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Exilliteratur von Mühlberger und Kanafani – ProMosaik im Gespräch mit Prof. Hala Farrag

Von Milena Rampoldi, ProMosaik, 11. April 2021. Anbei mein Interview mit Prof. Hala Farrag, Germanistin und Forscherin auf dem Gebiet der vergleichenden Literaturwissenschaften, welche die großartige Möglichkeit bietet, Brücken zwischen Kulturen zu bauen. Ich habe mich mit ihr über ihre Forschungsarbeiten, über Palästina, Islamfeindlichkeit und über die Studien im Dienste der interkulturellen Kommunikation unterhalten. ProMosaik LAPH hat vor kurzem ihr Essay über die Exilliteratur von Mühlberger e Kanafani veröffentlicht. Den Link finden Sie hier.

Warum haben Sie sich für Mühlberger und Kanafānī entschieden?

Im Herbst 2013 habe ich von der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik ein Call-for-Paper zur Teilnahme an einem Kongress in Irland erhalten; das Rahmenthema war von einer gerade aktuellen Frage bedingt: Die Flüchtlingswelle nach Europa, vor allem infolge des syrischen Bürgerkriegs. Da das syrische Problem damals noch zu gegenwärtig war, um literarisch verarbeitet zu werden, dachte ich gleich an eine ähnliche Welle in der Vergangenheit: die palästinensischen Asylanten und die offene Wunde im Nahen Osten. Ich kannte mich zu diesem Zeitpunkt mit der palästinensischen Prosa wenig aus, eher war ich mit dessen Lyrik gut vertraut, aber der Name Ghassan Kanafānī durfte niemandem in der arabischen Welt unbekannt sein. In seinem Werk fand ich genau, wonach ich suchte: Er war der einzige Prosaist, der aus unmittelbarer, hautnaher Erfahrung der Vertreibung schrieb, als einer der Primärzeugen.

Lange musste ich in der deutschsprachigen Literatur nach einer ähnlichen Verarbeitung einer vergleichbaren historischen Situation suchen. Eine immense Hilfe bot die umfangreiche Studie von Louis Ferdinand Helbig: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit. Der Autor untersuchte eine lange Reihe von Schriftstellern, die die Vertreibung deutscher Bevölkerungsgruppen aus den ehemaligen deutschen Territorien in Europa während oder nach dem Zweiten Weltkrieg thematisierten. Unter vielen anderen nannte er Joseph Mühlberger als Sprechrohr des sudetendeutschen Leidens; er war auch ein Primärzeuge dieser Misere, übrigens fast ein Tabu-Thema in der Literaturwissenschaft: Genauso, wie man damals die Sudetendeutschen zum Schweigen bringen wollte, gilt die Verarbeitung ihres Leidens bis heute als ein unbeliebtes Thema in der Germanistik.

Wie wichtig ist die räumliche Darstellung und die Ästhetisierung des Raums in der Exilliteratur?

Beim Lesen sowohl von Kanafānī als auch von Mühlberger fiel diese starke Präsenz von Raummetaphern mir gleich auf. Der Verlust des heimatlichen Lebensraumes lässt sich überall in ihren Werken spüren, vor allem in ihren Erinnerungen an vergangene Geschehnisse, wo der Raum immer im Mittelpunkt von Metaphern, Vergleichen, Personifikationen und Metonymien steht, die diesen ersehnten Raum aus einer subjektiven Perspektive rekonstruieren. Besonders bemerkenswert dabei ist die Dynamik, die beide Autoren der Landschaft verleihen, was den tief empfundenen Verlust und den Zweifel an der Beständigkeit jedes Raums zum Ausdruck bringt, sei dieser Raum in der Heimat, auf dem Fluchtweg oder im Exil. Dieser Prozess ist vor allem bei Mühlberger zu erkennen, der seine Heimat im Alter von 43 Jahren verließ und daher über zahlreiche Erinnerungen daran verfügte. Andererseits lässt das Vermissen des heimatlichen Raumes beide Schriftsteller Vieles verräumlichen: Sowohl Gefühle und Gedanken als auch Landschaftselemente und Menschen werden mit räumlichen Eigenschaften versehen und ersetzen somit den verlorengegangen Raum. Diese rekonstruierende Funktion des Raums ist öfter bei Kanafānī zu finden, der aus seiner Heimat im Alter von zwölf Jahren vertrieben wurde und deswegen viel wenigere Erinnerungen daran hatte.

Wie sehr sehen sich Exilautoren aus verschiedenen Kulturen ähnlich und warum?

In meinen vergleichenden Untersuchungen habe ich immer wieder feststellen können, dass Versprachlichungen von menschlichen Erfahrungen in deutschsprachigen und arabischen Texten keine allzu große Diskrepanz aufweisen. Ähneln sich die Voraussetzungen, dann ähnelt sich auch die Ausdrucksweise. Was Exilautoren angeht, so oszillieren sie in ihren Werken oft zwischen ihren Erinnerungen an die Heimat mit allem Verlorenen bzw. Zurückgebliebenen und ihren Integrations- bzw. Überlebensversuchen in dem Exil. Genauso ist es auch im Fall der Vertreibungsprosa. Dieses Gefühl des ewigen Verlustes und dessen, dass es kein Zurück gibt, spiegelt sich in einer sehr intensiven Beschäftigung mit dem Raum wider. Der Heimatverlust ist nämlich die Trennung von allem Vertrauten, Menschen, Traditionen, jahrhundertelangem Erbe. Werke, wie die von Mühlberger und Kanafānī, in denen die verlorene Heimat rekonstruiert wird, gelten somit als Sprachmuseen, wo man wieder erkennen kann, wie Palästina aus Kanafānīs Perspektive und wie das Sudetenland aus Mühlbergers Perspektive aussah, wie beide das Exil und die Flüchtlingswege dorthin empfanden, inwiefern das Exil als „neue Heimat“ genannt werden darf.

Wie wichtig ist die Exilliteratur im Rahmen der komparatistischen Literatur?

Die (realistische) Literatur im Allgemeinen ist ja ein Ausdrucksmittel des Individuums und somit auch eine Widerspiegelung der Gesellschaft und des Zeitalters. Flüchtlinge, Asylanten oder Exilanten, kurz alle, die mehr oder weniger gezwungenermaßen ihre ursprüngliche Heimat in eine andere verlassen haben, bilden in der neuen Heimat eine Minderheit, die ein doppeltes Leiden durchleben: die Trennung vom eigenen Milieu, in dem sie aufwuchsen und zu dem sie sich auch zugehörig fühlten, einerseits, und die Integrationsversuche in ein fremdes Milieu, das sie nicht immer und nicht unbedingt willkommen heißt und wo sie neue Verbindungen knüpfen müssen. Dazu gehören auch all die oft traumatisierenden Erfahrungen, die überhaupt zur Trennung geführt hatten und die auch einer Integration im Wege stehen. Ich will nicht idealistisch sein und davon ausgehen, dass die Literatur Kriege verhindern könnte – was man natürlich ohnehin hofft –, aber zumindest könnte einer realistischen Exilliteratur gelingen, das Lesepublikum für das Leiden von Exilanten und Flüchtlingen sensibilisieren. Diese Menschen brauchen nicht nur eine Hand, die sie vom Tod rettet und ihr das Lebensnotwendige zur Verfügung stellt bzw. sie unterstützt, um sich in die neue Gesellschaft zu integrieren, genauso brauchen sie ein Ohr, das ihr Elend vernimmt, und ein Medium, um dieses Elend zum Ausdruck zu bringen.

Wie können Übersetzungen und literarische Vergleiche zum Dialog zwischen Kulturen beitragen?

Übersetzungen sind Brücken der Verständigung; sie öffnen jene verschlossenen Türen, die uns von verschiedenen Ländern und ihren Kulturen trennen. Oft gehört zu den Reisezielen, andere Kulturen kennenlernen zu wollen, aber was man auf Reisen mit den Sinneswahrnehmungen erlebt, bleibt oft auf der Oberflächenebene. Will man aber in die Tiefe gehen, dann muss man eine mentale Reise unternehmen und das gelingt am besten durch Lesen. Und da spielt die Übersetzung eine erhebliche Rolle, denn mit einer guten Übersetzung vermittelt man nicht nur Bedeutungen, sondern auch Denkweisen und Ideologien. Der literaturwissenschaftliche bzw. linguistische Vergleich von Werken aus zwei verschiedenen Kulturen ist ein weiterer Schritt in diese Richtung: Denn geschildert wird dabei nicht nur das Andere (wie beim Übersetzen), sondern das Andere vs. das Eigene. Mit anderen Worten lernt man nicht nur das Fremde dabei kennen, sondern das Fremde im Vergleich zu dem Heimischen. Und da entdeckt man vieles auf beiden Seiten, was möglicherweise eine objektivere Betrachtung des Anderen aber auch des Selbst ergeben kann. Überheblichkeit und Diskriminierung resultieren meines Erachtens aus Unkenntnis. Man unterschätzt, was man eigentlich nicht weiß.

Wie sehr hängt das Fremde mit dem Raum zusammen und warum ist es so wichtig, räumliche Metaphern in literarischen Werken zu analysieren?

Das Fremde befindet sich meistens in einem anderen Raum, abseits des eigenen. Er ist jener andere Raum, der den Leser von (der Aneignung) der fremden Kultur distanziert. Zugleich bedingt jeder Raum mit allem, was damit an geografischen und historischen Besonderheiten zusammenhängt, die Kultur, die sich dort über die Jahrhunderte gestaltet. Isoliert man einen Menschen von seinem kulturellen Raum, dann fehlt ihm eine sehr wichtige Komponente seiner geistigen Existenz, nämlich die Quelle. Diese Isolation erfordert einen Ausgleich, der in literarischen Werken sehr oft durch Raummetaphern erfolgt. Generell wird durch die Analyse einer Metapher die kognitive Vernetzung ihrer beiden Teile, des Ausgangs- und des Zielbereichs, entschlüsselt. Im Fall von Raummetaphern verschafft eine solche Analyse einen besseren Zugang in die andere Kultur, die mit jenem Raum zusammenhängt. Mit anderen Worten gelten Raummetaphern als „Türöffner“, mit Hilfe deren man kulturelle Konnotationen wiederherstellen und verstehen vermag.