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Interview von ProMosaik mit Herrn Sven Wagner von NETZ Bangladesch


Liebe Leserinnen und Leser,
anbei finden Sie das Interview unserer Redaktion mit Herrn Sven Wagner von NETZ Bangladesch, dem ich nochmal für seine Zeit danken möchte.
Entwicklungshilfe und Menschenrechte, Frieden und Gerechtigkeit hängen sehr eng zusammen. 
Wir danken Ihnen allen für Ihre Kommentare zu diesem so tollen Interview.
dankend
Dr. phil. Milena Rampoldi von ProMosaik e.V.
 
 
Dr. phil. Milena Rampoldi: Was
bedeutet für Sie der Begriff Menschenrechte und wie würden Sie einen
Menschenrechtler bzw. eine Menschenrechtlerin definieren?
Sven Wagner: Der Schutz der Menschenrechte eines jeden Einzelnen ist
zentral für die Überwindung von Armut, sozialer Ausgrenzung und für ein
menschenwürdiges Leben. Dem Staat kommt dabei die oberste Pflicht zu, die
Rechte der auf seinem Gebiet lebenden Menschen zu schützen. Im Hinblick auf
eine Reihe sozialer und ökonomischer Menschenrechte sind in Bangladesch in den
letzten 20 Jahren vielfältige Fortschritte erzielt worden. Diesen positiven
Entwicklungen stehen jedoch eine Reihe von Problemen gegenüber, die einen
umfassenden Menschenrechtsschutz für alle Bürger verhindern: Frauen und
gesellschaftlich benachteiligte Gruppen wie in extremer Armut lebende Menschen
oder Angehörige indigener und religiöser Minderheiten sind besonders gefährdet,
in ihren Rechten verletzt zu werden.
Lokale Menschenrechtsverteidiger und
Menschenrechtsgruppen sind nachweislich wichtige Akteure der Menschenrechtsarbeit
in Bangladesch. Sie sind entweder selbst von Menschenrechtsverletzungen
betroffen und setzen für ihre eigenen Rechte ein oder sie sehen, dass anderen
Menschen in ihren Gemeinden Unrecht getan wird, die nicht in der Lage sind,
sich ohne Unterstützung gegen Unrecht zur Wehr zu setzen. 
Dr. phil. Milena Rampoldi: Welche Grundkompetenzen müssen die
Kandidaten mitbringen und welche können Sie sich aneignen, um zum
MenschenrechtlerInnen zu werden?
Sven Wagner: NETZ
arbeitet derzeit mit zwei starken Menschenrechtsorganisationen in Bangladesch zusammen,
die verschiedene Ansätze verfolgen.
Die
Arbeit von Research Initiatives, Bangladesh (RIB) basiert auf einem
Selbsthilfeansatz. 75 Gruppen mit jeweils 20 Mitgliedern treffen sich
monatlich, um ihre Probleme zu besprechen und gemeinsam Maßnahmen zu ergreifen.
RIB begleitet die Gruppen, vermittelt Grundkenntnisse in Menschen-, Frauen- und
Landrechten und führt sie in die praktische Anwendung des 2009 in Kraft
getretenen Informationsfreiheitsgesetzes ein. Die Gruppen lernen dabei, wie sie
Informationsgesuche hinsichtlich der Verteilung von staatlichen
Dienstleistungen bei lokalen Behörden einholen und Anträge auf Zugang zu
solchen Leistungen stellen können. Was sich nach einem hohen und wenig
vielversprechenden bürokratischen Aufwand anhört, ist zu einem schlagkräftigen
entwicklungs- und menschenrechtspolitischen Instrument erwachsen. Denn die
Menschen in Bangladesch können kraft eines Gesetzes Forderungen stellen und
nicht mehr von Behörden abgewiesen werden.
Frauen,
denen Gewalt durch Männer widerfahren ist, hatten beispielsweise in der
Vergangenheit wenig Aussicht auf Strafverfolgung. Auch weil die Polizei Frauen
oft schlecht behandelt und nicht bereit ist, Anzeigen von Frauen zu akzeptieren
– oder nur dann, wenn Bestechungsgelder gezahlt werden. In einem Fall ersuchte
eine Frau Informationen nach Kriterien und Regeln, damit Anzeigen bearbeitet
werden. Zunächst erfolglos. Die Behörden bearbeiteten das Gesuch nicht. Doch
bietet das Gesetz in solchen Fällen die Möglichkeit Anhörungen vor dem öffentlich-rechtlichen
Informationsausschuss einzufordern. Das ist von unschätzbarem Wert für die
Antragssteller. Durch die Möglichkeiten Anhörungen zu initiieren wird den
Menschen auch eine Plattform gegeben, um über gesellschaftliche und
strukturelle Probleme zu sprechen. Eine RIB-Aktivistin, die Frauen dabei
unterstützt, das Informationsfreiheitsgesetz zu nutzen, berichtet: „Frauen
haben die Polizeiwachen aus Angst vor Übergriffen und Beleidigungen immer
gemieden. Dass sie nun kraft Gesetzes Recht zugesprochen bekommen, ist ein
erster Schritt sich von der Angst zu befreien.“
Unter
Nutzung des Gesetzes holen Bedürftige nun Informationen ein, nach welchen
Kriterien soziale Sicherungsleistungen vergeben werden, welche Kriterien
erfüllt sein müssen, um staatseigenes Land zugeteilt zu bekommen, ob es den
offiziellen Regelung entspricht, dass Eltern für ihre Kinder neben den
Aufnahmegebühren noch Handgelder zahlen müssen, damit ihr Kind am
Schulunterricht teilnehmen kann oder für wie viele Kühe und Ziegen es staatliche
Subventionen zur Impfung des Viehs gibt. Den Behörden fällt es so schwerer, für
Dienstleistungen vorgesehene Gelder in eigene Taschen fließen zu lassen.
Ain
O Salish Kendra (ASK) unterstützt hingegen ehrenamtlich arbeitende
Menschenrechtsverteidiger und lokale Führungspersonen, die sich in
Frauenkomitees, Menschenrechtskomitees und Anwaltsforen organisieren. ASK
begleitet und schult diese lokalen Menschenrechtsverteidiger unter anderem zu
Genderfragen, Dialogstrategien mit politischen Vertretern sowie zu Schutz und
Beratung von Menschenrechtsopfern. Die Mitglieder der Komitees bringen ihre
menschenrechtliche Expertise unmittelbar in die Dorfgemeinschaft ein, indem sie
in Konfliktfällen beraten, Kontakt zu Anwälten herstellen und die Einhaltung
menschenrechtlicher Prinzipien in öffentlichen Entscheidungsprozessen
einfordern. Die Frauenkomitees schalten sich beispielsweise ein, wenn Frühehen
arrangiert werden sollen, Frauen Gewalt angetan oder wenn andere Gesetze
gebrochen werden. Durch die Unterstützung von ASK sind sie selber in der Lage,
das zu erkennen und kleinere Konflikte zu lösen. Wenn es nötig wird, wissen sie
nun, wo sie Rechtsbeihilfe bekommen können.
Dr. phil. Milena Rampoldi: Welche Hauptziele verfolgt Ihre
Organisation im Bereich der Menschenrechte in Bangladesch?
Herr Sven Wagner: Die Arbeit von NETZ zielt darauf, einen Beitrag zu einer
nicht-diskriminierenden, demokratischen Gesellschaft beizutragen, in der Würde,
Freiheit und Rechte aller Bürgerinnen und Bürger gewährleistet sind. Dies
geschieht im Einklang mit der Verfassung Bangladeschs, der
Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte und internationalen Menschenrechtskonventionen.
NETZ unterstützt Menschenrechtsarbeit in Bangladesch seit 1989. Bis 1999 waren
Frauenrechte dabei der einzige Fokus. Seit 2008 sind die Menschenrechts-Situation
von Minderheit und Repression von Menschenrechtsverteidiger/innen als weitere
Schwerpunkte unserer Arbeit dazu gekommen.
Gemeinsam mit den Partnerorganisationen gibt es ein
koordiniertes Vorgehen zur Verbesserung des Menschenrechtsschutzes von der Graswurzel
bis zur internationalen Ebene. Die politische Arbeit auf nationaler und
internationaler Ebene wird vom NETZ-Landesbüro koordiniert. So wird unmittelbar
denjenigen eine Stimme gegeben, die dadurch Repression und Marginalisierung
überwinden können.
Dr. phil. Milena Rampoldi: Wie wichtig sind die Frauenrechte im
Rahmen der Menschenrechte und warum?
Herr Sven Wagner: Frauen sind sehr häufig häuslicher Gewalt ausgesetzt,
verübt durch ihre Ehemänner und Familienangehörige. Laut
Weltgesundheitsorganisation sind 57,5% der Frauen in Bangladesch von sexueller
oder physischer Gewalt betroffen. Die Ursachen sind vielfältig: dysfunktionale
Strukturen staatlicher und nicht-staatlicher Institutionen beim Schutz von
Menschenrechten, verkrustete patriarchalische Machtverhältnisse sowie schlecht
funktionierende Gerichte, Polizei oder Behörden. All das hat gravierende
negative Auswirkungen auf den Schutz und die Wahrnehmung von Rechten von
Frauen.
Landesweit werden laut des Kinderhilfswerks der Vereinten
Nationen UNICEF 66% der Mädchen unter 18 Jahren verheiratet, obwohl das
gesetzliche Mindestalter für Frauen bei 18 Jahren liegt. Mehr als ein Drittel
der Mädchen wird demnach sogar vor dem 15. Lebensjahr verheiratet.
Mitgiftzahlungen sind trotz des gesetzlichen Verbots weiterhin gängige Praxis.
Zusätzlich zu ihren Aufgaben im Haushalt tragen gerade Frauen durch Lohnarbeit
im landwirtschaftlichen und informellen Sektor immer mehr zum Familieneinkommen
bei. Doch ihre Entlohnung liegt bei vergleichbarer Tätigkeit weit unter dem
männlichen Lohnniveau.
Diese Beispiele zeigen, dass 
dem Einsatz für Frauenrechte eine immensen Bedeutung hat, auf dem Weg
einer nicht-diskriminierenden Gesellschaft, in der alle Bürgerinnen und Bürger
die gleichen Rechte und Chancen haben. 
Dr. phil. Milena Rampoldi: Welche sind für Sie die wichtigsten
Grundideen für eine erfolgreiche Ausbildung im Bereich der Menschenrechte?
Herrn Sven Wagner: Die Erfahrung der lokalen Menschenrechaktivisten in
Bangladesch zeigt, dass ihre Effektivität stark von ihrem Know-how und der
Bereitschaft zu kontinuierlicher Wachsamkeit abhängt. Das Bewusstsein für
Menschenrechte ist im Allgemeinen und insbesondere auch innerhalb
benachteiligter Bevölkerungsgruppen noch immer weit davon entfernt, eine
gesellschaftlich akzeptierte Menschenrechtskultur zu unterstützen
beziehungsweise aufrecht zu erhalten.
Dazu kommt, dass eine Menge Courage und Leidenschaft
notwendig ist, um die Arbeit erfolgreich durchführen zu können.
Zivilgesellschaftliche Menschenrechtsverteidiger sind vielfach Repressionen
ausgesetzt. Oftmals müssen sie ihre Stimmen gegen lokal einflussreiche Personen
erheben. Es erfordert großes Durchhaltvermögen und Überzeugung für die Sache,
damit dieser Einsatz nicht zum eigenen Nachteil wird. 
Dr. phil. Milena Rampoldi: Wie wichtig sind MenschenrechtlerInnen vor
Ort als Multiplikatoren und wie kann man in diesem Bereich Mikroprojekte
fördern?
Herr Sven Wagner: Die Arbeit der Menschenrechtsverteidiger, besonders
derjenigen, die in abgelegeneren Gebieten arbeiten, ist von größter Bedeutung:
Sie erreichen mit ihrer Arbeit diejenigen, die sich bisher über ihre Rechte
noch gar nicht bewusst gewesen sind. Sie animieren andere Menschen in ihren
Gemeinden, sich gegen Unrecht einzusetzen und die Einhaltung von
Menschenrechten einzufordern. Bewusstseinbildung ist sehr wichtig, dem aktiven
Einsatz für die Einhaltung von Rechten ist allerdings kaum genug Wert
beizumessen, da ein erfolgreiches Einsetzen gegen Unrecht
Mobilisierungspotenzial entfacht und Vertrauen in das Rechtssystem herstellen
kann.