„Den Feminismus dekolonisieren, den Islam depatriarchalisieren“: Ein Interview mit Zahra Ali
Von Milena
Rampoldi, ProMosaik
Rampoldi, ProMosaik
Zahra Ali ist eine Soziologin, die sich im Bereich der muslimischen, feministischen und antirassistischen Dynamiken engagiert. Ihre Forschungsarbeiten fokussieren auf die Entstehung der muslimischen Feminismen im Westen und in der arabischen Welt, vor allem im Irak. 2012 veröffentlichte sie beim Verlag La Fabrique in Frankreich ein Werk mit dem Titel Féminismes islamiques, das erste Buch zu diesem spezifischen Thema im französischen Sprachraum. Darin findet sich in Form von Beiträgen und Interviews zahlreicher Autoren eine Übersicht der feministischen Strömungen im Islam, die „dem Orientalismus und dem Rassismus, die die Debatten über Frauen und Islam heute charakterisieren“, den Rücken kehren und auf die „Notwendigkeit“ fokussieren, „ jegliche Auslegung des Feminismus und des Islam zu entkolonialisieren und zu deessentialisieren“. In der Einleitung zum Buch schreibt Zahra hierzu:
„Somit besteht die Idee nicht darin, auf die Fragestellungen des herrschenden Feminismus zu antworten, sondern vielmehr darum, den Zugang zur Welt der muslimischen Feministinnen zu erhalten, um zu sehen, wie sie sich die Frage der Gleichheit nach den zu ihnen passenden Modalitäten, Begriffen und Problembereichen stellen. Gleichzeitig geht es nicht darum zu behaupten, wie das islamische Denken und die muslimischen Frauen die Fragestellungen der feministischen Doxa angehen, sondern wohl eher darum aufzuzeigen, wie im Rahmen des Islam und in den Kontexten, in denen der Islam als wichtigster Bezugsrahmen gilt, bezüglich der Frage der Gleichheit der Geschlechter gedacht und gehandelt wird”. (Féminismes islamiques, S. 15).
Ich möchte mich herzlichst bei Zahra für die Beantwortung meiner Fragen bedanken.
MR: Zahra, du sprichst von islamischen Feminismen im Plural. Was bedeutet dieser Begriff für dich persönlich?
ZA: Die islamischen oder muslimischen Feminismen werden von Menschen vertreten, die sich mit Bezugnahme auf den Islam mit der Gleichheit auseinandersetzen und sich in ihrem Denken und Handeln gegen das Patriarchat auflehnen. Es gibt verschiedene Strömungen und unterschiedliche Kontexte. Daher gestaltet sich das feministische Engagement im Islam sehr verschiedenartig. Es beginnt mit Autorinnen, die sich gegen die chauvinistischen Auslegungen der muslimischen Rechtsprechung (al-Fiqh) auflehnen und auf einer egalitären Auslegung des Korans basieren, wie es beispielsweise für die Gruppe Musawah der Fall ist, bis hin zu den Frauen, die sich an der muslimischen Spiritualität inspirieren, um für die Gleichheit der Geschlechter und im Allgemeinen für die soziale Gerechtigkeit zu kämpfen.
Im Allgemeinen fokussieren die muslimischen Feministinnen wie Amina Wadud, Asma Barlas, Zainah Anwar und Ziba Mir-Hosseini alle auf die Unterscheidung zwischen al-Fiqh als muslimischer Rechtsprechung und al-Shari’ah als Weg und nicht als Gesetz. Auf diese Weise sehen die muslimischen Feministinnen auf die menschliche Beschaffenheit der muslimischen Rechtsprechung und auf die Tatsache, dass al-Shari’ah nicht ein Gesetz bedeutet, das es zu lesen und anzuwenden gilt, sondern eine Gesamtheit grundlegender Prinzipien der Gerechtigkeit und Gleichheit ist, welche die Erarbeitung des al-Fiqh leiten. Die Arbeit der muslimischen Feministinnen fokussiert somit vor allem auf die Hermeneutik der heiligen Quellen des Islam und verfolgt dabei das Ziel, die patriarchalischen Auslegungen des Korans aus dem herrschenden muslimischen Denken zu entfernen.
Die Tawhid-Anschauung gilt für die muslimischen Feministinnen als zentral. Ich selbst bin auch sehr stark an diese Idee gebunden, die nur dem Göttlichen die Eigenschaften der Macht und des Gehorsams zuerkennt. Nur Allah müssen wir gehorchen, nur Er darf herrschen. Daher ist jeglicher Form der Herrschaft und Unterdrückung einer anderen Person eine Aneignung von Eigenschaften und von Macht, die einzig und allein dem Schöpfer zustehen. Alle Geschöpfe sind vor dem alleinigen Schöpfer, Allah, gleich. Dieser Grundsatz leitet mein Leben und meinen Kampf für Gerechtigkeit und Gleichheit.
Warum ist ein islamischer Feminismus erforderlich, der den Westen nicht nachahmt?
Für mich gibt es keinen Westen als Gegensatz zum Orient, keinen Innenraum, der sich dem äußeren Raum widersetzt, sondern es gibt hegemonische Formen des Denkens und des Lebens, die vom kapitalistischen Individualismus und von einem patriarchalischen Modell der Rollen- und Machtverteilung geleitet werden. Und es gibt eine Säkularisierung des öffentlichen und privaten Lebens. Das Patriarchat findet sich überall wieder, im Westen wie auch im Orient. Und auch die Emanzipationskämpfe finden sich überall in den verschiedensten Formen wieder. Der besondere Aspekt der feministischen Strömungen, die sich am Islam inspirieren, besteht in der Ablehnung der Aufdrängung eines hegemonischen Modells der Weiblichkeit und des Lebens und in der Tatsache, dass diese feministischen Strömungen im Islam von der Religion als Quelle der Emanzipation inspiriert werden. Dies bedeutet die Bejahung der Religion nicht als unterdrückende, sondern als emanzipatorische Kraft.
Was bedeuten Erneuerung und Dekolonisierung des Feminismus in den muslimischen Ländern?
Ich glaube, dass man die hegemonischen, feministischen Strömungen dekolonisieren muss, die vom Ausschluss der Anderen leben und sich nicht für die Verflechtung des Kampfes für die Gleichheit der Geschlechter mit dem Kampf gegen den Rassismus und die Klassenungleichheiten einsetzen. Die Idee besteht darin, sich nicht von den Leben der Frauen zu entfernen. Wir dürfen nicht versuchen, den Frauen Lebensmodelle jeglicher Art einzutrichtern, unabhängig davon, ob diese nun westlich oder islamisch sind. Denn die Existenzen dieser Frauen sind extrem unterschiedlich und somit auch komplex. Die Dekolonisierung des Feminismus bedeutet Verzicht auf jeglichen Essentialismus. Sie bedeutet die Akzeptanz der zahlreichen Modalitäten der Befreiung und ihrer Kontexte.
Welche sind die wichtigsten Zielsetzungen deines Buches?
Mein Buch ist eine allgemeine Einführung in den muslimischen Feminismus und seine Entwicklung in den letzten 20 Jahren. Es gibt Militantinnen, Forscherinnen und Aktivistinnen aus Frankreich, den USA und vom Iran über Syrien und Ägypten bis nach Malaysia das Wort. Es geht darum aufzuzeigen, welche die Hauptthemen und –problemfelder sind, für die sich diese Bewegung einsetzt, und zwar einerseits innerhalb des Feminismus und andererseits im Bereich des zeitgenössischen muslimischen Denkens.
Für mich bedeutet der Feminismus kollektiver Dynamismus, sozio-politisches Engagement und kulturelle und religiöse Diversität. Was hältst du davon?
Das sehe ich genauso. Ich denke, dass der Feminismus sich vor allem ausgehend von verschiedenen Interessen der Frauen und ihrer Lebensrealität gestaltet.
Als dein Buch 2012 erschien, war es eine Premiere in der frankophonen Welt. Wie bewertest du die Bedeutung und Auswirkung des Buches heute nach vier Jahren? Hat es eine Bresche in die Mauer von Unverständnis geschlagen, konnten andere in die Lücke springen?
Das Buch hat sich gut verkauft, und dies ist selten für ein ganz spezialisiertes und akademisches Werk dieser Art. Diese Tatsache beweist, dass Werke zu diesem Thema fehlten. Meines Erachtens war mein Buch ein wichtiges Instrument für die muslimischen Feministinnen im französischen Sprachraum. Ich habe zahlreiche Mitteilungen von Militantinnen und Forscherinnen erhalten, die mir mitgeteilt haben, dass ihnen das Werk sehr nützlich gewesen ist, um ihre Reflexion und ihr Engagement für den Feminismus und Antirassismus zu unterstützen. Es erreichten mich auch viele Mitteilungen von Forschern und Unistudenten, die mein Buch als Grundlage für eine Recherche zum Thema verwendet hatten. Ich bin der Ansicht, dass dieses Werk seinen Zweck erfüllt hat, als Einführung ins Thema zu dienen und die verschiedenen Strömungen der kritischen Feminismen zu problematisieren. Ich bin der Ansicht, dass die LeserInnen dieses Werkes auf jeden Fall auf den Kreis begrenzt sein werden, die Interesse und Sensibilität für Themen wie Feminismus, Antirassismus und Postkolonialismus haben. Ich bin mir nicht sicher, ob das Buch außerhalb dieses Kreises von LeserInnen auch noch andere Menschen erreicht hat, die Feminismus und Islam als gegensätzliche Kräfte sehen. Ich glaube, dass das Buch eher ein nützliches Mittel für Menschen ist, die an sich schon in einer Reflexion oder einer Form von feministischem oder antirassistischem Aktivismus involviert sind.