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Gina Vega – Rassismus ist ein Machtsystem

Von Milena Rampoldi, ProMosaik, 15.01.2020. Anbei mein Interview mit Gina Vega,
Leiterin der Fachstelle Diskriminierung und Rassismus und des Beratungsnetzes für
Rassismusopfer bei humanrights.ch i
n Bern zum Thema Rassismus und Diskriminierung, das auch in
unserem Coronazeitalter eine Konstante darstellt. Wir haben uns über die neue
pädagogische Plattform zum Thema unterhalten und angesprochen, wie wichtig es
ist, Themen wie Rassismus und Diskriminierung auf gesellschaftlicher Ebene
umfassend anzusprechen, um eine Welt anzustreben, in der Gleichheit und
Diversität unser soziales und politisches Leben bestimmen.

 

Ich finde Ihre Initiative so wichtig, weil sie keine Initiative für eine
bestimmte Zielgruppe von Experten ist oder von Menschen, die schon auf dem
Gebiet der Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus tätig sind. Warum soll
diese Art von Pädagogik die gesamte Gesellschaft betreffen und nicht die Kreise
der Fachleute?

 

Sich weiterzubilden hat
in einer wandelnden Gesellschaft einen großen Stellenwert und ist eine
wachsende Notwendigkeit, um mit den Anforderungen und Herausforderungen sowohl
in der Berufswelt als auch im Privat- und im Zusammenleben standzuhalten. Dies
betrifft auch das Thema Rassismus. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten der
Weiterbildung im Bereich Antirassismus und Diskriminierungsschutz, die aber
kaum im Netz sichtbar sind. Mit unserer Weiterbildungsplattform Antirassismus
möchten wir antirassistische Weiterbildungsangebote sichtbar machen und diese
für Einzelpersonen, Betriebe, Verwaltungsstellen und Organisationen zugänglich
machen. Rassismus betrifft uns alle als Gesellschaft. Rassismus ist ein
strukturelles Problem, das unsere Institutionen aber auch unser Handeln prägt,
deswegen ist es mehr als notwendig, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen,
die Formen und Auswirkungen von Rassismus und Diskriminierung kennenzulernen
und/oder zu vertiefen; das eigene Verhalten und Handeln zu hinterfragen und zu
reflektieren sowie Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Ich sehe die
Weiterbildung im Bereich Antirassismus als eines der besten Mittel, Rassismus und
rassistische Diskriminierung zu bekämpfen und sich nachhaltig für diese Themen
zu engagieren.

Was verstehen Sie unter
Diskriminierung und Rassismus?

Diskriminierung liegt
vor, wenn eine Person oder Gruppe direkt oder indirekt benachteiligt oder
ungleich behandelt wird. Wenn die Diskriminierung aufgrund eines Merkmals wie
der Herkunft, der Hautfarbe, der Nationalität, der Sprache oder der
Religionszugehörigkeit ausgeht, sprechen wir von rassistischer Diskriminierung.
Und wenn eine Person aufgrund von verschiedenen Merkmalen wie dem Geschlecht,
der Herkunft und/oder der sozialen Stellung diskriminiert wird, liegt eine
sogenannte Mehrfachdiskriminierung vor.

 

Rassismus an sich ist
etwas komplexer zu definieren. Rassismus ist ein Machtsystem, das Menschen aufgrund
von äußerlichen oder angenommenen kulturellen, religiösen oder
herkunftsmäßigen Merkmalen unterscheidet.

 

Diese Unterscheidungen
sind sozial konstruiert und dienen der Hierarchisierung von Menschen und einem
System von Privilegien, Ausgrenzung und Unterdrückung. Dieses Machtsystem prägt
z.T. unsichtbar und unbewusst die Gesamtgesellschaft, deshalb
kann man Rassismus nicht auf eine Einzeltat reduzieren, die nur von bösen
Menschen, mit bösen Absichten ausgeht. Rassismus ist tief in unserer
Gesellschaft verankert und ist leider eher die Norm als die Ausnahme. Er
spiegelt sich wider in unserem Alltag, unserer Sprache, in unseren Traditionen,
in der Literatur, in der Kunst, in den Medien und auch beim Zugang zu Arbeit,
Wohnraum oder Leistungen in allen Lebensbereichen.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Corona und zunehmender
Diskriminierung?

 

Wir haben vereinzelte
Meldungen mit einem direkten Zusammenhang zwischen Corona und Diskriminierung
im Jahr 2020 bekommen. Fakt ist aber, dass die Unsicherheit, die so eine
Pandemie wie Corona auslöst, genutzt wird, um an rassistische Stereotypen
anzuknüpfen und eine rassistische Narrative zu verbreiten. Direkt beobachten
wir eine Zunahme und massive Verbreitung von antisemitischen
Verschwörungstheorien. Indirekt bekamen Beratungsstellen schweizweit aufgrund
der Corona-Maßnahmen und Ausgangsbeschränkungen vermehrt Meldungen von
nachbarschaftlichen Konflikten und Konflikten in Zusammenhang mit Behörden.
Unser Auswertungsbericht zu Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit wird in
April 2021 auf www.network-racism.ch
publiziert. Es lohnt sich hier die Zahlen der in 2020 eingegangenen Meldungen
anzuschauen.

 

Warum braucht es eine allgemeine Pädagogik des Antirassismus und der
Antidiskriminierung?

Die Problematik von
Rassismus und Diskriminierung kann nicht nur Menschen im rechten Spektrum in
die Schuhe geschoben werden. Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung sind
in der Schweiz latente Probleme und die alltägliche Realität für bestimmte
Bevölkerungsgruppen. Rassismus tritt in ganz unterschiedlichen Formen auf.
Manchmal sind rassistische Handlungen offensichtlich und direkt. Meistens tritt
Rassismus aber versteckt und subtil im Alltag auf, bei der Arbeit, im Wohnhaus
oder in anderen Bereichen. Wie ich es schon erwähnt habe, ist keine Person
immun gegen rassistisches Denken, denn wir lernen schon von klein an
rassistische Strukturen als normal anzusehen und danach zu handeln. Deswegen
ist es sehr wichtig, unsere Denk- und Verhaltensmuster zu hinterfragen und
einen kritischen Umgang mit Rassismus in unserem Alltag, in unseren
Organisationen und Institutionen, und in unserer Gesellschaft zu lernen. Dafür
braucht man eine Pädagogik des Antirassismus und der Antidiskriminierung. Bis
jetzt ist es auch so, dass Rassismus und Diskriminierung als Themen sehr wenig
Aufmerksamkeit in der schulischen Bildung aber auch in der Aus- und
Weiterbildung geschenkt wird. Diese Lücke in unserem Bildungssystem muss
geschlossen werden.

 

Welche sind die Hauptformen der Diskriminierung in der
Schweiz im Alltag der Menschen?

Rassistische
Diskriminierung trifft Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen und in
verschiedenen Lebensbereichen. Jugendliche, die auf Lehrstellensuche sind und
die ihre Freizeit in Sportvereinen, Discos und Jugendtreffs verbringen, machen
andere Erfahrungen mit Rassismus als Personen, die bereits in der Arbeitswelt
stehen. Frauen, die einer erhöhten Gefahr der Mehrfachdiskriminierung (z.B.
Geschlecht und Herkunft) ausgesetzt sind, spüren Rassismus anders als Männer,
usw. Fakt ist, dass die Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung oder mit
Rassismus sehr verletzend sind und tiefgreifende Konsequenzen im Leben der
Menschen haben. Die Arbeitswelt und der öffentliche Raum sind die meistbetroffenen
Lebensbereiche, gefolgt von der Nachbarschaft, der Schule und der Verwaltung.
Erfahrungen reichen von Benachteiligungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt
bis hin zu Beschimpfung oder Mobbing. Die von uns erfassten Zahlen sind nur die
Spitze des Eisbergs. Die Dunkelziffer an rassistischen Vorfällen ist leider
immer noch sehr hoch. Es ist davon auszugehen, dass der Großteil der
rassistischen Vorfälle in der Schweiz nirgends gemeldet oder bearbeitet wird.
Viele Betroffene melden ihre Erfahrung mit Rassismus nicht, aus fehlender
Kenntnis von Beratungsangeboten, fehlendem Vertrauen, Ängsten oder einer
Verdrängung bestimmter Vorfälle. Die Sensibilisierung von Betroffenen ist auch
ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Nur wenn rassistische Vorfälle gemeldet
werden, können wir das wirkliche Ausmaß von Rassismus in unserer Gesellschaft
aufdecken.

Welche Hauptziele möchten
Sie mit diesem Projekt erreichen?

Das Projekt möchte
schweizweite Weiterbildungsangebote im Bereich Antirassismus und
Diskriminierungsschutz als Mittel der Rassismusbekämpfung fördern und stärken
sowie für die breite Öffentlichkeit zugänglich machen. Es ist uns auch ein
wichtiges Anliegen, die Qualität von solchen Weiterbildungen durch erarbeitete
Qualitätsstandards zu fördern. Weiterbildungsanbieter*innen auf unserer
Plattform verpflichten sich diese Standards einzuhalten. Dafür ist uns auch die
Förderung des Austausches und der Vernetzung zwischen den unterschiedlichen
Akteuren und Weiterbildungsanbieter*innen sehr wichtig, denn nur so können wir
uns gegenseitig stärken und gemeinsam Herausforderungen in den Weiterbildungen
bewältigen.