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Emmanuel Todd, der französische Intellektuelle, der sich nicht der Charlie-Hebdo-Doxa unterordnet

von Angelique Chrisafis, The Guardian, 28.8.2015. Übersetzt von  Milena Rampoldi, herausgegeben von  Fausto Giudice, Tlaxcala


  

Nach dem
Horror der Anschläge von Paris waren alle einer Meinung: die darauffolgenden
Demos auf den Straßen waren die besten in Frankreich. Bis sie ein linker
Historiker sie eine totalitäre Augenwischerei nannte und seine Kritik am
„Zombie-Katholizismus“ eine ganze Nation schockierte.

 

Von der Sonne gebleicht und vom Regen durchnässt,
hingen die zerfetzten Papierplakate noch an der

“Sie sind Charlie”
Statue von
Marianne, der Frau, die die Schönheit der französischen Freiheit in Paris auf
der Place de la République symbolisiert. Darauf steht „Nie wieder“, acht
Monate, nachdem sich hier zwei Millionen Menschen angesammelt hatten, um
gegen den Horror der terroristischen Angriffe vom Januar zu demonstrieren.
Die Angriffe, die 17 Todesopfer forderten, galten der satirischen Zeitschrift
Charlie Hebdo, die Karikaturen des Propheten Muhammed veröffentlicht hatte,
und einem Koscher-Supermarkt in Paris.

Mit den Freiwilligen, die jede Woche vorbeikommen, um die Plakate zu erhalten
und die Kerzen erneut anzuzünden, ist das Denkmal der Republik ein
inoffizielles Heiligtum geworden, und dies nicht nur für die Todesopfer,
sondern auch für den Geist der Versammlung nach dem Angriff. Eine so große
Demo hatte Paris seit der Befreiung von den Nazis 1944 nicht mehr erlebt. 50
Regierungschefs und vier Millionen Menschen, die überall in Frankreich nach
den Angriffen auf die Straße gingen, wurden als Teilnehmer eines Beweises der
nationalen Einheit und Schlagfestigkeit wahrgenommen. Denn sie schützten
nicht nur die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern auch die
Toleranz.
Seitdem wurde der sogenannte „Geist des 11. Januar“ – dem Datum der Großdemo
–von den Politikern als Kurzbezeichnung dafür benutzt, was das Beste
und das noch Große an Frankreich ist. Während die Konsequenzen der Angriffe
heftig umstritten wurden, hat aber niemand die Demos selber in Frage
gestellt, die als heilig angesehen wurden, ja als einziges positives Zeichen
in einer der härtesten Stunden Frankreichs.

Aber dann sendete der berühmte französische linke Intellektuelle und
Soziologe Emmanuel Todd der Nation die von ihm benannte „prachtvoll
gestaltete Exocet-Rakete“ los. Er behauptete dann in einem Buch, die
Großdemos wären nichts anderes als eine riesige Lüge. Todd zufolge waren die
Demos nicht das, wofür sie sich ausgaben, und zwar ein wundervolles Treffen
von Menschen verschiedener Ethnien, Religionen und Gesellschaftsschichten,
die für die Toleranz eintraten, sondern ein verhasster Ausdruck der
Herrschaft, der Vorurteile und der Islamfeindlichkeit des Mittelstands. Für
Todd galten diese Demos als ein „plötzliches Zeichen des Totalitarismus“.
Diese Scheindemonstrationen, so Todd, wurden von einer einseitigen Elite
erschaffen, die die Absicht verfolgte, auf den Islam, die Religion einer
schwachen Minderheit in Frankreich, loszugehen. Die Arbeiterklasse und die
Nachkommen der Einwanderer waren abwesend, meinte er. Die Demos, die auf die
größte Begeisterung stießen, fanden, wie er entschieden behauptete, in den
historischen, katholischen und reaktionären Gegenden des Landes statt, in
denen die Mittelklasse ihre moralische Überlegenheit und Vorherrschaft
behaupten und mit Hilfe der Islamfeindlichkeit eine Sündenbock finden wollte.

Das extrem umstrittene und
kontroverse Buch von Todd mit dem Titel „Wer ist Charlie?“, das nächste Woche
auch in englischer Übersetzung veröffentlicht wird, ist sofort, auch für die
verdrehtesten, französischen Standards, zu einem Bestseller und zum
Gegenstand einer der größten intellektuellen Gefechte  der letzten Jahre
geworden. Es war schon als einen „polemischen Egotrip“ bezeichnet worden; Todd
wurde auf der Titelseite der Tageszeitung Libération angeklagt, „gegen den
11. Januar zu fluchen“. Der Direktor der Tageszeitung, Laurent Joffrin,
behauptete gegenüber The Guardian, das Buch von Todd wäre nicht nur
„absurd, beleidigend und falsch“, sondern auch eine „unnütze und schädliche
Polemik“. Todd trat in allen wichtigsten Talkshows im Fernsehen und auf den
Titelblättern aller Magazine auf und wurde den „störenden Intellektuellen“
genannt. Der sozialdemokratische Premierminister Manuel Valls hat sich wie
noch nie dafür entschieden, eine jähzornige Kritik gegen das Buch zu
verfassen, indem er Todd auf Le Monde unterstellte, er würde sich „selbst
zerfleischen“. Todd wiederum verglich den blinden Optimismus von Valls
hinsichtlich Frankreich mit dem von Marschall Pétain, dem Chef des
kollaborationistischen Regimes von Vichy im Frankreich der 1940er.
„Wer ist Charlie?“ wird gerade weltweit mit einem Vorwort veröffentlicht, das
alle westlichen Gesellschaften warnt: „ein Charlie schlummert“ bei ihnen. Ein
  „Charlie“, d.h. ein fürchterliches Ereignis, das die Gesellschaft
spaltet und wobei Menschen mit hohem Bildungsstand und Wohlstand ihren Kopf
in den Sand stecken.

Todd sitzt in seiner Wohnung mit Blick auf die Dächer von Paris und trägt
ausgefranste Jeanshosen und Espadrilles. Er gibt zu, Frankreichs Staatsfeind
Nummer eins zu sein. Aber er ist reuelos. Er fühle sich nach seiner Aussage
befreit. „Es ist wundervoll“, meint er, „Du hast ein Buch herausgegeben, in
dem es heißt, dass Frankreich am 11. Januar einen hysterischen Anfall hatte.
Und das Buch löst hysterische Funken aus. Und dies untermauert meine These.
Denn wenn eine solche Reaktion kommt, dann heißt es, dass man den richtigen
Punkt getroffen hat“.
Er legt eine Pause ein. „Es ist schon ein wenig unangenehm, im Minutentakt
beleidigt zu werden, aber ich denke, dass dies ein erstaunlicher Beweis der
Wahrheit meines Buches ist“.

“Ich auch bin Charlie”
Die
Hetzerei rund um Todds Buch befindet sich im Mittelpunkt einer breiten
Gewissensprüfung in Frankreich. Nach einem neuen Zyklus der Terrorangriffe in
Frankeich, inklusive einer Enthauptung und des Versuchs, eine chemische
Anlage in der Nähe von Lyon in die Luft zu jagen und der misslungenen
Schießerei der letzten Woche in einem Thalys-Zug von Amsterdam nach Paris,
muss man sich fragen, was vom Geist vom 11. Januar noch übrig ist, der das
Land heimsucht. Ist Frankreich weitergegangen? Oder ist er noch still von den
fürchterlichen Ängsten vor denen heimgesucht, die Charlie Hebdo angriffen,
und zwar den Brüdern Kouachi, obwohl die Politiker, von der extremen Linken
bis zur extremen Rechten, dauernd die Stärke des republikanischen und
laizistischen Ideals posaunen?
Während
Frankreich sich mit seinem nationalen Trauma auseinandersetzte, war es für
die Politiker einfacher, sich auf das Datum des 11. Januar als den Tag der
Einheit zu konzentrieren, als während der drei nervenaufreibenden Tage vom
7.-9. Januar, als zwei Brüder, die einmal Gäste der Waisenheime der Republik
gewesen waren, einige der berühmtesten Karikaturisten des Landes und einen
muslimischen Polizisten getötet hatten, bevor sie selbst von der Polizei
tödlich getroffen wurden, nachdem sie in einer Druckerei außerhalb von Paris Geiseln
genommen hatten. Ihr Ziel, Charlie Hebdo, befand sich geraumer Zeit unter
Polizeischutz, nachdem Morddrohungen wegen der Karikaturen des Propheten
Mohammed eingegangen waren. Die hektische Atmosphäre verschlechterte sich,
als der Komplize der beiden Brüder, Amedy Coulibaly, auch er in Frankreich
geboren und aufgewachsen, den härtesten Nerv traf, indem er während der
Belagerung eines Koscher-Supermarkts in Paris, nach dem tödlichen Schuss
gegen eine Polizistin während eines vorherigen Angriffsversuchs gegen eine
jüdische Schule, vier Personen tötete.
 
Emmanuel Todd
Der Slogan
„Je Suis Charlie“ (Ich bin Charlie) ist ein weltweiter Kampfschrei, der sich
aber als vollkommen komplex und in einem gewissen Sinne auch als exklusiv
herausgestellt hat. Er passte nicht zu denen, die die Schießerei absolut
verurteilten und gleichzeitig auch nicht mit den Karikaturen von Mohammed in
der Zeitschrift einverstanden waren. Dutzende, unterbrochene Schweigeminuten
in Schulen, vor allem in den unruhigen Banlieues (Vororte), bewiesen
das konfliktreiche Verhältnis zwischen den Jugendlichen, die auf aus den
Minderheiten der Einwanderer stammten, und ihren Lehrern. Und mittendrin
unterdrückte die französische Regierung die Worte, die als „Verherrlichung
des Terrorismus“ verurteilt wurden. Eine Reihe von Eilprozessen endete mit
harten Haftstrafen. Einige dieser Haftstrafen wurden sogar gegen Besoffene
verhängt. Ein Mann mit leichten Verständnisschwierigkeiten wurde zu sechs
Monaten Haftstrafe verurteilt, weil er besoffen auf der Straße den Polizisten
zugerufen hatte: „Sie haben Charlie getötet, wie lustig“.
Menschenrechtsgruppen haben protestiert. Die Debatte intensivierte sich,
nachdem sich herausstellte, dass ein achtjähriger Junge von der Polizei
verhört wurde, nachdem er in der Schule gesagt hatte: „Ich stehe auf der
Seite der Terroristen“. Danach gab er aber zu, dass er gar nicht wusste, was
Terroristen sind und was das Wort Terrorismus bedeutet.
Valls warnte vor einer „territorialen, sozialen und ethnischen Apartheid“ in
Frankreich und lancierte ein Programm für eine höhere Diversifizierung im
sozialen Wohnwesen und für Antidiskriminationsmaßnahmen. Die These, nach der
die Zunahme des Terrorismus zu Hause auch interne Gründe haben könnte, stieß
auf einen Chor des Widerstands von Seiten der Politiker. Dann erließ die
Regierung neue Gesetze, um die Kontrolle zu intensivieren, was wiederum zu
einem Streit über die Bürgerrechte führte.
In der
Zwischenzeit suchten die Menschen nach Erklärungen. Es wurden viel mehr
Essais verkauft, da die Leser auf der Suche nach Erklärungen für die
Terrorangriffe waren. Das Traktat von Voltaire über die Toleranz von
1763 – die Quelle von Ideen wie dieser: „Ich bin nicht einverstanden mit
dem, was du sagst, aber ich werde dein Recht, es zu sagen, bis zu meinem Tode
verteidigen“
 – wurde neu herausgegeben. Es wurden in vier Monaten
mehr als 90.000 Stück verkauft. Dutzende von Büchern wurden über den „Geist
des 11. Januar“ veröffentlicht. Es wurde darin alles besprochen: vom Recht
auf die Blasphemie, 1789 mit der Französischen Revolution eingeführt, bis zum
Platz des Islam in Frankreich.
Und genau in diesem Kontext hat Todd seine Exocet-Rakete geschossen.
Er ging nicht zur Veranstaltung vom 11. Januar, obwohl er den
Wirtschaftswissenschaftler Bernard Maris kannte, der beim Angriff gegen
Charlie Hebdo ums Leben gekommen war. Als er aber am nächsten Tag die Zeitung
öffnete und die Karte der Orte sah, an denen die Veranstaltungen
stattgefunden hatten, sah Todd ein Modell, das ihn verärgerte. „Sie waren ein
offensichtlicher Betrug. Die Demo ist eine Selbstverherrlichung des
französischen Bürgertums. Das hat mich zum Platzen gebracht.“ Er sah dies
alles als ein Frankreich an, das sich weigert, die wirtschaftliche Stagnation
und die tiefe Ungleichheit zu sehen, die zum Horror der Angriffe geführt
haben könnten.
Vorher war er kein systematischer Kritiker Frankreichs, aber jetzt definiert
er sich als ein „von seiner eigenen Gesellschaft in die Verzweiflung getriebener
Franzose“. Er hat das Buch in nur 30 Tagen verfasst, indem er jeden Morgen um
3 Uhr früh aufstand, aber er sagt uns, dass das Buch auf seinen 40jährigen
Studien basierte.
 
Todds
Hauptthese zufolge gibt es im Wesentlichen zwei Frankreich. Eines ist das
„zentrale Frankreich“, inklusive Paris, Marseille und des Mittelmeers, wo die
Gleichberechtigung in der Familie und eine verankerte Vertretung der
säkularen Werte der Französischen Revolution und der Republik vorherrschen.
Und dann gibt es das Frankreich der „Peripherie“, z.B. in Westfrankreich oder
in Städten wie Lyon, die dem alten „Felsensubstrat“ der Katholizismus treu
geblieben sind. Hier sind die Menschen vielleicht auch keine praktizierenden
Katholiken, aber sie besitzen noch dieses eingetrichterte, konservative
soziale Denken, seine Hierarchien und seine Ungleichheit. Todd nennt dieses
Phänomen den „Zombie-Katholizismus“. Indem er seine Kritiker zur Weißglut
bringt, behauptet Todd, dass die Versammlungen nach den Angriffen das
marschierende Symbol des Zombie-Katholizismus sei.

Trotz des verursachten Aufruhrs, hält Todd an seiner These fest. „Frankreich
ist immer doppelt“, meint er. „Und das ist genau der Grund, wofür man nicht
einschätzen kann, ob es zusammenfallen oder wieder auf die Beine kommen
wird“.

Todd, der aus einer kosmopolitischen Familie von Schriftstellern stammt und
ein ferner Verwandter des Anthropologen Claude Lévi-Strauss ist, wurde
berühmt, als er 1976 den Fall der Sowjetunion voraussagte und vor kurzem
behauptete, die USA wären ein zerfallendes Imperium. Er hat lange Zeit
behauptet, dass die familiären Strukturen erklären können, warum die Menschen
bestimmte Ideologien annehmen und hat den Ausstieg Frankreichs aus dem Euro
gefordert.
 

In seinem
Werk „Wer ist Charlie?” geht er davon aus, dass Frankreich schon lange nicht
mehr ein Ort der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit ist, sondern nichts
anderes als eine Pseudo-Republik, welche nur die Mittelklasse fördert,
während die Arbeiterklasse und die Nachkommen der Einwanderer ausgeschlossen
werden. Er spürt, dass Frankreich sehr viel „Wundervolles“, inklusive seines
Wohlstandes und seines Sozialversicherungsnetzes an sich hat. „Aber all dies
ist nur für die obere Gesellschaftsschicht wundervoll geblieben“.

Die These von Todd sagt auf jeden Fall sehr viel aus über die „unbewusste“
Entwicklung der auf der Straße versammelten Menschenmasse aus. Sie wurde
nämlich gerade von den politischen und religiösen Traditionen versammelt, aus
denen sie stammt, und die gerade weitgehend in Frage gestellt werden. Er will
damit nicht sagen, dass alle Demonstranten islamfeindliche Bürger sind, aber
der allgemeine Effekt der Massenveranstaltung ist genau dieser. „Nach den
Demos haben wir landesweit eine Welle der Islamfeindlichkeit erfahren: denn
die Menschen hatten ihrem Ausdruck freien Lauf gelassen“.


Todd meint, er wäre meistens verletzt von den Angriffen gegen seine Methode
gewesen und besteht darauf, dass seine Aussagen eine „ernsthaften statistische
Analyse“ darstellen.

Eine seiner Hauptbefürchtungen ist die „Welle der Islamfeindlichkeit“ in
Frankreich, die sich nun im ganzen Westen verbreitet.

Indem er Charlie Hebdo als eine „schlechte Zeitschrift“ zurückweist, hat er
behauptet, dass die neue französische Besessenheit bezüglich des Rechtes zu
fluchen eine unnötige und übertriebene Reaktion ist.  Seiner Meinung
nach wird der Fluch nicht nur als ein Recht gelobt, sondern fast zur Pflicht
erhoben. Todd zufolge ist die Meinungsfreiheit in Frankreich keinesfalls
bedroht. Daher war es ein Fehler, nach den Attentaten gegen Charlie Hebdo so
sehr darauf zu fokussieren. Er meinte, er fühlte sich sehr unwohl, dem
französisch-muslimischen Komiker Jamel Debbouze im Fernsehen dabei zuzusehen,
wie er von der Mischehe und der Freude des Zusammenlebens spricht und sogar
dazu veranlasst wird, zu sagen, er wäre mit den Karikaturen des Propheten
einverstanden und dass dies das wahre Maß wäre, um zu beweisen, wie
französisch er wäre. „Ja, natürlich… es gibt ein Recht darauf, zu fluchen“,
meint Todd. „Aber man muss auch das Recht darauf haben, zu sagen, dass der
Fluch keine Priorität ist, sondern einfach nur idiotisch. Mit meinem Buch
fordere ich das Recht, dagegen zu fluchen und zu sagen, dass die Karikaturen
von Mohammed obszön, Müll, historisch vollkommen asynchron und der Ausdruck
einer verbreiteten Islamfeindlichkeit sind. Und weil ich das gesagt habe,
wurde ich als Komplize der Terroristen angegriffen“. Ich habe diese Reaktion
mit Zufriedenheit entgegengenommen. „Es war einfach faszinierend zu sehen,
dass die Menschen für das Recht auf Meinungsfreiheit demonstriert hatten, um
dann ihre Gegner zum Schweigen zu bringen“.

Mütterlicherseits ist Todd jüdischer Abstammung. „Die ist wahrscheinlich
das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Buch als Jude geschrieben habe“,
behauptet
er. Als Mohamed Merah, der junge Mann, der vor einer jüdischen Schule 2012 in
Toulouse vier Menschen tötete, stellte er das antisemitische Element zurück;
dasselbe tat er auch, als ein bewaffneter, französischer Mann im letzten Jahr
beim Jüdischen Museum in Brüssel vier Menschen tötete. Aber nach dem Angriff
gegen das Lebensmittelgeschäft, das im Verhältnis der Morde bei Charlie Hebdo
an die zweite Stelle rückte, meinte er, dass der Antisemitismus sich
offensichtlich an einem Krisenpunkt befand. Seiner Theorie zufolge würde die
Islamfeindlichkeit in den verfallenen Stadtrandvierteln den Antisemitismus
schüren. Und der Antisemitismus befände sich in der Mittelklasse auf dem
Vormarsch.

Er ist der Überzeugung, dass „Frankreich eine kranke Gesellschaft ist“. Er
meint, dass die Wirtschaft im Wanken ist, die Arbeitslosigkeit ihren
Höhepunkt erreicht hat und die Ungerechtigkeit der Norm entspricht. Und
anstatt damit korrekt abzurechnen, ist das Land ein Schlafwandler geworden,
der sich in der Januardemo wie eine Herde von Schafen versammelt.

Er sagt, dass er als Historiker nicht die Rolle übernehmen kann, Antworten
für die Zukunft zu finden, aber er spürt, dass diese Antworten auch mit der
Integration des Islam in das französische Leben zusammenhängen. Er weist
darauf hin, dass sich die französischen Politik auf einen alternden
Wählerkreis konzentriert: „es gibt ein Phänomen des Schweigens eines
großen Teils der Jugend. Und dessen ist man sich im Vereinigten Königreich
viel früher bewusst geworden als bei uns in Frankreich“.

Dem Autor zufolge wird Frankreich im Ausland als ein eingeschlafenes Land
wahrgenommen. „Die meisten anderen Länder, worunter auch das Vereinigte
Königreich, versuchen sich anzupassen. Ich denke nicht, dass die Politik von
David Cameron, der gerade das Vereinigte Königreich zerstört, eine gute
Anpassungsart darstelle. Aber im Vereinigten Königreich denkt man mindestens
daran, dass man eine Anpassung vornehmen soll. In Frankreich hingegen haben
wir ein politisches System, in dem alle von Reformen sprechen, aber niemand
etwas tut. Und diese Trägheit führt zu einem Phänomen des Ausschlusses, der
die untere Hälfte der französischen Gesellschaft zerstört“.

Er seufzt: „Etwas ist faul in einem Teil der französischen Gesellschaft,
und nichts wurde getan.“