Chile: Kampf um die Erinnerung – Der Sturz von Statuen im Kontext der sozialen Proteste
Javier Arrollo Olea 19. Juli 2020 |
Das Niederreißen von Statuen hat eine wichtige symbolische Bedeutung: Das “Es reicht!” materialisiert sich in einer Aktion
Neun Monate nach Beginn der sozialen Revolte in Chile ist es wichtig, die Analyse der Mittel und Wege zu vertiefen, mit denen die Bevölkerung ihre Empörung zum Ausdruck bringt. Dabei erlangt die Tatsache, dass die Demonstranten sich dafür entschieden, Statuen im öffentlichen Raum niederzureißen, eine große Relevanz, unter anderem wegen der Bedeutung die ihr beigemessen wurde: Die Repräsentationen des Modells niederzureißen, um sich die Räume wieder anzueignen.
Es war nicht nur in Chile so. Aufgrund tiefgreifender Krisenprozesse hat die Welle des sozialen Protests verschiedene Gebiete und Kontinente erfasst (und erfasst sie weiterhin). Die Verschärfung der sozialen Konflikte hat sich als ein Kontinuum etabliert, das nicht einmal die von Sars-CoV-2 hervorgerufene Pandemie aufhalten konnte.
In diesem Zusammenhang gibt es bei den Demonstrationen verschiedene Mittel und Wege, die die Bewegungen – und Einzelpersonen – nutzen, um ihre Unzufriedenheit, Empörung, ihre Forderungen und ihren Zorn zum Ausdruck zu bringen. Das Niederreißen von Statuen (oder auch ihre Bearbeitung mit Parolen-Malereien u.ä.) war indes eine Methode, die in den letzten Monaten in verschiedensten Ländern verbreitet war.
Die USA, Großbritannien, Italien und Chile sind nur Beispiel dafür: Eine Protestform, die erneut den Akzent auf kulturelle Aspekte und die Frage nach gesellschaftlicher Repräsentation gelegt hat.
Angesichts dessen ist es neun Monate nach Beginn der sozialen Revolte in Chile wichtig, dieses Phänomen zur Kenntnis zu nehmen. Nicht nur aus einem bestimmten Blickwinkel auf den politischen Moment, sondern auch ausgehend von der Erinnerung und davon, was es bedeutet, “einzugreifen” oder ein Bild umzustürzen, das die offizielle Geschichtschreibung häufig in hochtrabender Weise präsentiert.
Lateinamerika teilt unter anderem ein Konfliktszenario. Die ständigen Auseinandersetzungen, die auf lokaler und internationaler Ebene stattfinden, betreffen jedoch nicht nur Elemente der Gegenwart, sondern haben auch historische Wurzeln, die es uns erlauben, die Prozesse perspektivisch zu analysieren.
Für Javier González, Historiker und Mitglied der Forschungsgruppe Kollektive Erinnerungen von Biobio, “haben wir eine gemeinsame Vergangenheit, auch seit wir kolonisiert wurden”. In diesem Sinne stehen die historischen Wurzeln des Unanhängigkeitsprozesses mit Aspekten in Verbindung, die für das Verständnis der Konflikte transzendent sind, wenn man berücksichtigt, dass “auf lateinamerikanischer Ebene nicht die popularen Klassen unabhängig, sondern diejenigen ausgewechselt wurden, die sie beherrschten”.
Das heißt, man teilt ausgehend von den Konflikten eine Geschichte, die es in gewisser Weise ermöglicht hat, einen Dialog zwischen den Ländern Lateinamerikas über ihre Erfahrungen zu führen. Genau aus dem Grund spielt das historische Gedächtnis aus der Perspektive des sozialen Protests eine grundlegende Rolle bei der Interpretationen der gegenwärtigen Prozesse.
In diesem Sinne haben Protestmethoden in Lateinamerika, wie González vorbringt, gemeinsame Aspekte. Das Repertoire der Mobilisierungsstrategien ist an sich eine ständige historische Rückkopplung: Lernen von den Völkern, ihrem Einsatz und ihren Widerstandsformen.
So finden Demonstrationen in einem Szenario langjähriger geteilter Ungleichheit statt. Dabei ist die Einführung des neoliberalen Modells auf lateinamerikanischer Ebene von grundlegender Bedeutung für die sozialen Konflikte, die aktuell ausgetragen werden.
Eine korrumpierte politische Klasse hat zusammen mit der Entwicklung schwerer wirtschaftlicher und sozialer Krisen den Prozess begünstigt, in dem “die popularen Klassen sich erheben”. Auf diesem Wege haben Bewegungen – unterschiedlich in ihrer Entstehungsgeschichte und ihren Forderungen – Mittel und Formen entwickelt, ihre Unzufriedenheit auszudrücken und Druck auszuüben.
González erläutert, dass die Nutzung der Straßen historisch eine Protestform darstellt. Das Eingreifen in den öffentlichen Raum, in den Alltag, ist seit langem ein Prozess, den soziale Bewegungen entschieden genutzt haben.
In dieser Hinsicht steht der soziale Protest im Dialog mit der Ausübung popularer politischer Gewalt als Form der Selbstverteidigung, aber auch als Praxis der Geltendmachung von Forderungen.
Das Eingreifen in den öffentlichen Raum durch die Bewegungen hat zu einer Ausweitung der Protestmethoden geführt: Massendemonstrationen, das Beschriften und Besprühen öffentlicher und privater Gebäude, die Besetzung von Institutionen und der Sturz von Statuen haben sich als Teil des breiten Spektrums von Ausdrucksformen verankert.
Im Sinne und in Verbindung mit den historischen Wurzeln Lateinamerikas seit der Zeit der europäischen Invasion hat der Staat in den öffentlichen Raum interveniert und ihn genutzt. Die Errichtung von Denkmälern zu Ereignissen und “Helden” der offiziellen Geschichte sind ein Paradebeispiel dafür, denn sie materialisierten einen Diskurs, der nicht einvernehmlich, sondern von Beginn an aufgezwungen war.
Protest und Erinnerung: Die Tragweite des Stürzens von Statuen
Vor diesem Hintergrund lässt sich besser verstehen, wie die Intervention im öffentlichen Raum – auf lateinamerikanischer Ebene und aus der Bewegung heraus – zu einem Feld der Auseinandersetzung in den Prozessen der sozialen Mobilisierung wurde.
Was das Stürzen von Statuen angeht, reicht die Praxis Jahrzehnte zurück. Ein bekanntes Beispiel ist das Foto von 1992 aus San Cristóbal de las Casas (Mexiko) – zwei Jahre vor dem zapatistischen Aufstand –, auf dem ein Demonstrant die Statue von Diego de Mazariegos, dem Gründer der Stadt, niederreißt.
Das Niederreißen dieser Statue hat eine wichtige symbolische Bedeutung im Sinne des Protests: Das “Es reicht!” materialisiert sich in einer Aktion. Die Bewegungen greifen in dieses Aufzwingen von Figuren und “Helden” des Heimatlandes ein, um ihre eigene Formen zu schaffen und ihre Geschichte geltend zu machen.
Hier spielt der Kampf um die Erinnerung eine fundamentale Rolle. Der soziale Protest steht bezüglich der Forderungen und Ausdrucksformen im ständigen Dialog mit der Erinnerung der Völker.
So wurden sowohl öffentliche als auch private Räume umkämpft und auch der Angriff auf diejenigen in Betracht gezogen, “die uns jahrzehntelang Schaden zugefügt haben, und ebenso auf die, die dafür stehen”.
Mit anderen Worten, der soziale Protest ist darauf aus, gegen die Symbole und die Repräsentation dessen vorzugehen, was die Unruhe und Empörung erzeugt. Und hier erhalten die Statuen – in ihrer Mehrzahl – Bedeutung als eine Struktur, die zum Einsturz gebracht werden muss, da sie aufgezwungen wurde und das System repräsentiert, das die Bewegungen abschaffen wollen.
In diesem Zusammenhang kommentiert Valeria Torreblance López, Soziologin und Forschungsleiterin des Observatoriums für Polizeipraktiken und -institutionen, dass es “eine deutliche Distanz zwischen den Figuren, die die chilenische Geschichte geprägt haben, und der Bevölkerung gibt“.
So wollen die neuen Generationen, die sich mobilisiert haben, Identifikationsrollen entwickeln, die es ihnen ermöglichen, “ihre eigene Geschichte aufzubauen”.
Im Fall der sozialen Revolte wurde dies eindringlich belegt. Der Sturz von Statuen wie der von Pedro de Valdivia in Concepción während des Marsches zum Gedenken an die Ermordung von Camilo Catrillanca1 bedeutete die Intervention im öffentlichen Raum mittels der Empörung: Ein “Es reicht!” gegenüber der Figur eines genozidalen Militärs, die sich im Zentrum der Stadt befand, und gegenüber all dem, was sie repräsentiert.
So werden nicht nur Referenzen gestürzt, sondern auch andere installiert. Torreblanca betont, dass aus diesem Prozess auch der Bewegung eigene Figuren hervorgehen.
So ist es zum Beispiel im Fall des “Negro Matapacos”2 als Bild der sozialen Revolte, das von den Demonstranten aufgebracht wurde.
González sagt auch, dass man die Aktion des Stürzens von Statuen auch als ein “Beenden dieser historischen Auslassung und als Erzählen der anderen Seite der Geschichte von der Straße aus” begreifen könnte. Das heißt, den Kampf um die Erinnerung auf allen Ebenen zu führen und in Abbildungen einzugreifen, “die von den politischen Klassen, die uns zu verschiedenen Zeiten regiert haben, auferlegt wurden, aber nicht von der Bürgerschaft ausgingen”.
Andererseits stellt Valeria Torreblanca fest, dass dieses Phänomen auch die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls innerhalb der Bevölkerung ermöglicht. Die “Wiederaneignung der Geschichte” und die Bestätigung der Erfahrung mit anderen hat ihren Platz in diesem Prozess, der es sogar schafft, “mit dem Privileg, dem Status quo und der ganzen elitären Lehre zu brechen”, die seit Jahrzehnten reproduziert wird.
Und dann? Die (Wieder-)Aneignung der Räume
Die sozialen Bewegungen haben ihre Organisationstechniken und Demonstrationspraktiken weiterentwickelt und diversifiziert. Es gibt jedoch Methoden, die, wie bereits angedeutet, starke historische Wurzeln haben.
Dies ist der Fall beim Sturz von Statuen. Eine Form der (Wieder-)Aneignung des Raums, in den der Staat eingegriffen und Modelle aufgezwungen und reproduziert hat, die für einen großen Teil der Gesellschaft nicht von Bedeutung sind.
Im Gegenteil, viele von ihnen halten Bilder hoch, die mit der Missachtung der Völker in verschiedenen Formen und Dimensionen verbunden sind. Angesichts dessen ergibt es Sinn, dass sie im kritischen Kontext des sozialen Protests von denen gestürzt werden, die versuchen, neue politische Projekte aufzubauen und zu verankern.
Für Valeria liegt die größte Herausforderung in dieser Situation in der Wiedergewinnung der Räume. Sie “als unsere eigenen Räume, als gemeinsame Räume neu zu gestalten”, in denen sich die Gesellschaft ausdrücken kann. Somit spielt das kollektive Gedächtnis eine fundamentale Rolle. “Nicht zu vergessen, was in der Revolte geschah”, steht auch in direktem Zusammenhang mit einer langjährigen Praxis der historischen Erinnerung.
Torreblanca schlägt daher vor, dass öffentliche Räume “als etwas gesehen werden sollten, das uns gehört, als eine Erweiterung unseres Körpers und unserer Forderungen”. Daher ist deren Aneignung in Momenten hoher Konfliktintensität von entscheidender Bedeutung.
Javier González stellt seinerseits fest, dass die Herausforderung darin besteht, “die Aneignung des öffentlichen Raums anzusteuern”. Hierbei seien die Bestätigung von popularen Persönlichkeiten und die Konsolidierung der territorialen Organisation entscheidende Prozesse.
Vor diesem Hintergrund macht Sinn, was der italienischen Historikers Enzo Traverso sagt, dass der Sturz von Statuen “unseren gegenwärtigen Kämpfen eine historische Dimension gibt”.
Es ist der ständige Kampf um die Erinnerung, der ‒ unter anderem ‒ darauf abzielt, das System, das unterdrückt, und folglich auch seine Symbole zu stürzen, und sich den Raum für das, was er erschaffen wird, aneignet und umgestaltet.