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Ägypten 2020: fröhlich in den Abgrund

Hipatia Urabi 02/12/2020

Bald werden die 2020 Parlamentswahlen in Ägypten abgeschlossen. Seit Wochen sind wieder – auch im kleinsten Dorf – die Straßen und Plätze mit den lächelnden gephotoshopten Portraits derselben Leute, wie jedes Mal, und mit den gleichen Parolen tapeziert, wie immer, alles beim Alten, als ob sich in diesem Land seit dem Aufstand vor knapp einer Dekade nichts geändert hätte.

Tradotto da Mikaela Honung
Kurze Bestandsaufnahme
Die Wirtschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch, der Insolvenz, der Unfähigkeit die Schulden zu bedienen, vom Begleichen ganz zu schweigen.
Es gibt keinerlei Strategie, nach dem völligen Versagen der Verhandlungen über den Bau des „Renaissance Staudamms“ in Äthiopien, um mit der erwarteten Wasserknappheit umzugehen.
Außer mit Propaganda und Datenmanipulation gibt es keinerlei Strategie, der eskalierenden Corona-Krise entgegenzutreten. Im Gegenteil; in der Zeit, wo alle von Corona betroffenen Länder durch Subventionen und Finanzspritzen versuchen, die wirtschaftliche Last der Krise auf die untersten Schichten der Gesellschaft zu mildern, erhöht die ägyptische Regierung die Preise aller Artikel, die die Schwachen schmerzlich treffen, Brot, Strom, Treibstoff, öffentliche Verkehrsmittel, eine Flut von neuen Steuern und Preiserhöhungen auf alle staatlichen Dienstleitungen, von Bildung und Gesundheitsversorgung wollen wir gar nicht erst reden. Diese sind bereits vor Corona ein Privileg der Reichen geworden.
Amnesty International beginnt seinen Bericht 2019 über Ägypten mit der folgenden Einleitung:
„Die Behörden haben sich auf eine Reihe von Unterdrückungsmaßnahmen gegen Protestierende und augenscheinliche Dissidenten verlegt von Verschwindenlassen, Massenverhaftungen, Folter und anderen Misshandlungen bis zu dem übermäßigen Einsatz von Gewalt und strengsten Bewährungsauflagen, insbesondere nach den Protesten gegen den Präsidenten am 20. September. Sicherheitskräfte haben willkürlich mindestens 20 Journalisten verhaftet und festgehalten, nur weil diese friedlich ihre Meinung zum Ausdruck gebracht haben. Die Behörden schränkten die Vereinigungsfreiheit von Menschenrechtsorganisationen und politischen Parteien weiterhin stark ein.
Verfassungsänderungen haben die Rolle der Militärgerichtshöfe ausgeweitet in Bezug auf die Verfolgung von Zivilisten und haben die Unabhängigkeit des Rechtssystems unterminiert.
Seit den Protesten vom 20. September, hat die „Supreme State Security Prosecution“ (SSSP), die “Oberste Staats-Sicherheits-Anwaltschaft“ die Festsetzung von Tausenden in Untersuchungshaft angeordnet mit dem nebulösen Vorwurf von „terrorismusähnlichen“ Vergehen. Exzessiver Einsatz von Sondergerichthöfen hat zu erschreckend unfairen Verfahren geführt und, in manchen Fällen, Todesstrafen.
Es gab weiterhin Hinrichtungen. In informellen und offiziellen Gefängnissen ist Folter an der Tagesordnung. Die Zustände der Gefangenschaft bleiben unzumutbar, trotz der massenweisen Hungerstreiks unter den Gefangenen. Frauen werden weiterhin diskriminiert durch das Gesetz und im Alltag. Die Regierung hat bis jetzt nichts unternommen, die Frauen gegen den hohen Grad an sexueller Gewalt und geschlechtsspezifischer Unterdrückung zu schützen. Lesbische, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle (LGBTI) wurden in Gefangenschaft invasiven Anal- und Geschlechtsbestimmungstests zwangsweise unterzogen. Dutzende Arbeiter und Gewerkschaftsmitglieder wurden willkürlich verhaftet und dafür verfolgt, ihr Recht auf Protest und Streiks wahrzunehmen. Die Behörden haben die Rechte der Christen auf freie Religionsausübung behindert, indem sie mindestens 25 Kirchen geschlossen haben und zahllosen anderen die Bau- oder Reparaturgenehmigung verweigerten. Flüchtlinge und Asylsuchende wurden willkürlich verhaftet und mit dem Vorwurf gefangen gehalten, Ägypten illegal betreten oder verlassen zu haben.“[1]
Bildung ist die Grundlage jeder Entwicklung. Der geschätzte Betrag für die Lösung des Problems der Überbelegung der Klassen ist 150 Milliarden Pfund. Was bedeutet dieser Betrag in Bezug auf die Staatsausgaben in anderen Bereichen?
Premierminister Madbouly hat angekündigt, dass staatliche Projekte mit einem Kostenaufwand von mehr als 4 Trillionen Pfund über sechs Jahren umgesetzt worden sind (Al-Borsa Zeitung, 11. Oktober 2020), was bedeutet, dass der erforderliche Betrag für die Entwicklung der Bildung nur 0,004% von diesen Ausgaben ausmacht. Das Problem ist also nicht Mangel an Ressourcen, sondern Missbrauch und Verschwendung von Ressourcen. Es liegt an der Wirtschafts- und Sozialpolitik zugunsten einer bestimmten Klasse.
Laut Zentralbank stieg die ägyptische Auslandsverschuldung in den letzten drei Monaten des Geschäftsjahres 2019/2020 um fast 12,2% und verzeichnete Ende Juni 123,49 Mrd. USD, verglichen mit 111,29 Mrd. USD im März zuvor, was einem Anstieg von 12,2 Mrd. USD entspricht.
Aufgrund der vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank Ägypten auferlegten Wirtschaftspolitik stieg die Armutsquote von 25,2% im Jahr 2010/2011 auf 26,3% im Jahr 2012/2013 und 27,8% im Jahr 2015, dann sprang auf 32,5% in 2017/2018, was bedeutet, dass 32,5 Millionen Ägypter gemäß der „nationalen Armutsgrenze“ (736 Pfund pro Monat und Person, ungefähr 38 Euro) arm sind. Die nationale Armutsgrenze beträgt etwa 60% der von der UN definierten Grenze (Poverty Line).[2]
Die extreme Armutsquote (Severe Poverty Line) ging ebenfalls von 4,8% im Jahr 2010/2011 auf 4,4% im Jahr 2012/2013 zurück, stieg dann auf 5,3% im Jahr 2015 und erreichte 2017/2018 6,2%, was bedeutet, dass 6,2 Millionen Ägypter – nach der nationalen Extrem-Armutsgrenze 491 EGP (ca. 25 €) pro Monat und Person – extrem arm und nicht in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen.[3]
Der Prozentsatz der Armen in der Welt, berechnet auf der Grundlage der extremen Armutsgrenze von 1,9 Dollar pro Person und Tag, ging laut Weltbank von 36% im Jahr 1990 auf 10% im Jahr 2015 zurück. Dagegen ist sie in Ägypten kontinuierlich gestiegen, so dass die in Ägypten gemeldete offizielle Armutsquote derzeit mehr als das Dreifache der globalen Armutsquote beträgt.[4]
Mehrmals forderte die Ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte (EIPR) die ägyptische Regierung auf, den exzessiven Einsatz der Todesstrafe einzuschränken und sich an den Vorschlag der ägyptischen Mission auf der 36. Tagung des Menschenrechtsrates zu halten, die Todesstrafe – wenn auch nur vorübergehend – bis zu einer erweiterten gesellschaftlichen Debatte über deren Abschaffung auszusetzen. Jedoch wird die Realität der Todesstrafe in Ägypten immer schlimmer. Die Zahl der Personen, deren Todesstrafe im Oktober 2020 vollstreckt wurde (53 Personen), übersteigt die Summe aller Hinrichtungen der letzten drei Jahre.[5]
In einer Eskalation gegen die EIPR ordnet die Staatsanwaltschaft die Inhaftierung des Verwaltungsleiters an. Herr Mohamed Bashseer wurde von einer Sicherheitstruppe am Sonntag, den 15. November 2020 nach Mitternacht aus seinem Haus verhaftet und mehr als 12 Stunden lang festgehalten. Die Inhaftierung von Mohamed Basheer ist ein neues Bindeglied in einer Reihe von gezielten Einschüchterungsmaßnahmen gegen Menschenrechtsaktivisten. Dies ist nicht getrennt vom autoritären und unterdrückenden Gesamtklima, das sich auf alle der verfassungsmäßig und international garantierten Rechte und Freiheiten auswirkt. Die Anschuldigungen beruhen auf allgemeinen, nebelhaften und dehnbaren Begriffen, die in ägyptischen Gesetzen verankert sind. [6]
Die Verfassung von 2014
Im Januar 2014 wurde die neue Verfassung mit großer Mehrheit (98,1%) der Wahlbeteiligten (38,6%) verabschiedet. Und obwohl ich an einigen Artikeln dieser Verfassung etwas auszusetzen habe (zu viel Raum für Klerus und Militärs), muss man Objektivitätshalber zugeben, dass dies die beste Verfassung war, die Ägypten je hatte. Diese hatte das Kräfteverhältnis von 2014 zwischen Revolution und Konterrevolution reflektiert. [7]
Dieses Kräfteverhältnis zugunsten der demokratischen Kräfte seinerzeit war leider nicht von Dauer. Unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl, die Sissi praktisch ohne wirkliche Konkurrenz gewonnen hat, fing die Militärführung die Demontage der Verfassung an. Nach einer revolutionären Flut, die mit dem Aufstand vom 25. Januar 2011 begann, erfordert der Aufbau einer Diktatur zunächst die völlige Ignorierung der Verfassung. Besonders die Artikel, die die Freiheiten garantieren, wurden missachtet.
Mehrmals hat Präsident Sissi diesen Zustand mit seinem berühmten Satz kommentiert: „Diese Verfassung wurde mit naiven Absichten von Gutwilligen geschrieben“. Zwei Jahre hat die „Konstruktion“ eines gezähmten Parlaments in den Räumen der Geheimdienste gedauert. Von 586 Abgeordneten haben nur 16 abgelehnt, der totalen Abschaffung der übriggebliebenen demokratischen Rechte zu applaudieren.[8]
Obwohl im digitalen Zeitalter Nichts mehr verborgen bleiben kann, ist ein „demokratisches“ Image für die Außenwelt erforderlich. Dafür wurden zweimal die ägyptischen Wahlberechtigten mit der Peitsche zu den Wahlurnen gejagt, alle Zahlen frisiert und alles „öffentlich-rechtlichen“ und privaten Medien für eine Show mobilisiert. Im März 2018 zur Sissi-Wiederwahl, und im April 2019 zum Referendum über die Verfassungsänderungen.
Bei der ersten Farce namens Wiederwahl zeigte sich die politische Entscheidung der Staatsführung, jedwede politische Debatte zu unterbinden, d. h. Wahlkampf zu führen ohne irgendeine Auseinandersetzung über irgendein Thema, Null-Diskussion in der ganzen Gesellschaft, obwohl viele Themen die Gesellschaft zum Zerreißen gespannt haben. Dies ist nur möglich, indem man einen wirklichen Wahlkampf verhindert. Und so wurde es auch gemacht.
Die fünf wackeren Kandidaten wurden unmittelbar nach ihrer Kandidatur-Erklärung – zwischen Verhaftung und Bedrohung – ausgeschaltet. Dann wurde ein maßgeschneiderter Kandidat aus dem Ärmel gezogen, der in seinem eignen Wahlkampf für Sissi geworben hatte. Bei einer Wahlbeteiligung von 41,16% hat Sissi mit 97,08% gewonnen und sich beim Volk bedankt.[9]
Die zweite Farce war das Referendum für die Verfassungsänderungen. Bei einer Beteiligung von 44,33% haben die Ägypter – angeblich – die wichtigsten Errungenschaften in ihrer Verfassung von vor fünf Jahren wieder rückgängig gemacht. Plötzlich darf der Staatspräsident nicht nur zwei Legislaturperioden im Amt bleiben, sondern bis 2030, der Präsident ernennt die Vorstände aller Gerichte und den General-Staatsanwalt, weitgehende Erweiterung der Befugnisse der Militärs in der Staatsführung, der Wirtschaft und der Militärjustiz, inklusiv völlig unbegründeter Immunität, … und vieles mehr. [10]
Dies geschah im folgenden Szenarium:
Sissi begann die Verfassung in seltsamen Aussagen zu kritisieren, die seinen früheren Aussagen, in denen er die Verfassung lobte, völlig widersprechen. 
Die damalige Jugend der Revolution und auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wurden plötzlich mit dem Terrorismusvorwurf verhaftet und in den Gefängnissen misshandelt. Diese Menschen haben absolut nichts mit Terrorismus zu tun, aber das Regime hat beschlossen, sie für ihren Mut zur Meinungsäußerung zu bestrafen. Das Regime hat zwei Ziele verfolgt: Erstens, einen Präventivschlag gegen sie zu richten, damit sie keine Einwände gegen Manipulationen an der Verfassung erheben, und zweitens, an ihnen ein Exempel für diejenigen zu statuieren, die es wagen, gegen Sissis Willen zur Änderung der Verfassung Einwände zu erheben.
Da die Geheimdienste die Medien vollständig kontrollieren, waren in den Fernsehkanälen nur Heuchler und Scharlatane zu sehen. Sie forderten direkt die Verfassungsänderung, andere flehten Präsident Sissi an, damit er für weitere Perioden im Amt bleibt, bis er seine Erfolge vollendet (!), während der Präsident selbst bekannt gab, dass die Verfassung kein heiliges Buch ist und es nur natürlich ist, dass sie vollständig ergänzt oder geändert wird.
Das ägyptische Parlament drückt nicht den Willen des Volkes aus, sondern den Willen der Geheimdienstoffiziere, die es zusammengesetzt haben. Daher wurden die Abgeordneten aufgefordert, eine Änderung der Verfassung zu fordern, damit Sissi für immer an der Macht bleibt.
Sissi gab mehrfach bekannt, dass er nicht länger als zwei Amtszeiten an der Macht bleiben wolle, aber er war wirklich überrascht von einem großen Willen der Bevölkerung, der ihn behalten will, und natürlich kann er nur dem Befehl des Volkes gehorchen.
Über dieses absurde Theater ziehen die Ägypter mit ihrer stärksten Waffe her, ihrem Humor. Leider hilft ihnen das auch nicht mehr in dieser Misere.
Die Wahlen 2020
Zum ersten Mal finden Wahlen nach einem neuen Wahlgesetz statt, das nach den Verfassungsänderungen von 2019 verabschiedet wurde. Das ägyptische Parlament besteht aus 568 Mitgliedern, von denen werden 284 direkt und 284 in geschlossenen Wahllisten gewählt. Das System der geschlossenen Wahllisten bedeutet; wenn 4-5 Listen in einem Wahlkreis konkurrieren, gewinnt die Liste mit der Mehrheit alle Sitze, ganz egal wie viele Stimmen die anderen Listen bekommen haben (The winner takes it all). Der Präsident der Republik hat das Recht, bis zu 5% der Parlamentsmitglieder zu ernennen.
Die Parlamentswahlen, die am 24. Oktober ihre erste Phase begannen und bis Mitte November 2020 andauerten, fallen mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie und der Stagnation der Volkswirtschaft zusammen. Bei diesem Anlass wird aber die Schatzkammer des von Sissi eingerichteten Fonds „Es lebe Ägypten“ wiederbelebt und mit etwa 10 Milliarden EGP (ca. EUR 560 Mio.) aufgepolstert. Das sind die „Spenden“, die den Kandidaten auferlegt wurden, die Unterstützung vom Staatsapparat erhalten, der ihren Sitz im Parlament garantiert und die daraus resultierende Immunität und die vielen anderen Privilegien gewährt.
Tatsächlich schien die Regierung am ersten Tag der Wahlen die Angestellten und Bediensteten im Verwaltungsapparat anzuweisen, ja zu zwingen, abzustimmen, um den Prozentsatz der Wähler zu erhöhen. Die „Nationale Sicherheitsagentur“ – ehemals Staatssicherheit (StaSi) – wies ihre Netzwerke von Großfamilien, Bürgermeistern und Dorfvorstehern an, Wähler zu mobilisieren.
Die extrem konservative linientreue Partei „Zukunft der Nation“ besaß den Löwenanteil der Sitze im Parlament. Sie übernahm die Führung in der Szene, um Kandidaten der Direktwahl und Listenkandidaten aufzunehmen, und zwar in allen Wahlkreisen der Republik. Sie forderte alle Kandidaten auf, die ihre Unterstützung in Anspruch nehmen wollten, Beiträge zwischen EGP 5 und 25 Millionen zu “spenden“, je nach Erfolgschancen. Im Konkurrenzkampf haben viele diesen Betrag weit überboten bzw. überbieten müssen.
Da das einzige Kriterium für die Aufnahme in den Kreis der Begünstigten die Höhe der Finanzbeiträge ist, gestaltete sich somit eine erdrückende Mehrheit an Abgeordneten aus den Reichen und Superreichen, auf Kosten der natürlichen Führungspersönlichkeiten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.
Unter den Kandidaten in der sogenannten „Patriotische Parteienallianz“ sind viele Korrupte und angeklagte Betrüger, die die parlamentarische Immunität als Deckung für die Fortsetzung ihrer illegalen Aktivitäten brauchen.
Das Politische Geld
In fast allen Wahlkreisen spielte das politische Geld bzw. der Kauf von Stimmen der Armen eine ausschlaggebende Rolle. Dies wurde durchorganisiert, verlief unter den Augen, ja mit Beteiligung, aller zuständigen Behörden. In der zweiten Phase der Parlamentswahlen erreichte der Preis für eine Stimme in einigen Distrikt in Kairo 500 Pfund (ca. EUR 26), Tendenz steigend gegen Ende der Abstimmung.
In diesen zweiten Parlamentswahlen seit dem Sturz des verstorbenen Präsidenten Morsi, gibt es laut Beobachtung der Presse und Parteien, sowie auf Videos in Sozialen Medien und auch aus unserer eigenen Beobachtung die Bestätigung, dass „politisches Geld“ diese Wahlen dominierte.
Die erste Form: Verteilung von Geldern an jeden Wähler, der für Kandidaten der „Patriotischen Liste“ stimmt, zu der 12 Parteien gehören, die von der regierungsnahen Partei „Zukunft des Nation“ geführt werden. Das sind Summen von 50 bis 200 Pfund (3,2 bis 8,8 USD) von Menschen, die sich als Vertreter eines Kandidaten bezeichnen.
Die zweite Form dieses politischen Geldes ging in die Verteilung von Kartons mit Lebensmitteln wie Reis, Zucker, Öl und Tee, auf denen “Die Partei Zukunft der Nation” steht. Dies wurde bei den Parlamentswahlen 2015 und den jüngsten Senatswahlen sowie bei den Präsidentschaftswahlen und Abstimmungen über Verfassungsänderungen wiederholt.
Die britische Zeitschrift „The Economist“ veröffentlichte am 22. Oktober einen Bericht unter dem Titel „Eine weitere Scheinwahl beleuchtet die Probleme Ägyptens“.
Sie erklärte, dass selbst nach ägyptischen Maßstäben, in denen schon immer Stimmen gekauft und Oppositionskandidaten inhaftiert wurden, dieser „Wettbewerb“ bei diesen Wahlen völlig undemokratisch erscheint. Das Regime hat die meisten seiner Kritiker aus dem Weg geräumt, Kandidaten konkurrieren nur noch darum, wer das Regime am meisten unterstützt, während wohlhabende Geschäftsleute Geld in staatlich unterstützte Parteien pumpen.
„The Economist“ fügte hinzu, dass “einige Plätze auf den Wahllisten für Millionen ägyptischer Pfund (Zehntausende von Dollars) verkauft wurden, so dass sogar eine der pro-staatlichen Zeitungen dieses Zahlungsgebahren in einer Karikatur verspottete, in der ein Abgeordneter dargestellt ist, der seinen eigenen Stuhl zum Parlament trägt, weil die Sitze in diesem ihm zu teuer sind.”
Die Partei „Zukunft der Nation“ wird bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus am ehesten die Führung übernehmen. Im August d. J. gewann diese Partei fast drei Viertel der gewählten Sitze im Senat, einer zweiten Kammer, die in der Verfassungsänderung geschaffen wurde und aus 300 Sitzen besteht, von denen 200 nach Wahl und 100 nach Ernennung besetzt werden.
Von der bekannten politischen Rivalität, die damals bei den Wahlen zum „Revolutionsparlament“ (2011) stattfand, ist bei den Wahlen im Jahr 2020 nichts zu sehen, und es gibt keine scharfen Manifestationen, keinerlei Wettbewerb mehr, nachdem die tatsächlichen Parteien verboten bzw. stark eingeschränkt, ihre Mitglieder verhaftet und eine „Regime-Partei“ gegründet wurde.
Wenn die Kandidatur nur für die Reichsten, die Abstimmung nur durch die von Spenden bzw. Bestechungsgeld bezahlten Ärmsten sind, und die Mittelklasse fehlt bzw. immer mehr abgebaut wird, entsteht ein Parlament, mit seinen beiden Kammern, als Ausdruck des Ungleichgewichts der Regierungspolitik, das die Vertiefung und Ausweitung der Kluft zwischen Reich und Arm drastisch vergrößert. Der einzige Grund für Reichtum ist die Nähe zur politischen Macht und für die Armut, Marginalisierung und Ausgrenzung.
Die neuen Machthaber haben durch die Korrumpierung eines ursprünglich von der neuen Verfassung vorgesehenen, gerechteren Rechtssystems eine ausweglose Situation geschaffen, sozial, politisch, wirtschaftlich und rechtlich. Ägypten steht am Abgrund.
Warum unterstützt der Westen das Sissi-Regime?
Das ägyptische Regime verfolgt eine Wirtschaftsstrategie, die unweigerlich zu einer Kollision dringend notwendiger inländischer Demokratisierungsforderungen mit internationalen Interessen führt.
Das bedeutet; das Sissi-Regime verfolgt eine unerschütterliche Politik, die eine im globalen Finanzsystem verwurzelte Position einnimmt, um seine Stabilität mit den wirtschaftlichen Interessen internationaler Organisationen, westlicher Länder und Großkonzerne zu verbinden.
Obwohl sich das Regime international als Bollwerk gegen Terrorismus und illegale Einwanderungsströme vermarktet, verschleiert diese Deutung häufig seine Wirtschaftsstrategie. Es handelt sich um eine Politik, die auf einer starken Kreditaufnahme beruht, die internationale Parteien in die vom Regime praktizierte Unterdrückung einbezieht und zu Vertiefung der Arm-Reich-Polarisierung und folglich zu Destabilisierung und gewalttätigem Extremismus führt.
Durch die starke Unterstützung des globalen Finanzsystems findet das Regime in Ägypten auf vielfältige Weise Schutz, befindet sich jedoch auch in einer extremen Abhängigkeit (evtl., die damit verbundenen unterschwelligen Forderungen zu erfüllen):
Erstens: zunehmende Abhängigkeit von externen Krediten zur Finanzierung von Regierungsoperationen und großen Infrastrukturprojekten. Dies beinhaltet die Zunahme von lang- und kurzfristigen Staatsanleihen und „Hot Money“.
Zweitens: enorme Zunahme der Waffengeschäfte seit 2014, die das Regime zwischen 2015 und 2019 zum drittgrößten Waffenimporteur weltweit gemacht hat.
Schließlich: haben die hohen ausländischen Direktinvestitionen im ägyptischen Öl- und Gassektor langfristige westliche Investitionen mit der Stabilität des Regimes verbunden.
Diese Faktoren tragen direkt Mitschuld an den Repressionen in Ägypten gegenüber der Bevölkerung und stellen Hindernisse für die Demokratisierung dar. Letztendlich verschärft diese Wirtschaftsstrategie die langfristigen Herausforderungen mit tiefgreifend destabilisierenden Auswirkungen. Wenn internationale Kapitalströme zur Finanzierung der militärischen Kontrolle über die ägyptische Wirtschaft verwendet werden, können die Sicherheitsapparate den Staat stärker in den Griff bekommen, was in der politischen Terminologie Diktatur heißt.
Ägypten ist stark auf Schulden angewiesen, um Formen der finanziellen Abhängigkeit zwischen dem Regime und den internationalen Parteien zu erzeugen. Das Regime hat riesige Summen geliehen. Dieser starke Anstieg der Verschuldung ging mit einem beschleunigten Anstieg der Auslandsbestände an kurzfristigen ägyptischen Staatsanleihen einher, der von 60 Mio. USD Mitte 2016 auf 20 Mrd. USD im Oktober 2019 anstieg. Das Regime konnte dieses kurzfristige Kapital durch Zinsangebote anziehen, die weltweit die höchsten der Finanzmärkte anderer Schwellenländer sind. Die Rendite dieser durch internationale Kreditaufnahmen des ägyptischen Staates finanzierten Fonds erreichte im Juli 2020 etwa 13%. Damit verdient Ägypten den Titel „Liebling der Schwellenländer-Märkte“, was sich in der Nachfrage der Anleger nach einer 5-Milliarden-Dollar-Eurobond-Ausgabe widerspiegelte. Dies gilt als die größte Staatsausgabe in der ägyptischen Geschichte.
Eine starke Kreditaufnahme hat schwerwiegende Folgen für Ägypten und die internationale Gemeinschaft:
Einerseits besteht im globalen Finanzsystem, die dringende Notwendigkeit des Überlebens des ägyptischen Systems, da hiervon die Rückzahlung seiner hohen internationalen Schulden abhängt. (Die Ägypter haben dafür im Volksmund ein Sprichwort: „Der Bankrott hat den Sultan besiegt“, was diese Beziehung widerspiegelt.) Daher ist das Regime gewissermaßen immun gegen den internationalen Druck, seine Repression zu reduzieren, denn Turbulenzen in Ägypten würden sich direkt auf die Staatseinnahmen auswirken, was die Wahrscheinlichkeit seines Zahlungsausfalls erhöhen würde.
Anders gesagt, die internationalen Gläubiger tragen dadurch indirekt die Verantwortung, was die Verwendung öffentlicher Mittel zur Bereicherung der Militärelite durch Mega-Infrastrukturprojekte betrifft. Diese Projekte werden sowohl direkt als auch indirekt von internationalen Finanzakteuren finanziert (einschließlich regionaler Verbündeter wie die Golfstaaten und internationaler Organisationen wie das IWF).
Ägypten ist wirtschaftlich gebeutelt, von keinem Land militärisch bedroht und verfügt über eine der größten Armeen der Welt. Aus militärisch-strategischen Gründen gibt es also überhaupt keinen Bedarf für weiteren Aufbau der militärischen Schlagkraft. Trotzdem führt das Regime eine Politik in die entgegengesetzte Richtung. Die Ausgaben des Regimes für riesige Waffenkäufe ab 2014 spielen eine Schlüsselrolle bei der Festigung seines internationalen Sicherheitsnetzes. Das Volumen der Waffenimporte hat sich zwischen 2014 und 2018 im Vergleich zum Zeitraum 2009-2013 verdreifacht, was einer Steigerung von 206% entspricht. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Welle der Rüstungskäufe abgeklungen ist, da das Regime im Juni 2020 Gespräche mit Italien geführt hat, um einen größeren Waffenkaufvertrag im Wert von 9,8 Milliarden US-Dollar abzuschließen. Die westliche Rüstungsindustrie ist die Hauptquelle für Waffen, die Ägypten erhält. Ganz oben auf der Liste stehen Frankreich, Deutschland, Russland und die USA. Allein Frankreich hat zwischen 2015 und 2019 35% des Waffenbedarfs des Regimes gedeckt.
Die Waffengeschäfte umfassen nicht nur konventionelle Waffen, sondern auch den Kauf von Überwachungsausrüstung und Geräten zur Kontrolle der Menschenmenge, die zur direkten Unterdrückung von Protesten eingesetzt werden (Deutschland). Es ist schwierig, die Finanzierungsquellen dieser Geschäfte zu überprüfen, da sie nicht in den offiziellen Zahlen des Verteidigungshaushalts enthalten sind. Es gibt jedoch Hinweise auf die Verwendung externer Kredite, teilweise zu diesem Zweck.
Im Jahr 2015 wurde beispielsweise ein Waffengeschäft im Wert von 5,2 Milliarden EUR, zu dem 24 Rafale-Kampfflugzeuge gehörten, teilweise durch einen Kredit der französischen Regierung in Höhe von 3,2 Milliarden EUR finanziert. Dies bedeutet, dass die französischen Steuerzahler dem ägyptischen Regime 3,2 Milliarden EUR geliehen haben, den die armen Ägypter inkl. Zinsen begleichen werden, d. h. dass ägyptische öffentliche Mittel zur Finanzierung der Gewinne der französischen Rüstungsindustrie ausgegeben wurden.
Die Waffengeschäfte haben das Regime zu einem der Hauptkunden westlicher Waffenhersteller gemacht, was effektiv das Überleben bzw. den Schutz des Regimes mit den Interessen der westlichen Rüstungsindustrie verbindet.
Zusammenfassend ist hier also noch einmal zu sagen, die Umwandlung des Regimes in einen großen Waffenimporteur hat zwei Hauptfolgen für die Unterdrückung des ägyptischen Volkes durch sein Regime und die Nutzlosigkeit internationaler humanitärer Bemühungen um Demokratisierung in Ägypten:
Erstens: die Verstrickung und Verantwortlichkeit westlicher Länder und ihrer Rüstungsindustrie, als der Hauptlieferant von Überwachung und Massenkontrolle, bei der Unterdrückung von Protesten der Bevölkerung.
Zweitens: das Potenzial der westlichen Länder, Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen und anzugehen, wird damit automatisch unterbunden.
Hierfür gibt es neben unzähligen anderen ein sehr trauriges und erhellendes Beispiel: Italien lieferte weiterhin Waffen an das ägyptische Regime, auch nachdem im Dezember 2018 der Verdacht auf die Beteiligung von fünf Mitgliedern der ägyptischen Sicherheitsorgane gestiegen war, an der Folter und dem Tod des italienischen Studenten Giulio Regeni im Jahre 2016[1]. Dieser begründete Verdacht wurde mittels einer offiziellen Forderung der italienischen Staatsanwaltschaft untermauert. Trotzdem verdreifachten sich die italienischen Waffenverkäufe an Ägypten innerhalb des Jahres 2019. Und die geplanten Waffengeschäfte zwischen Italien und Ägypten für das Jahr 2020 belaufen sich auf 11 Milliarden EUR.
Dieser kontinuierliche Waffenfluss aus Italien veranlasste Human Rights Watch, ein Ende der italienischen Waffenverkäufe nach Ägypten zu fordern, und führte Bedenken an, dass diese Waffen zur Erleichterung autoritären Verhaltens beitragen. Westliche Länder, einschließlich Italien, ermöglichen es dem ägyptischen Regime, schwere Repressionen auf eine Weise zu praktizieren, die nur die politische Polarisierung verstärkt, die Aussichten auf Demokratisierung verringert und den ganzen Staat in den Griff der Sicherheitsorgane konzentriert.
Weitere Faktoren für die Duldung undemokratischer Verhältnisse in Ägypten seitens der internationalen Politik sind die zunehmenden ausländischen Direktinvestitionen im ägyptischen Öl- und Gassektor. Das ägyptische Regime ist derzeit das erste Ziel für ausländische Direktinvestitionen in Afrika. Der Wert dieser Investitionen erreichte 2019 9 Milliarden Dollar. Die meisten Investitionen entfallen auf den Öl- und Gassektor, der nach der Entdeckung des Zohr-Gasfeldes im Jahr 2015, dem größten Feld in Ägypten und im Mittelmeerraum[2], einen großen Schub erhielt.
Das Zohr-Feld gehört gemeinsam dem italienischen Staatsunternehmen „Eni“, BP (GB) und Russneft (Russia). Der Anteil der Firma “Eni” beträgt 50%. Die Gesamtinvestitionen von Eni in diesem Sektor zwischen 2015 und 2018 beliefen sich auf 13 Milliarden Dollar. Diese stetig ansteigenden Auslandsinvestitionen im Öl- und Gassektor spiegeln eine bewusste Politik des Regimes. Am 31. August verkündete Präsident Sissi seine Unterstützung für die Ausweitung der Investitionen von Eni. Angesichts dieser Investitionen haben internationale Energiekonzerne ein größeres Interesse am Überleben des ägyptischen Regimes, daher sind Investitionen in Milliardenhöhe mit der Kontinuität des Regimes verbunden.
Das Regime wird infolge dieser kalkulierten Politik zum Hauptnutznießer des Transfers von Reichtum an die Militärelite. Die Mittel- und Unterschicht, die Normalbürger dieses Staates also, bleiben auf der Strecke und profitieren nicht von den enormen Finanzströmen. Die Militärelite akkumuliert Gewinne durch Kreditzinsen, Waffengeschäfte, Korruption an den – meist verschwenderischen und unnötigen – Mega-Infrastrukturprojekten sowie Öl- und Gaseinnahmen, während die Staatsschulden vom ägyptischen Steuerzahler finanziert werden.
Man sieht also klar, dass internationale humanitäre Forderungen nach Demokratisierung mit internationalen Finanz-Interessen kollidieren, die wiederum durch ihre reichliche Unterstützung das Überleben des ägyptischen Unrechtsregimes sichern.
Letzte Bemerkung
Heute, 28. November 2020 erreichten mich fast gleichzeitig zwei Meldungen:
DER SPIEGEL online: Bundesverdienstkreuz für fragwürdige Verdienste: Ägyptens Ex-Botschafter hat Deutschlands höchste Auszeichnung bekommen. Doch er vertrat nicht nur ein repressives Regime, für ihn arbeitete offenbar auch ein Spion im Bundespresseamt…
Der Rat der Rechtsanwaltskammern Europas (CCBE) vergibt seinen Menschenrechtspreis 2020 an sieben ägyptische Anwälte, die derzeit auf unbestimmte Zeit und ohne rechtsgültiges Verfahren im Gefängnis sind ….
Bezeichnend ist hier die tiefe Kluft zwischen dem offiziellen Europa und dem menschlichen Europa.
Jeder weitere Kommentar an dieser Stelle erübrigt sich.
Noten
[9] Neue Züricher Zeitung INTERVIEW, Daniel Steinvorth, Kairo 27.3.2018