischen
Korans zu fördern.
Wie es Ibn al-Muqaffa‘ zu seiner Zeit gelang, zwischen Indien,
Persien und dem arabischen Raum zu vermitteln, so hat heute der Koranlehrer/die
Koranlehrerin die Aufgabe, das dogmatische, geschichtliche, wissenschaftliche
und sprachliche Erbe des Korans an die Kinder zu vermitteln, indem er/sie im
Klassenraum auch die Übersetzung in die Muttersprache der Kinder als Mittel
verwendet, um dieses Verständnis zu fördern.
Diese Rolle des Übersetzers als Vermittler ist schon seit Beginn der
islamischen Geschichte präsent, da das Erbe der arabisch-islamischen Kultur im Bereich
der Übersetzungswissenschaften sehr bedeutend ist, wie anhand der Bespiele der
Abbasiden und Andalusiens klar wird[3].
Die Araber erkannten früh die Bedeutung der Vermittlung durch die
Überset-zung, um neue Kulturkreise zu erschließen und sich fremdes Wissen
anzueignen. Heute geschieht genau das Umgekehrte: in einer europäischen Kultur
wird der Islam gelehrt, der sprachlich vermittelt werden muss, um ihn zu
verstehen und kennen zu lernen.
Nun möchte ich versuchen, den Begriff des „Übersetzens“ näher zu
definieren und philosophisch zu hinterfragen, da er nicht einfach darin
besteht, Wörter von einem Sprachkodex in den anderen zu übertragen. In diesem
Zusammenhang ist der Begriff von Marianne Lederer angebracht, die von „neuer
Kodierung“ spricht, wenn sie sich auf das Übersetzen bezieht. Die Übersetzung
beschränkt sich nicht einfach auf den Übergang eines Wortes von einer Sprache
auf die andere, sondern auf Übersetzungsmomente, die das Ziel verfolgen, „den
Originaltext, seine sprachliche Form neu zu verbalisieren und in einer anderen
Sprache die Anschauung und die Emotionen auszudrücken, die im Laufe dieses
Prozesses verstanden und erfasst wurden“[4].
Vor allem im Falle des Korans, der im islamischen Glauben als
göttliche Offen-barung in arabischer Sprache gilt, sind diese Schritte wie die
Deverbalisierung, die Vermittlung zwischen Lektüre und neuer Formulierung einer
semantischen Einheit im Übersetzungsprozess notwendig, um das semantische und
historisch-sprachliche Universum des Korans an die Kinder weiterzugeben, die
aus ver-schiedenen Kulturkreisen und Sprachfamilien stammen.
Dies kann nur erfolgen, wenn der Lehrer/die Lehrerin den Koran
nicht nur als bloßes Wörteraggregat, sondern als Sinnzusammenhang zu vermitteln
versucht. Hier gilt auch das Prinzip der Übereinstimmung trotz der Unterschiede
zwischen dem Ausgangstext und dem Übersetzungsversuch, wie es der russische
Linguist und Literaturtheoretiker Roman Jakobson definiert[5].
Im Rahmen der LehrerInnenbildung kann es sehr nützlich sein, den
Koranlehrern und –lehrerinnen die Theorie von Peter Newmark nahezulegen, wenn
es um die Übersetzung von Begriffen und Versen aus dem Koran geht. Dieser
zeitgenössische Translationswissenschaftler aus England unterscheidet zwischen
semantischer und kommunikativer Übersetzung. Die erste verleiht dem
Ausgangstext, in unserem Falle dem Koran, die größere Bedeutung und behält, wo
dies möglich ist, seine semantischen und syntaktischen Eigenschaften bei. Diese
Art von Übersetzung verfolgt das Ziel, als umfassend, universell, einheitlich
und fast metahistorisch zu fungieren. Da der Koran aber auch historisch ist und
offenbarungsgeschichtlich verstanden werden soll, muss der Koranlehrer/die
Koranlehrerin auch die kommunikative und empirische Ebene der Koranübersetzung
erfassen, mit der die didaktische Zielsetzung auch erfüllt wird. Die
meta-historische Übersetzung wird auf eine höhere Ebene, die der
interkulturellen Mediation erhoben, in deren Rahmen die Prinzipien der
Hermeneutik gelten.
Der italienische Übersetzungswissenschaftler Gianfranco Folena[6] hat
diesen Übergang anhand der Überwindung der mittelalterlichen
Übersetzungstheorien durch den Humanismus studiert. Im Falle des Korans geht es
um die Überwin-dung der Übersetzungen in den Kanzleien[7]
und
Übersetzungszentren der ara-bisch-islamischen Geschichte durch eine neue
hermeneutische Übersetzung des Korans.
Ich möchte nun folgende Richtlinien anführen, an die sich die
KoranlehrerInnen halten sollen, wenn sie im Koranunterricht für die
SchülerInnen Wörter oder Verse aus dem Koran vor allem ins Deutsche übersetzen:
(1) Die Lehrperson, welche die Übersetzung ausführt, muss die
Quellsprache (d.h. das Koranarabische) sehr gut beherrschen.
(2) Sie soll auch die Zielsprache, in diesem Falle die deutsche
Sprache, als erste und als Zweitsprache die Sprache des eigenen Herkunftslandes
(bei Lehrern und Lehrerinnen mit Migrationshintergrund) sehr gut beherrschen,
vor allem, um den Schülern und Schülerinnen die semantischen und synonymischen
Feinheiten des Offenbarungstextes vermitteln zu können.
(3) Ausgehend von der grammatikalisch-semantischen Ebene soll der
Übergang auf die rhetorische Ebene erfolgen. Die Lehrperson soll das
stilistische und ästhetisch-rhythmische Feingefühl besitzen, um die Koranverse
auch als musikalische Einheiten übersetzen zu können.
(4) Die Offenbarungssprache muss die Lehrperson emotional und
ästhetisch auch involvieren, um sie in die Lage zu versetzen, diese
Klangeinheiten den Kindern erfolgreich vermitteln zu können.
Diese idealistische Vision bleibt aber immer überschattet von den
Worten des abbasidischen Gelehrten al-Ğāhiz[8],
der von der Schwierigkeit der Übersetzun-gen aus dem Arabischen spricht und
anführt, dass der Sinn der Verse verloren geht, dass der Stil abhandenkommt und
auch der Akzent verloren geht, wenn man das Arabische in die Zielsprache
überträgt.
Es mag paradox klingen, aber gerade der Idealismus sollte die
PädagogInnen und KorandidaktikerInnen dazu führen, auch diese pessimistische
Anschauung zu berücksichtigen, wenn sie den Koran sinngemäß in eine andere
Sprache zu übermitteln versuchen. Positiv ausgedrückt, sollte im Sinne von Paul
Valery Folgendes angestrebt werden, wenn man sich der Übersetzung der
Offenbarung sprachlich und emotional hingibt:
„Die Übersetzung soll nicht
den Ausgangstext mit dem Zieltext vergleichen, sondern soll zum Ort werden, an
dem sich … zwei dynamische kreative Prozesse treffen“[9].
Meiner Meinung nach geht es in der Lehrerfortbildung darum, den
Koranleh-rern und -lehrerinnen klar zu zeigen, wie ein Idealismus auf der Ebene
der theoretischen Philosophie und ein anfänglicher Pessimismus im Bereich der
Di-daktik paradoxerweise doch einen pädagogischen Optimismus ganz im Sinne von
al-Ğāhiz hervorbringen können, denn es geht im Koranunterricht letztlich darum,
den neuen Generationen die Wissenschaft und die Offenbarung zu ver-mitteln.
In diesem Sinne schlägt al-Ğāhiz auch eine Brücke zur
zeitgenössischen Herme-neutik von Martin Heidegger und Hans Gadamer. Gadamer
schreibt über die Übersetzung sehr prägnant:
Die Übersetzung ist immer eine Interpretation, man kann sagen,
sie ist die Vollendung der Interpretation, die der Übersetzer dem Wort
gegeben
hat
.[10]
Übersetzung heißt für mich in der pädagogischen Arbeit die
dauernde Suche nach der Perfektion und der konstante Versuch, der koranischen
Wahrheit zu entsprechen. Der Korantext ist ein Erzeugnis der
Offenbarungsgeschichte, der verbalen Beziehung zwischen Allah (swt) und dem
Propheten Mohammad (sas) und den Musliminnen und Muslimen und muss daher wie
nach Apel geschichtlich-hermeneutisch verstanden und auch dementsprechend
ausgelegt werden[11].
Die KoranlehrerInnen haben auch die Aufgabe, den Koran in Europa korrekt
zu vermitteln. Die Verantwortung der KoranlehrerInnen besteht in diesem Bereich
gerade darin, den Kindern den Koran so zu vermitteln, dass eine fruchtbare
Kultur des Dialogs und der konstruktiven interkulturellen Kommunikation mit der
Gastgesellschaft entstehen kann.
Was sehr wichtig ist, wenn man von der notwendigen Übersetzung des
Korans im Koranunterricht spricht, ist es, diese als fachübergreifende Arbeit
anzusehen, wie Friedmar Apel[12]
im
Allgemeinen von der Translationswissenschaft fordert. Die Sprache befindet sich
in einer dauernden Wechselbeziehung zum sozio-kulturellen Kontext, in dem sie
sich befindet. Dies gilt nach wie vor für das Ko-ranarabische in der
dynamischen Realität der zeitgenössischen pädagogischen Arbeit der
KoranlehrerInnen im deutschen Sprachraum. Wie Halliday[13]
behaup-tet,
bedeutet der schriftliche Text Kommunikation. Übertragen auf den Koran,
bedeutet das die Kontextualisierung der Offenbarungsgeschichte des Islam in der
multikulturellen Grundschulklasse von heute im deutschen Sprachraum.
Und in diesem Kontext ist auch die Übersetzungsaufgabe der
LehrerInnen ange-siedelt. Wie der Ausgangstext des Korans semantische Werte
vermittelt, so er-folgt dies auch über die Übersetzung, die von den kleinsten
semantischen Ein-heiten, den so genannten chunks, wie sie Halliday so
treffend nennt, ausgeht.
Ganz im Sinne von George Steiner[14] gilt
im Übersetzungsprozess nicht die Sprache als vordergründig, sondern die
Geschichte und die Kultur, in unserem Fall die koranische Offenbarungsgeschichte
und die islamische Kultur. Die Hermeneutik sollte eine ethisch-kommunikative
Aufgabe erfüllen und sich der koranischen Dimension des Anderen, der für die
gläubigen MuslimInnen Allah (swt) bedeutet, öffnen.
Diese utopische Dimension der Übersetzung möchte ich immer als das
Ideal im Gegensatz zur Realität des Koranunterrichts vor Augen halten und nicht
abtun, weil sie idealistisch und unerreichbar ist, sondern sie gerade deshalb
anstreben. Ich finde nämlich sehr wohl, dass die Utopie nicht nur in Religion
und Philosophie, sondern auch in Pädagogik und Didaktik ihren ebenbürtigen
Platz einnehmen sollte. 
Dr. phil. Milena Rampoldi 
Redaktion von ProMosaik e.V. 


[1] Vgl.
Gabrieli, Francesco: Storia della letteratura araba, Sansoni, Florenz 1967,
S. 184. In diesem Zusammenhang schreibt der Autor über: „die unvergleichliche
Bedeutung, die sein Werk (das Werk des Ibn al-Muqaffa’) im Bereich der
interkulturellen Mediation hatte, und als raffinierter Stylist im Rahmen der
abbasidischen Kultur…“
[2] Siehe
in diesem Zusammenhang den Beitrag von Robert Taft: vgl. Taft, Robert: „The
Role and Personality of the Mediator“, in: Bochner, Stephen: The
Mediating Person: Bridge between Cultures,
Schenkmann, Cambridge 1982, S.
53.
[3] Vgl.
dazu die Studie von Cassarino, Mirella:
Traduzioni e
traduttori arabi dallVIII allXI
secolo, Salerno Verlag, Rom 1998.
[4]
Vgl.
hierzu: Lederer, Marianne:
La traduction aujourdhui,
Paris, Hachette 1994, S. 11.
[5] Siehe
hierzu: Tradurre, un approccio multidisciplinare, herausgegeben von M.
Ulrych, UTET, Turin 1998, S. 4: „Die Übereinstimmung zwischen zwei
verschiedenen Sprachen entspricht nicht notwendigerweise der vollständigen
Übereinstimmung des semantischen Inhaltes, insofern als verschiedene
Sprachkodexe ein und dieselbe außersprachliche Realität auf eine verschiedene
Art und Weise darstellen können”. Dies gilt vor allem, denke ich, wenn es um
Offenbarungstexte geht.
[6] Vgl.
hierzu die Monographie des Autors zum Thema: Folena, Gianfranco: Volgarizzare
e tradurre,
Einaudi, Turin 1991.
[7] Vgl.
dazu vor allem Übersetzungen im Bereich der Verwaltung und Kulturgeschichte im
Zeitalter von Harun al-Rashid. Über diese Übersetzungstechniken äußert sich der
Historiker Philipp K. Hitti Folgendermaßen: „Im Falle zahlreicher schwieriger
Textabschnitte im Originaltext, wurde die Übersetzung wortwörtlich
durchgeführt, und wo keine arabischen Begriffe gefunden worden oder diese als
unbekannt galten, wurden die griechischen Wörter einfach durch Transliteration
übernommen und irgendwie angepasst“. Vgl. hierzu: Hitti, Philipp K.: History
of the Arabs from the Earliest Times to the Present,
Macmillian, London
1968, S. 311.
[8] Vgl.
Al-Jahiz, Abu ‘Uthman ‘Amr Ibn Bahr al-Kinani al-Basri: Kitab al-
bayan
wat
-tabyin, Matba’at
Lajnat at-Ta’lif wa-t-Tarjama wa-n-Nashr, Kairo 1948, 4 Teile in zwei Bänden.
Siehe des Weiteren: Al-Jahiz, Abu ‘Uthman ‘Amr Ibn Bahr al-Kinani al-Basri: Kitab
al-hayawan,
Matba’at wa Maktabat Mustafa al-Baba al-Halabi wa auladihi,
Kairo 1965–1969.
[9] Siehe
dazu: Tradurre, un approccio multidisciplinare, herausgegeben von M.
Ulrych, UTET, Turin 1989, S. 263.
[10] Vgl.
hierzu: Gadamer, Hans: Wahrheit und Methode, Mohr Siebeck, Tübingen
1960, S. 362.
[11] Vgl.
hierzu: Apel, Friedrich: Literarische Übersetzung, Metzler, Stuttgart
1983, S. 43–44.
[12] Vgl.
dazu: Apel, Friedrich: Literarische Übersetzung, Metzler, Stuttgart
1983, S. 17.
[13] Halliday,
M.A.K.: Language as Social Semiotics. The Social Interpretation of Language
and Meaning,
University Park Press, Baltimore 1978, S. 29. Siehe des
Weiteren: Halliday, M.A.K.: System and Function in Language, (Herausgeber):
G.R. Kress, Oxford University Press, Oxford 1976, S. 47.
[14] Vgl.
dazu sein Hauptwerk zu diesem Thema: Steiner, George: After Babel, Oxford
University Press, New York-London 1975.