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“Mehr Mut zur Weltmacht”

Von German Foreign
Policy
, 5.1.2021. Deutsches Außenpolitik-Establishment debattiert
EU-Weltmachtpläne. Ex-EU-Kommissar warnt vor “völliger
Selbstüberschätzung”. Mit neuen Weltmachtplänen für die EU startet das
außenpolitische Establishment der Bundesrepublik in das zweite Jahr der
Covid-19-Pandemie.

Quelle des Bildes: wiwo

Während vor allem die westlichen Mächte und ihre Verbündeten von weiteren
Pandemiewellen überrollt werden und teils rasant steigende Opferzahlen zu
beklagen haben, debattiert das maßgebliche Fachblatt der deutschen Außenpolitik
(“Internationale Politik”, IP) über die Frage, “was Europa zur
Weltmacht fehlt”. Dass die Union “mehr Mut zur Weltmacht” haben
müsse, war schon im Herbst in mehreren deutschen Leitmedien gefordert worden.
Einer Umfrage zufolge stimmen der Aussage, die EU könne “eine ähnlich
starke Rolle in der Weltpolitik spielen” wie die USA und China, beinahe
die Hälfte der Deutschen zu – vor allem Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen (52
Prozent) und FDP (56 Prozent) sowie die Generation der 18- bis 29-Jährigen (70 Prozent).
Während die IP fordert, “Europa” müsse seine “internationale
Wirkkraft” stärken, warnt Ex-EU-Kommissar Günther Oettinger, es gebe in
vielen EU-Hauptstädten “eine völlige Selbstüberschätzung” –
“eine Art Hybris”.

“Weltweit Maßstäbe setzen”

Forderungen, die EU solle sich offensiv als “Weltmacht”
positionieren, waren schon im Herbst in auflagenstarken liberalen und
konservativen Medien geäußert worden. “Mehr Mut zur Weltmacht” hatte
im Oktober etwa das Onlineportal der Wochenzeitung “Die Zeit” verlangt:
Die Union, so hieß es, “muss sich als Weltmacht verstehen”.[1] In dem
Springer-Blatt “Die Welt” erklärten wenig später Entwicklungsminister
Gerd Müller sowie der Ex-Außenpolitikexperte der einflussreichen
Bertelsmann-Stiftung Werner Weidenfeld, die EU habe “das Zeug zur
Weltmacht”: “Ihr Souverän – die rund 400 Millionen Menschen mit ihrem
ökonomischen Spitzenpotenzial – und eine solide militärische Ausstattung haben
die EU in den Rang einer Weltmacht befördert.”[2] Mit ähnlichen Argumenten
hatte Weidenfeld schon vor fast zwei Jahrzehnten die Union als “Weltmacht
im Werden” eingestuft (german-foreign-policy.com berichtete [3]).
Gemeinsam mit Müller sprach er sich nun dafür aus, “Europa” solle
“kraft seiner Wirtschaftsmacht … in der digitalisierten und globalisierten
multipolaren Welt Maßstäbe setzen”. Dazu benötige Brüssel freilich nicht
bloß einen “handlungsfähigeren politischen Rahmen” – nach Möglichkeit
“flankiert von einem europäischen Strategierat” -, sondern etwa auch
eine “europäische[…] Armee” mit “einer gemeinsamen
Kommandostruktur”.

“Wie die USA oder China”

Mit der Titelfrage “Was Europa zur Weltmacht fehlt” und mit einem
entsprechenden thematischen Schwerpunkt greift nun die Zeitschrift
Internationale Politik (IP) die Debatte auf. Die IP, das führende Fachblatt des
außenpolitischen Establishments, wird von der Deutschen Gesellschaft für
Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben, einer der einflussreichsten
Außenpolitik-Denkfabriken der Bundesrepublik; ihre zweimonatliche Auflage wird
auf 6.000 Exemplare beziffert. Wie die IP konstatiert, hält fast die Hälfte der
deutschen Bevölkerung eine künftige Weltmachtrolle der EU für denkbar. Demnach
antworteten in einer repräsentativen Umfrage im Dezember auf die Frage, ob
“die EU in Zukunft eine ähnlich starke Rolle in der Weltpolitik
spielen” könne “wie heute die USA oder China”, 43 Prozent mit
“Ja”.[4] Die größten Zustimmungswerte ergab die Umfrage zum einen bei
der jüngeren Generation: Rund 70 Prozent der 18- bis 29-Jährigen sehen die
Union demzufolge als künftige Weltmacht; bei den Über-60-Jährigen sind es
gerade einmal 28 Prozent. Über dem Durchschnitt liegen die Zustimmungswerte,
parteipolitisch betrachtet, bei Wirtschafts- und Ökoliberalen: 56 Prozent der
FDP-Anhänger sehen die EU demzufolge prinzipiell auf Augenhöhe mit den USA und
China; dies tun zudem 52 Prozent der Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen.

Viel geredet, wenig getan

Mit Blick auf die reale politische Stellung der EU in der internationalen
Politik räumt die IP ein, “Europa” habe “viel über seine
internationale Rolle geredet”, dies aber, “ohne genug dafür zu
tun”.[5] So sei das Ziel, “strategische Autonomie” zu erlangen –
eine verklausulierte Variante des Weltmachtanspruchs -, zuerst in den
Schlussfolgerungen des Europäischen Rats vom Dezember 2013 festgeschrieben
worden, dann in der Global Strategy der Union vom Juni 2016. Erreicht sei das
Ziel allerdings noch nicht. “Europas Aufgabe” sei es nun, “unter
neuen Vorzeichen seine internationale Wirkkraft zu stärken und seine Interessen
entschiedener zu vertreten”. Dabei werde der EU “der Ausbau ihrer
Machtressourcen” mutmaßlich “nur gelingen, wenn ihr innerer
Zusammenhalt und die Kooperationsbereitschaft der Regierungen wachsen”.
Die IP schließt dabei nützliche Nebenwirkungen schwerer Krisen – etwa der
aktuellen Coronakrise – nicht aus: “Das Gefühl einer
‘Schicksalsgemeinschaft’ ist gewachsen.” Dies freilich lässt sich aktuell
– nur wenige Tage nach Erscheinen der jüngsten IP-Ausgabe – stark bezweifeln:
Wegen ernster Fehler bei der Impfstoffbeschaffung bricht sich heftige Kritik an
der Trägheit der Brüsseler Behörden Bahn.

Anspruch und Wirklichkeit

Während die IP den EU-Weltmachtanspruch aufrechterhält, legen einzelne
Beiträge in der jüngsten Ausgabe offen, wie Anspruch und Wirklichkeit zunehmend
auseinanderklaffen. So heißt es etwa, “wie kein anderes Thema” stehe
die Iran-Politik für die gemeinsame Außenpolitik der Union: “Seit nunmehr
fast zwei Jahrzehnten” verfolgten die Mitgliedstaaten “gegenüber
Teheran einen relativ konsistenten Ansatz” – dies immer wieder auch gegen
massiven Druck aus den USA.[6] Allerdings habe sich auch gerade in der
Iran-Politik das “Unvermögen” der EU gezeigt, “maßgeblichen
Einfluss geltend zu machen”; so sei etwa der Handel mit Iran – trotz
umfassender Bemühungen der Union – aufgrund der einseitig verhängten
US-Sanktionen fast vollständig kollabiert. Ähnlich verhält es sich mit der
Afrika-Politik. So ist es trotz langjähriger, stets vollmundig angekündigter
Bestrebungen, die Wirtschaftsbeziehungen zu den Staaten Afrikas südlich der
Sahara auszudehnen, bislang nicht gelungen, dies zu tun; stattdessen hat China
seine Stellung auf dem afrikanischen Kontinent massiv gestärkt. “Momentan
sieht es danach aus”, heißt es in der jüngsten IP, “als würde China,
nicht Europa, der Hauptnutznießer einer [erhofften, d.Red.] afrikanischen
Wirtschaftsblüte sein”.[7]

Eine Art Hybris

Warnungen, die Weltmachtansprüche der EU würden durch ihre ökonomische
Leistungsfähigkeit bei weitem nicht gedeckt, sind dabei zunehmend von
Wirtschaftspolitikern zu hören. Sie schließen an Feststellungen wie diejenige
an, dass der Anteil der Union an der globalen Wirtschaftsleistung bestenfalls
stagniert (german-foreign-policy.com berichtete [8]), oder diejenige, dass der
Anteil der EU an den globalen Patentanmeldungen von 2009 bis 2019 dramatisch
fiel – von 34,7 auf 23,2 Prozent -, während der Anteil Asiens im selben
Zeitraum von 32 auf 52,4 Prozent stieg.[9] Dabei hätten die politischen Eliten
dies oft noch gar nicht realisiert, warnte kürzlich der ehemalige EU-Kommissar
Günther Oettinger: “Es gibt in vielen europäischen Hauptstädten eine
völlige Selbstüberschätzung der eigenen Wirtschaftskraft. Eine Art
Hybris.”[10] Anfang dieser Woche ließ sich zudem der Ex-Staatsminister im
Auswärtigen Amt und heutige Präsident der Europäischen Investitionsbank (EIB)
Werner Hoyer mit der Äußerung zitieren, die EU-Staaten verlören “seit 15
Jahren an Wettbewerbsfähigkeit” und investierten gleichzeitig “Jahr
für Jahr 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts weniger in Forschung und Entwicklung”:
“Noch holen wir nicht auf”, warnt Hoyer, “sondern fallen weiter
zurück”.[11]

 

[1] Ulrich Ladurner: Mehr Mut zur Weltmacht. zeit.de 01.10.2020.

[2] Gerd Müller, Werner Weidenfeld: Die EU hat das Zeug zur Weltmacht.
welt.de 21.10.2020.

[3] Werner Weidenfeld: Thinktank: Die verhinderte Weltmacht. welt.de
08.03.2003. S. dazu Wille zur Weltmacht.

[4] 53 Prozent urteilten “Nein”, 4 Prozent antworteten “Weiß
nicht”. Internationale Politik 1/2021. S. 5.

[5] Daniela Schwarzer: Europas geopolitischer Moment. In: Internationale
Politik 1/2021. S. 18-25.

[6] David Jalilvand: Verzagte Vermittler. In: Internationale Politik
1/2021. S. 38-40.

[7] Amaka Anku: Suboptimale Subsahara-Politik. In: Internationale Politik
1/2021. S. 41-43.

[8] S. dazu Der große Ungleichmacher.

[9] Der Anteil Nordamerikas fiel zugleich von 31 auf 22,8 Prozent.
Internationale Politik 1/2021. S. 26.

[10] Thomas Sigmund: “Es gibt in vielen europäischen Hauptstädten eine
völlige Selbstüberschätzung der eigenen Wirtschaftskraft”.
handelsblatt.com 16.11.2020.

[11] Michael Maisch, Hans-Peter Siebenhaar: Werner Hoyer: “Wir holen
nicht auf, wir fallen zurück”. handelsblatt.com 04.01.2021.