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COVID-19: „ Das Rennen um die Impfstoffe ist keine Gesundheitsstrategie“   Interview mit Els Torreele, Ärzte ohne Grenzen

 

Von Thomas Lemahieu, Humanite, 23.11.2020, Deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik. Für Els Torreele, ehemalige Leiterin der Kampagne für den Zugang zu Medikamenten von Ärzte ohne Grenzen muss die Logik der Fragmentierung überwunden werden, um die Zusammenarbeit auf globaler Ebene zu fördern. Die Staaten verfügen über die Mittel, um Prioritäten für öffentliche Versorgungsunternehmen festzulegen.


Covid-19-Impfstoffe kommen, meldet ein Konzern nach dem anderen, aber für Sie klingt das nicht beruhigend. Warum?

Els Torreele. In den letzten Jahrzehnten wurde die biomedizinische Forschung auf den Markt Els Toreelegebracht. Man hat im klassischsten Sinne des Kapitalismus die großen Pharmaunternehmen ihre großen Pharmakampagnen machen lassen, welche die Gesundheitsprobleme mit technologischen Lösungen lösen sollen. Die Behörden stellen keine Bedingungen mehr an sie und erwarten lediglich, dass sie sich als Weltretter bewähren. Dies zeigt sich beispielhaft im Rennen um die Covid-19-Impfstoffe. In dieser Phase liefert die Kommunikation über die klinischen Studien nicht alle Elemente: Niemand weiß, ob die Produkte, die sich heute in den Schlagzeilen finden, die Übertragungskette des Virus durchtrennen. Denn dieser ist der wesentliche Aspekt zur Bestimmung der Wirksamkeit eines Impfstoffs. Was uns gesagt wird, ist, dass zwei bis drei Wochen nach einer Injektion ein gewisser Schutz gegen die Krankheit vorhanden ist … Für die öffentliche Gesundheit ist es aber wichtig, im Laufe der Zeit mehr über Wirksamkeit und Sicherheit zu erfahren.

Die Entscheidungsbefugnis wurde von den Staaten an die Konzerne eines hyperfinanzierten Bereichs abgegeben. Öffentliche Investitionen in die Forschung, Organisation klinischer Studien, direkte Subventionen für die Entwicklung von Impfstoffen, für Produktions- und Logistikinfrastrukturen, Frühkaufmechanismen für Impfstoffe zu sehr hohen Preisen …

Wie kann man zulassen, dass Big Pharma alle Initiativen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Koordinierung der Bemühungen verhöhnt?

Die Institution ist ja nicht dazu befugt, etwas aufzuerlegen. Die WHO sind die Staaten, und sie wollten sich der Herausforderung einer umfassenden Strategie im Bereich der öffentlichen Gesundheit nicht stellen! Aber das ist noch nicht alles: Die Aufsichtsbehörden für das öffentliche Gesundheitswesen sind nicht bereit, alle ihre Vorrechte auszuüben. Diese Vorrechte, die zu Beginn als Gewährleistungen zum Schutz des öffentlichen Interesses gedacht waren, haben sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt und geben sich damit zufrieden, medizinische Innovationen für Patienten zu begleiten. Man ist beeindruckt, wenn man ihre Jahresberichte liest, in denen sie sich über die Anzahl der Produkte freuen, die sie genehmigen konnten. Aber sie bleiben wie heute am Rande, wenn es darum geht, sich die notwendigen Werkzeuge und ihre Koordination zwecks Besiegung der Pandemie vorzustellen. Der allgemeine Wettbewerb auf Kosten der globalen Zusammenarbeit führt zu einer Fragmentierung, die katastrophale Folgen haben könnte: Anstatt darüber nachzudenken, wie mit der Pandemie auf globaler Ebene umgegangen werden soll, haben es reichere Staaten geschafft, Hunderte Millionen Dosen zu erhalten. Nun fragen sie sich, was sie damit machen wollen. Und das ist keine Gesundheitsstrategie!

Wie können wir aus dieser gefährlichen Sackgasse herauskommen?

Mit Covid-19 stellen wir die Konzerne und das auf den finanziellen Gewinnen basierende Modell wieder in den Mittelpunkt des Spiels. Seit einigen Jahren nimmt die Pharmaindustrie, die mehr für Marketing als für Forschung und Entwicklung ausgibt, eher eine defensive Haltung ein: Unter dem Druck der Bewegungen und der Zivilgesellschaft, der Dauer von Patenten, Monopolen, der Vermarktung von Behandlungen ohne therapeutischen Wert, der exorbitanten Preise – manchmal über Hunderttausende von Euro – für bestimmte Medikamente auf Kosten der Sozialversicherungssysteme in Europa wurden in Frage gestellt. Und dann kam die Pandemie. Die Regierungen bekamen Angst und die Großkonzerne haben die Situation ausgenutzt, um ihr Image zu verbessern. Dies ist ihr Moment des Ruhms und sie nutzen ihn. Ihre Eigentümer führen Live-Diskussionen mit den Staatsoberhäuptern, und die Zivilgesellschaft und die Länder des Südens werden von den Diskussionen ausgeschlossen.

Gleichzeitig konkurrieren die Führer der Großmächte mit Ausnahme von Donald Trump mit großzügigen Behauptungen über den Impfstoff als „globales Gemeingut“.

Ja, es geht um leere Behauptungen. Aber vorher hatte man solche Aussagen nicht gehört. Diese Forderung der Staatsoberhäupter nach einem erschwinglichen und gerechten weltweiten Zugang zu den Impfstoffen ist aber eine vollkommene Neuheit, die hervorgehoben werden muss. Wir wissen alle zu gut, dass vor dieser Pandemie niemand geschützt ist, bis wir nicht alle geschützt sind. Leider triumphieren derzeit der Opportunismus und der Nationalismus der Reichsten. Und die Pharmaindustrie nutzt dies für sich: Während sie ständig Vorbestellungen und Subventionen für die Antibiotika beantragte, die sie für unzureichend rentabel hält, nutzt sie das Covid-Virus, um zu versuchen, dieses Modell als Bezugsmodell für die Zukunft weiter zu konsolidieren: Öffentliche Gelder sollen alle Risiken abdecken, und die Gewinne sollen vollständig in die Taschen der Aktionäre fließen.

Wissenschaftliche Ergebnisse, die teilweise von den Unternehmen selbst veröffentlicht wurden, Handelsverträge, die das Preisgeheimnis wahren, aber bei negativen Auswirkungen wird die Verantwortung auf die Staaten geschoben. Besteht im Kontext außer Kontrolle geratener Verschwörungstheorien nicht die Gefahr, dass diese anhaltende Undurchsichtigkeit das Misstrauen gegenüber Impfstoffen schürt?

Die Pressemitteilungen der Konzerne stellen keinerlei Gewährleistung für die Transparenz dar. Oder noch schlimmer! Die Unternehmen entwickeln selbst die Protokolle, um die schnellsten und attraktivsten Ergebnisse für die Märkte zu erzielen, auch wenn sie offensichtlich direkte finanzielle Interessen haben. Die mangelnde Transparenz über vollständige Daten, über staatliche Bestellungen, über die Verteilung zwischen ihnen, über Preise und über Produktionszentren könnte die Vertrauenskrise in Impfstoffe mit einer Kombination aus guten und schlechten Gründen verschärfen. Was die Verschwörungstheorien betrifft, weiß ich ehrlich gesagt nicht, wie ich dem entgegenwirken soll. Im Übrigen ist es sehr wichtig, Beweise, Daten und Transparenz anzufordern. Es ist unbedingt erforderlich, die Diskussion zu eröffnen. Das Geschäftsgeheimnis darf diese Diskussion nicht verhindern. Jeder muss sich eine eigene Meinung bilden können. Wir müssen wissen, was sicher bekannt ist, was in den Studien noch überprüft werden muss usw. Diese Transparenz ist von wesentlicher Bedeutung. Jede weitere Undurchsichtigkeit im Rahmen eines Misstrauens gegenüber Politikern, Konzernen und auch gegenüber der Wissenschaft, wäre ein großer Fehler.

Wie können wir das öffentliche Interesse wieder in den Mittelpunkt des Kampfes um die globale Gesundheit stellen?

Als die Idee aufkam, einen Mann auf den Mond zu schicken, legten die Behörden klare und genaue Kriterien fest: Es ging nicht darum, sich dem Mond ein wenig zu nähern; denn der Befehl besagte, man sollte auf dem Mond laufen … Wir dürfen nicht warten, bis der Markt die Welt rettet. Denn es liegt an den Staaten, sich ehrgeizige Ziele zu setzen und die entsprechenden Prioritäten festzulegen. Die Wissenschaft in eine Wettbewerbslogik einzuführen, in der die Patente der öffentlichen Forschung dann auf Konzerne übertragen werden, verurteilt uns, mit mittelmäßigen Lösungen zu konkurrieren, anstatt mit Lösungen, die aus einer allgemeinen Zusammenarbeit entstehen, in der man aus den Erfolgen und Misserfolgen anderer lernt. Heute nutzen alle westlichen Konzerne, aber auch die Labors anderer Großmächte wie China, mehr oder weniger dieselben Technologien für ihre Impfstoffe, aber sie teilen nichts miteinander. Sie mussten schnell handeln, denn der Markt suchte an derselben Stelle, indem er gegen das Spike-Protein immunisierte, das das Coronavirus in die Lage versetzte, in die Zellen einzudringen. Und keiner erkundet andere Wege, die möglicherweise zu einer Bereicherung der globalen Gesundheitsstrategie beitragen könnten.

Infolge der gegenwärtigen, weitgehend spekulativen Hektik setzt man im Kampf gegen das Covid-19-Virus einzig und allein auf den Impfstoff. Warum reicht dies Ihrer Meinung nach aber nicht aus?

Über 7 Milliarden Menschen, zwei Impfdosen: so lauten die Berechnungen. Die Werkzeuge des Marktes kommen, sie sind sozusagen Konsumgüter, die im Rahmen einer Logik des Profits vorangetrieben werden. Aber es ist sehr einseitig zu glauben, dass alles mit einem Impfstoff, der an alle Bewohner dieses Planeten verteilt werden soll, lösbar ist. Eine globale Strategie für die öffentliche Gesundheit sollte hingegen die Eigenschaften aller verfügbaren Mittel, die Entwicklung der Pandemie in den verschiedenen Regionen usw. berücksichtigen. „Welche Bevölkerungsgruppen können am meisten von einem sofortigen Impfstoff profitieren?“ Diese Frage, die von den Staaten vollkommen außer Acht gelassen wird, sollte man sich hingegen stellen. Kürzlich habe ich mich mit einem Kollegen aus Kamerun unterhalten. Hier konnte man die Epidemie größtenteils unter Kontrolle halten, während sich hingegen die Malaria und andere Krankheiten besorgniserregend ausbreiten. An dieser Stelle sind Geldmittel dringend notwendig  … . Im Vietnam, in Taiwan und Hongkong wurde auch eine effiziente Vorbeugungsarbeit geleistet. Es lohnt sich also möglicherweise nicht, alle mit einem Produkt zu impfen, über das wir noch über unzureichende Daten verfügen. Mit Sicherheit werden wir mit den Masken oder der physischen Distanzierung geringere Gewinne erzielen, aber das Ziel besteht heute doch in der Eindämmung der Pandemie!