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Der Pawlowsche Mensch

Von Ronja Kolompar, Rubikon16. Mai 2020, Autoritäre Regierungen folgen einer Ideologie, die
den Menschen als unbegrenzt steuerbar betrachtet.




„Jenseits von Würde und Freiheit“. Wer ein Buch mit
diesem Titel herausgibt, so könnte man meinen, müsse für alle Zeit unten durch
sein. Tatsächlich ist der Klassiker von Frederic Skinner aber höchst
einflussreich — und erlebt offenbar gerade derzeit eine Renaissance. Die
Vorstellungen und Ideale des Behaviorismus bergen die Gefahr einer totalitären
Bewegung. Die behavioristische Strömung spricht sich für eine zielgerichtete
extrinsische Motivation von Individuen aus, um deren Verhalten zu steuern. Sie
propagiert Kontrolle und Vorhersagbarkeit des menschlichen Verhaltens. Was
Hannah Arendt noch für unwahrscheinlich hielt, wird heute dank der aktuellen
Entwicklung und der technischen Möglichkeiten wahrscheinlicher denn je.



Zur
Zeit wird weltweit massiv in die Freiheit und Würde der Menschen eingegriffen.
Deshalb kann die Frage gestellt werden: Welchem Ideal folgen wir da gerade
eigentlich? Denn das der Demokratie scheint es offenkundig nicht zu sein.
Das Verständnis von
Demokratie beinhaltet im Idealfall, dass das Interesse einzelner Individuen,
die sich in Interessengemeinschaften zusammen finden können, im Fokus der
Politik steht. Allerdings liegt der momentan ganz woanders. Breitgemacht hat
sich die sonderbare Vorstellung, dass die Gesundheit des Einzelnen und deren
Gewährleistung nur durch das Agieren des Staates realisiert werden kann und
muss. Dieses Dogma steht unhinterfragbar an oberster Stelle der derzeitigen
politischen Diskussion und legitimiert politische Entscheidungen, die vorher
undenkbar gewesen sind. Da schließt sich die Frage an: Wessen Ideal folgen wir
derzeit?
Die behavioristische Weltanschauung
Die
behavioristische Strömung spricht sich für eine zielgerichtete extrinsische
Motivation von Individuen aus, um deren Verhalten zu steuern. Sie propagiert
Kontrolle und Vorhersagbarkeit des menschlichen Verhaltens. Die Theorie, dass
das Verhalten der Menschen gesteuert werden kann und sollte, fand seine
Ausformulierung in dem 1948 erschienenen Buch Walden Two. An utopian novel (deutscher
Titel: Walden Two — Die Vision einer besseren Gesellschaftsform). Dessen Autor
Burrhus Frederic Skinner zählt zu den prominentesten Behavioristen weltweit.
Vertreter seiner Theorien gehörten ebenfalls jahrzehntelang zu den
einflussreichsten Verhaltensforscher an amerikanischen Universitäten.
In Walden Two stellt Skinner dar, dass „gutes
Verhalten“, sich selbst und dem Gemeinwesen gegenüber, sich aus der Enthüllung
ergibt. Darunter versteht er die ausgiebige Analyse von menschlichem Verhalten
und dessen Folgen. Dass dieser Gedankengang auch heute noch einen
entscheidenden Einfluss auf unsere Forschung und Technik hat, lässt sich leicht
an Fachrichtungen wie „Community Psychology“ oder „Applied Behavior Analysis“
(vormals „Behavior Modification“) ausmachen. Aber diese Idee lässt sich auch
außerhalb der Psychologie finden. Zum Beispiel im Datensammelwahn, um diese
anschließend analysieren und menschliches Verhalten enthüllen zu können. Aber
auch in den Vorstellungen von Prävention und Sicherheit, die mittels
Vorhersagbarkeit und Kontrolle gewährleistet werden soll, lassen sich
behavioristische Tendenzen erkennen.
Hannah
Arendt vertrat 1955 in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft
 die Meinung, dass der Behaviorismus keinerlei
Ideologie für eine totalitäre Bewegung liefere, da diese wissenschaftliche
Theorie „immer die menschliche Wohlfahrt als Ziel aller Politik im Auge“ hat
(1).
Auch
Hoimar von Ditfurth war 1973 in einem Artikel des Spiegel noch der Meinung, dass die Ideologie in
dem zwei Jahre vorher erschienenen Buch Skinners Beyond Freedom and Dignity (deutscher Titel:
Jenseits von Würde und Freiheit) abstrus sei:
„Das Ganze ist so aberwitzig, daß die Frage gestellt werden könnte, ob es
sich denn lohnt, den Skinner’schen Vorschlag und seine theoretischen Voraussetzungen
so eingehend unter die Lupe zu nehmen“ (2).
Dennoch wurde es,
laut Ditfurth, in den USA zum Bestseller. Auch in Deutschland scheint es sich
einer gewissen Beliebtheit zu erfreuen, denn die 1982 erschienene Auflage wurde
2018 neu aufgelegt.
Ob Arendt heute immer
noch sagen würde, dass der mittlerweile radikaler gewordene Behaviorismus die
menschliche Wohlfahrt als Ziel hat, wage ich zu bezweifeln. Denn diese ist
jenseits von Freiheit und Würde schwer vorstellbar. Aber genau durch die
Tatsache, dass der Begriff der menschlichen Wohlfahrt im radikalen
Behaviorismus so pervertiert wurde, birgt er eine potenzielle Basis für die
Ideologie einer totalitären Bewegung.
Tendenz zur totalitären Gesellschaft
Arendt macht in ihrem
Buch verschiedene Faktoren aus, die eine totalitäre Bewegung kennzeichnen und
ihre Entstehung begünstigen. Diese weisen deutliche Parallelen zu der
derzeitigen Entwicklung unserer Gesellschaft auf. Entscheidend für die
Entstehung und Entwicklung einer totalitären Bewegung ist für Arendt die
Massengesellschaft, die aus unpolitischen und atomisierten Individuen besteht,
denen es schwerfällt, sich zu Interessengemeinschaften zusammenzufinden, da die
Interessen der Einzelnen zu partikular und dadurch unvereinbar sind. In dieser
Masse wird die Ideologie der Bewegung durch Massenmedien propagiert — mit dem
Ziel, eine gemeinsame Identität und Weltanschauung zu schaffen, die alle
Menschen umfasst.
Je weiter die Individuen und deren Organisation
atomisiert, also isoliert und getrennt von einander sind, desto leichter lässt
sich ihre Beherrschung realisieren.

Einen weiteren
zentralen Faktor für totalitäre Bewegungen und Herrschaft sieht Arendt im
Terror, der als die systematische Verbreitung von Angst verstanden werden kann.
Und diese soll jeden beherrschen, denn die Gewalt könnte jeden treffen.
Die
Massengesellschaft, die Arendt zeichnet, lässt sich auch derzeit finden. Die
ohnehin schon bestehende Tendenz wird durch die momentane, gesetzlich
legitimierte Trennung der Individuen und ihrer Organisationen in der
Gesellschaft befördert. Gleichzeitig wird der Masse gesetzlich „gutes
Verhalten“ diktiert. Solidarität und Abstand werden als Gebote der Stunde
verkauft: wir gegen das Virus. Das Virus ist der Feind, den es mit allen
Mitteln zu bekämpfen gilt, nur so schützen wir uns vor dem Tod.
Die Weltanschauung,
die derzeit propagiert wird und alles umfassen soll, geht davon aus, dass
Gesundheit etwas ist, das vom Gemeinwesen definiert und gewährleistet werden
muss. Diese hat absolute Priorität, wird nicht öffentlich diskutiert, aber
gemeinschaftlich als oberstes Interesse aller Individuen festgelegt und ist mit
allen Mitteln sicherzustellen. Dass die restriktiven Maßnahmen derzeit mehr als
fragwürdig sind, wird mehrheitlich ignoriert. Die Angst scheint groß genug, der
Terror erfolgreich zu sein.
Der Glaube, dass wir
in einem nach- oder postideologischen Zeitalter leben, sollte uns nicht darüber
hinwegtäuschen, dass wir uns in einer totalitären Bewegung befinden könnten.
Bereits Ditfurth äußerte in Bezug auf Skinner klar:
„Daß des Autors Rezept uns gespenstisch erscheint, schließt die Möglichkeit
nicht aus, daß sich eines Tages jemand berufen fühlen könnte, es in die Tat
umzusetzen“ (3).
Schutz unserer Demokratie vor abstrusen Ideologien
Allerdings wird ja derzeit
in den etablierten Medien schnell davon gesprochen, man sei ideologisch, wenn
man der Vorgehensweise der Politik kritisch gegenübersteht.
Der deutsche Philosoph Herbert Schnädelbach ist der
Meinung, dass die Atomisierung der Individuen und Institutionen unserer
Gesellschaft schon so weit fortgeschritten ist, dass wir mittlerweile unfähig
sind, die gesellschaftliche Totalität zu durchschauen und damit
gesellschaftliche Zusammenhänge zu erkennen.

Die Ideologie der
Gegenwart sieht er in der vollkommenen Anpassung des menschlichen Bewusstseins
und seiner Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen
(4).
Der amerikanische
Politikwissenschaftler Sheldon Wolin spricht 2003 sogar schon davon, in Amerika
sei die Tendenz zu beobachten, dass die Demokratie abgelöst und von einem
invertierten Totalitarismus ersetzt wird. Einen zentralen Unterschied zum
klassischen Totalitarismus sieht Wolin darin, dass der Nationalsozialismus ein
Mobilisierungsregime gewesen sei, dem es darum ging Bürger zu etwas bestimmten
zu bewegen. Während der umgekehrte Totalitarismus auf eine weitreichende
Entpolitisierung der Bevölkerung baue und damit auf die Apathie der Masse.
Außerdem setze der umgekehrte Totalitarismus zur Überwachung und Steuerung der
Bevölkerung auf subtilere, kaum wahrnehmbare Unterdrückungsmechanismen (5).
Auch Vertreter der
Kirche, darunter Erzbischof Carlo Maria Viganò, sprechen sich in ihrem
expliziten Aufruf vom 7. Mai 2020 unter dem Motto „Die Wahrheit wird euch frei
machen“ dafür aus:
„Die Kriminalisierung persönlicher und sozialer
Beziehungen muss als inakzeptabler Bestandteil eines Projekts verurteilt
werden, mit dem die Isolation der Individuen gefördert werden soll, um sie
besser manipulieren und kontrollieren zu können“ (6).

Derzeit zu glauben,
dass die Politik dem Ideal der Demokratie folgen würde, ist bestenfalls
uninteressiert oder im schlimmsten Fall verblendet. Bei Letzterem kann das
angepasste Bewusstsein sich keine Alternative zur Demokratie mehr vorstellen
und glaubt sich in Sicherheit.
Daher müssen wir
wieder an unserer Fähigkeit arbeiten, gesellschaftliche Zusammenhänge zu
erkennen und zu durchschauen, um uns vor abstrusen Weltanschauungen schützen zu
können.
Diese
behavioristische Weltanschauung, die sich gerade in der Politik ausbreitet,
widerspricht dem Ideal der Demokratie. Die Fähigkeit, die Schnädelbach in einem
selbstständigen Geist sieht, würde die Fantasie bereithalten, die uns
Alternativen und Ideen für eine echte Demokratie liefern könnte.


Quellen und Anmerkungen:
(1) Hannah Arendt,
Elemente und Ursprung totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus ,
totale Herrschaft, Piper, München 1955.

(2) Hoimar von Ditfurth über B. F. Skinner: „Jenseits von Freiheit und Würde“:
Ein gespenstisches Rezept, 
Der
Spiegel
,
11. Juni 1973.



(3) Ebenda.


(4) Herbert Schnädelbach, Was ist Ideologie? Versuch einer
Begriffserklärung, 
http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/IMG/pdf/Schnadelbach_Ideologie.pdf, erschienen in: Das Argument 50/1969, Seite 11.


(5) Sheldon S. Wolin, Inverted Totalitarianism: A Preface, from Democracy
Incorporated, Princeton University Press and reprinted with their permission,
2008, 
https://www.kettering.org/wp-content/uploads/Wolin-Inverted-Totalitarianism-KREVIEW-2010.pdf

(6) Veritas liberabit vos (Joh 8,32), Ein Aufruf für die Kirche und für die
Welt an Katholiken und alle Menschen guten Willens, 
https://veritasliberabitvos.info/aufruf/,
7.
Mai 2020.