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Feuerzangenbowle revisited

Felix Aeppli 24. August 2020
Die Komödie, in welcher der erfolgreiche Schriftsteller Dr. Johannes Pfeiffer aufgrund einer Wette als Erwachsener an einem öffentlichen Gymnasium die Schulzeit nachholt, die er als ehemaliger Privatschüler verpasst hat, gehörte in meiner eigenen frühen Mittelschulzeit zu meinen Lieblingsfilmen.

Es begeisterten mich damals sowohl die schelmische Aufmachung des Hauptdarstellers Heinz Rühmann mit Primanermütze, Nickelbrille und Bücherbündel als auch die Schlagfertigkeit, mit der der Schüler Pfeiffer seine Lehrkräfte regelmässig auf dem Standbein erwischte, beispielsweise dann, wenn er auf die Frage, ob er seinen Namen mit einem oder mit zwei “f” schreibe, zum Gaudi seiner Klassenkameraden antwortete: “Mit dreien, Herr Professor!”.
Erst Jahre später nahm ich das Entstehungsdatum des Films bewusst wahr. Die Feuerzangenbowle war 1943/44 unter der Regie von Helmut Weiss gedreht worden, ein Sachverhalt, der mich ‑ ich hatte inzwischen mein Geschichtsstudium begonnen ‑ gewaltig irritierte. Was hatte diese leichtfüssige, unverbindliche Story mit Nazideutschland im vierten Kriegsjahr zu tun? Wie gingen das Schelmenstück und die Kriegsverbrechen zusammen?
Erwin Leisers filmische Dokumentation Mein Kampf (1959) und die dazu gehörende Buchpublikation Deutschland, erwache! (1968) hatten mir die Augen geöffnet für den propagandistischen Einsatz des Mediums Film, hatten mich mit Filmmaterial bekannt gemacht, dessen Existenz ich nicht für möglich gehalten hatte: als Dokumentarberichte getarnte anti-jüdische Hetzfilme über das Warschauer Ghetto oder über einen Markt in Ostpolen, geschnitten und kommentiert in einer derartigen Niedertracht, dass selbst die Nazis eine öffentliche Vorführung ihres Propagandamaterials nicht mehr wagten aus Angst, das Publikum könnte sich mit den Opfern ‑ stehlenden Kindern, ausgemergelten Kranken, bettelnden Alten ‑ solidarisieren, statt sie, die Todgeweihten, zu verurteilen.
Das ganze Ausmass des nationalsozialistischen Terrors in den besetzten Gebieten ist erst in den letzten fünfzehn Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, sichtbar geworden. Im Baltikum, in Weissrussland und in der Ukraine konnten sich nun die wenigen Überlebenden, die unter der Sowjetherrschaft zum Schweigen verurteilt waren, erstmals öffentlich äussern.
Einige von ihnen kamen in Walo Deubers Spuren verschwinden (1998) zu Wort, einem Film, bei dem einem noch heute der Atem stockt, wenn aus dem Tagebuch des Gestapo-Einsatzleiters zitiert wird. ‑ Entgegen dem postmodernen Credo ist die Geschichte keineswegs tot, sie ist nicht einmal vergangen. Zu Recht erinnerten denn auch die hiesigen Medien im Vorjahr an den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 und in diesem Sommer an jenen der polnischen Untergrundarmee, dessen brutale Niederschlagung sich Anfang Oktober 2004 zum sechzigsten Male jährte.
Nur wenig später programmierte die ARD zu meiner Überraschung Die Feuerzangenbowle als Hauptfilm an einem Samstagabend. Um die Erinnerungen an meinen ehemaligen Lieblingsfilm aufzufrischen und nebenbei den ‑ angeblichen oder tatsächlichen ‑ Mittelschul-Koller meiner Tochter etwas zu verscheuchen, setzte ich mich mit meiner Familie vor den Fernseher. Doch der heitere TV-Abend fand nicht statt.
Zunächst verzögerte eine langfädige Rahmenhandlung mit einer spiessigen Altherrenrunde den ersten Auftritt Pfeiffers. Sodann fielen die coolen Sprüche Pfeiffers/Rühmanns, auf die ich mich so gefreut hatte, bestenfalls im 12-Minuten-Rhythmus. Dazu kam eine reichlich spannungsarme Doppelgänger-Nebengeschichte rund um die Gefühle der blonden Tochter des Schuldirektors.
Zentral aber war ein anderes Problem: Je länger der Film dauerte, desto weniger vermochte ich den Abiturientenscherzen zu folgen. Statt dessen begannen sich die Bilder des brennenden Warschauer Ghettos vor mein Gesichtsfeld zu schieben, ich sah das Elend und die Verzweiflung in den Gesichtern der Menschen, sah die Trümmer der polnischen Hauptstadt, die auf Befehl Hitlers dem Erdboden gleich gemacht worden war, und ich sah sodann die beiden Frauen und den alten Mann aus Spuren verschwinden, die im Wald von Drohobycz, etwas ausserhalb von Lemberg, unheimlich gefasst von den Massakern und den Massenerschiessungen der jüdischen Bevölkerung in der Westukraine berichteten.
Und ich sah schliesslich vor meinen Augen Sequenzen des perversen Machwerks Der Führer schenkt den Juden eine Stadt ablaufen, zu dessen Ausführung man im Konzentrationslager Theresienstadt den Schauspieler Kurt Gerron zwang, während im Studio Babelsberg Die Feuerzangenbowle gedreht wurde. Angesichts all dieser Bilder war es mir unmöglich, die TV-Ausstrahlung bis zum Ende zu verfolgen. Wortlos verzog ich mich in die Küche und begann, geistesabwesend in den Wochenend-Beilagen der Zeitungen zu blättern.