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Giulio Di Luzio – Tanzwut, Psychiatrie und Kirche

von Milena Rampoldi, ProMosaik, 20. April 2021. In meinem Interview mit dem italienischen Autor und Journalisten Giulio Di Luzio habe ich über seine Erzählung zum Thema Tanzwut in Apulien gesprochen, die vor kurzem von ProMosaik LAPH auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde. Hier finden Sie den Link zum Buch.

Warum bist du der Meinung, dass ein Phänomen wie das der Tanzwut so wichtig ist, um die Unterdrückung der Frau in den patriarchalischen Gesellschaften im Allgemeinen zu verstehen?

Über Jahrzehnte galt dieses Phänomen aus Süditalien als der Indikator für den Zustand der Frau, die von den männlichen Bezugspersonen der Familie (Vater, Brüder, Ehemann) unterdrückt wurde. Die Tanzwut soll als Ausgangspunkt dienen, um eine zuverlässige sozio-politische Studie in Italien durchzuführen.

Berichte uns von der Kirche und ihrer Kontrolle über die Tanzwut.

Die Kirche hat immer befürchtet, dass die Frauen, die einen wahren oder virtuellen Biss der Vogelspinne erlitten haben (wie das Buch erörtert), sich in einem Rahmen außerhalb der Jahrhunderte alten Tradition der Kirche durch einen exorzistischen Ritus von der während eines gesamten Jahres  aufgestauten Angst und Frustration befreien würden. Vor allem durften sie dies auf keinen Fall tun, indem sie die Heilung auf andere Entitäten als auf den Heiligen Beschützer Paulus zurückführten. Es lässt sich sehr einfach nachvollziehen, was geschehen wäre, wenn diese „gebissenen“ Frauen das Bewusstsein darüber erlangt hätten, dass ihr existentieller Zustand nur auf die politische Notwendigkeit der Gesellschaft zurückzuführen war, jegliche Auflehnung und jeglichen Widerstand gegen die derzeitige Lage zu wagen.

Die in die Psychiatrie gesperrte Frau, die Hexe… in der gesamten Menschheitsgeschichte ist meiner Meinung nach ein roter Faden zu erkennen: Gesellschaft, Religion und Medizin verbünden sich in der Kontrolle über den Körper und die Sexualität der Frau. Was denkst du darüber?

Die Wissenschaft hat sich immer schon der vorherrschenden Meinung untergeordnet. Das war schon im Zeitalter der Verfolgung der Hexen und Häretiker so, die als die Rebellen ihrer Zeit galten. Narrenhäuser und Gefängnisse stehen beispielhaft dafür: Die Psychiatrie und die körperliche und pharmakologische Unterdrückung im Dienste der sogenannten Normalisierung des weiblichen Körpers gemäß den Anforderungen der Kompatibilität mit der politischen Macht, die höchstens die Eigenschaft der Fortpflanzung lobte, wie es im Faschismus der Fall war.

Gibt es statistische Untersuchungen über die Anzahl der Frauen, die Opfer psychiatrischer Zwangseinweisungen wurden? Weiß man, wie viele sich für den Freitod entschieden haben?

Vor 1968 wurden Tausende von „Ehebrecherinnen“, Lesben, Prostituierten, dynamischer und emanzipierter Frauen, Frauen mit einem rebellischen und sturen Gemüt, alleinerziehende Mütter, Mütter, die sich gegen die häusliche Gewalt der Väter und Ehemänner auflehnten, zwangseingewiesen. Alle diese Frauen waren das Symbol eines „Andersseins“, das man wegsperren sollte. Einige dieser Frauen wurden sogar von ihren Ehemännern zwangseingewiesen. Viele entschieden sich für eine Flucht ins Ausland, vor allem aus Süditalien, um sich ein neues Leben aufzubauen, während andere den Freitod wählten.

Was hat sich in den letzten 50 Jahren in der Region verändert? Hat das Phänomen der Tanzwut überlebt?

Das historisch-gesellschaftliche Phänomen der Tanzwut gerät, wie in der Erzählung dargestellt, während der 1960er Jahre des italienischen Wirtschaftswunders ins Wanken. Es setzen sich neue Sitten durch, die sich vor allem durch die vorherrschende Werbung und den zunehmenden Wohlstand behaupten. Genau zu diesem Zeitraum kommt die Rolle der Kirche und der Medizin ins Spiel. Die „Gebissenen“ werden kriminalisiert und Opfer pharmakologischer Zwangsmaßnahmen. Sie dürfen nicht mehr mit der Tanz-, Musik- und Farbtherapie geheilt werden, sondern bedürfen einer psychiatrischen Therapie und einer Einweisung ins Narrenhaus. Es gibt heute noch Einzelfälle in der Region von Salento.

Haben der Feminismus und die psychiatrische Reform in Italien zu einer Verbesserung der Situation der Frau beigetragen? Welche ungelösten Aspekte finden sich bis heute in den ländlichen Gebieten deiner Region?

Die Reform der Psychiatrie von Basaglia hat die Welt der italienischen Psychiatrie vollkommen revolutioniert. Sie hat der medizinischen Unterdrückung nicht zahmer Frauen, die sich den von der vorherrschenden Moral aufgezwungenen Rollen nicht unterordnen wollten, unüberbrückbare Grenzen gesetzt. Der Feminismus spielte eine entscheidende Rolle für Tausende von Frauen, deren Rolle in der italienischen Gesellschaft neu definiert wurde. Die ländlichen Gebiete Apuliens wurden viel später von diesen Neuerungen erreicht. Oft hat sich in den ländlichen Gebieten, bis auf eine modernistische Fassade, nichts verändert.