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Überlegungen zur Krise – Beobachtungen zu eineinhalb Monaten Corona-Pandemie Gesellschaft

Von Amelie Lanier, Untergrundblättle,
1. Mai 2020. Nach eineinhalb Monaten ist es angebracht, Bilanz zu ziehen, was
man dabei über die EU im allgemeinen und unser Gesellschaftssystem überhaupt
lernen kann. Dazu kommen noch andere Erfahrungen, die in den letzten Wochen und
Monaten weltweit gemacht wurden.
Gefordert ist inzwischen eine uneingeschränkte Mobilität, die
alle Gesellschaftsklassen umfasst, von Erntehelfern, die notfalls auch
eingeflogen werden, über medizinisches Personal und Pflegekräfte, die täglich
oder wöchentlich bedeutende Wegstrecken auf sich nehmen, bis hin zum gehobenen
Management, das dauernd rund um den Globus von Betriebsbesichtigungen zu
Konferenzen jettet, um in der Konkurrenz bestehen zu können.

1. Mobilität
Zur beruflichen Mobilität kommt die Freizeit-Mobilität.
Ständig mit Verlusten kämpfende Fluggesellschaften unterbieten sich gegenseitig,
um ja möglichst viele Urlauber auf sich zu ziehen, die ans Meer, auf Inseln,
möglichst weit weg von zu Hause, an besonders exotische Flecken oder in gerade
aktuell gehypte Ferienparadiese fliegen wollen. Irgendwo an den nächsten
Schotterteich oder eine geruhsame Sommerfrische im nächstgelegenen
Erholungsgebiet – das war einmal, ist etwas für notorische Loser oder
Mindestrentner.
Diese ganze Mobilität hat hohe gesellschaftliche Kosten, was
Energie, Lärm und Umweltverschmutzung angeht. Aber sie stellt inzwischen
wichtige Sektoren der Wirtschaft: Flughäfen, Häfen, Kreuzfahrschiffe,
Fluglinien, Transportunternehmen, Reisebüros, und die Industrie, die diese
Flugzeuge, Schiffe und Nutzfahrzeuge herstellt.
Es wird sich herausstellen, wie weit und wie lange sich dieses
Herumschieben von Arbeitskräften in CV- und Nach-CV-Zeiten fortsetzen läßt.
Erntehelfer einzufliegen kommt auf die Dauer teuer, und läßt vielleicht wieder
manche Lebensmittel vom Speiszettel der Normalsterblichen verschwinden. Die
Lockdowns haben gezeigt, wieviel Reisetätigkeit sich durch Videokonferenzen und
Chats vermeiden und die Betriebsführung dadurch verbilligen läßt. Und der
Urlaub und die Zweitwohnsitze am Meer – die Zeit wird weisen, wer sich
dergleichen Luxusbedürfnisse überhaupt noch leisten kann.
Alle Sektoren der Mobilitäts-Industrie sehen einer Schrumpfung
entgegen, vor allem der Flugverkehr. Damit geht Zahlungsfähigkeit verloren, und
die wird sich wiederum in geringerem Berufs- und Urlaubsverkehr niederschlagen,
usw. usf.

2. Auslagerung von Produktion
Die Chinesen von Prato, die verlorengegangene Produktion in
abgewandelter Form nach Italien zurückbrachten, stellen die Ausnahme dar. Auch
italienische Firmen haben, wie viele andere auch, Produktion in ehemals
sozialistische EU-Staaten und nach Fernost, vor allem China verlagert.
Sie taten das, genauso wie die Betriebe in anderen Staaten der
EU, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Da machen die niedrigeren
Lohnkosten und geringeren Umweltauflagen die höheren Transportwege wett, und
man hat dann eben, wenn eine Pandemie ausbricht, keine Schutzausrüstung, weil
die Masken, Anzüge, Handschuhe usw. bereits seit einiger Zeit von der anderen
Seite der Erdhalbkugel geliefert werden. (Oder, im konkreten Fall, nicht
geliefert werden, weil dort auch alles stillsteht.)
Der Bundesnachrichtendienst hat die deutsche Regierung gerügt,
wie sie das denn hätte zulassen können, so wichtige Dinge im Ausland herstellen
zu lassen?
Solche Gesichtspunkte waren aber der deutschen wie der
restlichen europäischen Politik in den letzten Jahrzehnten völlig fremd. Das
ist auch interessant angesichts der Tatsache, daß wegen CV ein
Riesen-NATO-Manöver an der Ostfront der EU abgeblasen wurde. Säbelrasseln gegen
Rußland – ja immer! Aber für den Kriegsfall medizinische Ausrüstung zu lagern –
nein, an so etwas wurde nirgends gedacht, in keinem NATO-Staat.
(Man merkt daran, wie wenig die NATO-Staaten und ihre Medien
an die von ihnen selbst verbreitete Propaganda über die Aggressivität Rußlands
glauben – sie sind offensichtlich ganz sicher, daß die Russen tatsächlich nie
in die EU einmarschieren werden.)
Wenn immer mehr und mehr Produktion nach Fernost verlagert
wird, wie kommt dann eigentlich das vielbeschworene Wachstum zustande? Woher
die Sicherheit, daß die Produktion dort erfolgt, der Profit dazu aber hier
anfällt?
In Zeiten wie jetzt, wo nicht nur der Personentransport,
sondern auch der Warentransport stockt, stellt sich diese Frage mit besonderer
Deutlichkeit. Wenn der Salto mortale der Ware, ihr Verkauf, ganz woanders
stattfindet als dort, wo sie hergestellt wird, so hat das unter anderem das
Risiko, daß mit dem Transport etwas nicht hinhaut. Das zweite Risiko ist, daß
die Zahlungsfähigkeit auf dem anvisierten Markt flöten geht. Das ist etwas, was
sich in der ganzen EU, und besonders in Italien abzeichnet. Die
Coronavirus-Krise in Europa könnte gut zu einer Absatzkrise in China führen.
Und erst recht zu einer Pleitewelle derjenigen europäischen Betriebe, die
bisher ihr Geschäft mit Ware Made in China gemacht haben.
In manchen Staaten werden Überlegungen laut, bestimmte
Produktionen wieder zurück ins eigene Hoheitsgebiet zu holen. Da ist wieder die
Frage: Wie? – immerhin handelt es sich ja um die Freiheit des Eigentums und die
Akkumulationsfähigkeit des heimischen Kapitals, die die Verlagerung nach China
veranlaßt haben.

3. Spektakel, Unterhaltungsindustrie
Die Unterhaltungsindustrie bewegt ziemliche Kapitalien, und
sie bewegt sich immer mehr in Richtung Spektakel: Großveranstaltungen aus
Sport, Kultur, Musik und sonstige Events aller Art bescheren den Veranstaltern
hohe Einnahmen, die allerdings durch immer höhere Sicherheits-, Logistik- und
Werbeausgaben, Gagen, Versicherungskosten und weiteres geschmälert werden.
Deswegen bemühen sich die Akteure dieser Spektakel, noch mehr Menschen
anzuziehen, denen sie das Live-Erlebnis verschaffen, und zusätzlich durch
Fernseh- und Internet weitere Einnahmen zu lukrieren: Größer, lauter, bunter,
mehr, höher – in diesen Superlativen versuchen sich Unternehmen aus
Kulturindustrie und Sport über Wasser zu halten.
Interessant ist auch die andere Seite: Warum lassen sich so
viele Leute in diesen Strudel hineinziehen, oder: Was macht die Attraktivität
dieser Großveranstaltungen aus?
Es muß etwas Ähnliches sein, was in sozialistischen Staaten
früher die Massen für Paraden und andere Demonstrationen der Einheit zwischen
Staat und Volk auf die Straße gebracht hat: Das Gefühl, wo dazuzugehören, mit
vielen Gleichgesinnten an etwas teilzuhaben, der Isolation zu entkommen. In der
bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft ist dieses Gefühl der Einheit um so
wichtiger, weil es in Kontrast zu den täglichen Erfahrungen steht, wo man
ständig untergebuttert und an seine Macht- und Bedeutungslosigkeit erinnert
wird.
Außerdem übertönt dieses Laute und Grelle der Spektakel die
Töne, die sich im Inneren der Menschen immer wieder melden: Kann ich meine
Miete weiter zahlen? Liebt mich mein Partner noch? Verläßt er/sie mich
womöglich bald? (Das hat durchaus auch was mit der Miete zu tun, weil allein
ist die dann gar nicht mehr zu stemmen.) Habe ich meinen Job nächstes Jahr/
nächsten Monat noch? usw.
Existenzielle Ängste, was ist das?! Heute jubeln wir, feiern
wir, saufen uns zu, erfreuen uns am Sieg unserer Mannschaft oder dem Konzert
unseres Lieblings-Schlagersängers.
All diese Veranstaltungen sind auf der einen Seite im System
von „Brot und Spiele“ wichtig für das Funktionieren der Klassengesellschaft,
aber sie stellen auf der anderen Seite eine Art Zusatzveranstaltung dar,
bedienen wie Alkohol und Drogen das Luxusbedürfnis des Sich Zu- oder Wegtörnens
und müssen aus irgendeiner Art von Surplus-Produktion finanziert werden.
Heute sind diese Veranstaltungen alle gestoppt wegen
Ansteckung, aber sie werden in Zukunft überhaupt sehr heruntergefahren werden,
weil auch hier der lange Stillstand auf den Umstand hingewiesen hat, wie
überflüssig sie eigentlich sind, und daß die Veranstalter nie mehr mit den
Besucherzahlen wie bisher rechnen können.

4. Die gesellschaftliche Reproduktion
Jede Gesellschaft, ob Stämme im Urwald, mittelalterliche
Fürstentümer, kapitalistische oder sozialistische Wirtschaft läßt sich im
ökonomischen auf die 3 Haupt-Gebiete reduzieren: Produktion-Distribution –
Konsum.
Unsere heutige Gesellschaft, der moderne Kapitalismus, die
globalisierte Marktwirtschaft, zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß an
einem Ende der Welt produziert wird, was am anderen konsumiert wird. Die
Distribution, vermittelt über Transport, Logistik, Lagerung, nicht zu vergessen
Wechselkurse und Zahlungsverkehr, macht einen im Vergleich zu anderen
Gesellschaften unverhältnismäßig großen Teil der gesellschaftlichen Tätigkeit
aus. Das gilt nur für den Fall, wenn man die ganze menschliche Gesellschaft
betrachtet.
Nimmt man aber kleinere Einheiten, also einzelne Staaten, so
stellt sich ihre Lage so dar, daß die Bewohner von vielen von ihnen fast nichts
mehr produzieren, was sie oder andere brauchen. Ihre Mitglieder können ihren
Lebensunterhalt nur bestreiten und ihren Konsum nur vollziehen, indem sie sich
entweder als Transitland oder auf andere Art Dienstleister für die Distribution
nützlich machen, oder bei der weltweiten Freizeitindustrie mitmachen.
Letztere – also Tourismus aller Art – stellt wirklich eine
Besonderheit unserer Gesellschaft dar, und sie gehört damit in die Sphäre der
Luxusbedürfnisse – also derjenigen Bedürfnisse, die entbehrlich sind, wenn Not
herrscht und man jeden Groschen umdrehen, oder jeden Grashalm verwerten muß.
Nach monatelangen Shutdowns mit allen Nebenerscheinungen
stellt sich heraus, daß diejenigen Staaten, die produzieren, weitaus besser
aufgestellt sind als andere, denen ein guter Teil ihrer gesellschaftlichen
Reproduktionsgrundlage abhanden kommen könnte.

5. Messegelände
In der Coronakrise wurden überall hektisch Messehallen zu
Notfallkrankenhäusern umgebaut. Es stellt sich heraus, daß fast jede größere
Stadt über so etwas verfügt.
Man muß sich das bewußt machen: In Zeiten steigender
Obdachlosigkeit, wo immer mehr Menschen unter Brücken, in Tunnels und in
Notquartieren hausen, stehen große Objekte herum, die den größten Teil des
Jahres leerstehen. Nur wenige Städte schaffen es, einen halbwegs durchgehenden
Messebetrieb auf die Beine zu stellen. Bei den anderen bleibt der Wunsch der
Vater des Gedankens. Diese Hallen, Zufahrten, Parkplätze und Parkhäuser wurden
erstens gebaut und müssen zweitens gewartet werden – mit welchem Geld, so fragt
man sich? – während gleichzeitig für Kindergärten, Pensionen oder Sozialhilfe
immer zu wenig da ist.
Sie sind Denkmäler dessen, daß in unserer Gesellschaft absurde
Ausgaben getätigt werden, während die wirklichen und breite
Bevölkerungsschichten betreffenden Bedürfnisse nur sehr bedingt zählen und
bedient werden.

6. Medizin im Kapitalismus
Zur Medizin und dem Gesundheitswesen haben wir viel gelernt:
Erstens, und das ist wirklich bemerkenswert, daß Atemschutzmasken,
Desinfektionsmittel und Handschuhe offenbar in ganz Europa als höchst
überflüssige Anschaffung betrachtet wurden, bevor das Coronavirus auftauchte.
Einfache Hygiene-Artikel waren nirgends lagernd, werden in Europa kaum mehr
hergestellt und es galt als höchst wirtschaftlich und schlau, sie vom anderen
Ende des Globus zu beziehen.
Generell wurde in den letzten Jahres vieles, was Kranke
brauchen, um gesund zu werden, als hinausgeschmissenes Geld betrachtet.
Krankenhausbetten, die für den Fall zur Verfügung stehen, daß Menschen krank
werden und deswegen dort hineingelegt werden müssen, wurden von Rechnungshöfen
und sonstigen, teilweise privaten Evaluierern als eine Art Hotelbetten
betrachtet, die so und so viel Tage im Jahr ausgelastet sein müssen.
Durch das Internet und auch die offiziellen Medien geistern
Expertenmeinungen, die feststellen, man soll doch ruhig ein paar Leute sterben
lassen, das sei normal, man könne nicht alle retten, und die Gesunden kommen
schon durch. Diese Leute treten auch mit onkelhafter Gestik, als Fachleute zur
Vermeidung von Panik auf, sie sind gütige Beruhiger, macht euch doch keine
Sorgen, euch erwischt es eh nicht, sondern die anderen!
Besonders befeuert werden sie von schwedischen
Gesundheitspolitikern, die stolz auf ihre Bevölkerung verweisen, die das
Coronavirus besser überstanden hat als diejenige anderer Länder. Eine gesunde
Nation, sapperlot! Man fragt sich angesichts dieser Meldungen, warum wir
eigentlich überhaupt Krankenhäuser und Ärzte haben? Im Grunde wird durch diese
Sichtweise das gesamte medizinische Wissen entwertet, und die Heilkunst zu
einer Art gesellschaftlicher Überempfindlichkeit stilisiert, wenn sie Kranke
gesund machen oder vor dem Sterben bewahren will.
Diese Auffassung existierte sicher bereits vor dem Auftreten
des Coronavirus, aber sie ist zweifelsohne populärer geworden bei Teilen der
Bevölkerung, die nicht erkrankt sind und deren Einkommen durch die
seuchenpolitischen Maßnahmen gefährdet ist. Eine Art von Unterscheidung tritt
auf, ein bekennendes Fordern nach Selektion, das nicht mehr (nur) zwischen
Inländern und Ausländern, sondern zwischen Gesunden und Kranken eine Grenze
zieht. Das „Wir“ der Braven und Fleißigen, die nicht rauchen, keinen Ballermann
machen und sich um ihre Gesundheit kümmern, bläst ins Jagdhorn gegen die Alten,
Schwachen, Drogensüchtigen usw. usf., die eigentlich als unnötiger Ballast bei
jeder sich bietenden Gelegenheit abgeschüttelt werden sollten.

7. Umwelt
Daß die Umwelt in einem schlechten Zustand ist und der
Klimawandel zu einem guten Teil hausgemacht ist, war vor der Coronakrise das
Thema Nr. 1, es gab FFF-Demos und viele Verantwortliche runzelten die Stirn,
wie man denn den CO2-Ausstoß verringern und den Planeten retten könnte. Man
dachte an die Natur, die Landwirtschaft, die Naturkatastrophen, Dürre und
Waldbrände, die Grundlagen der Ernährung, also sehr allumfassende und auf die
Natur bezogene Besorgnisse und Maßnahmen.
Aber inzwischen hat sich herausgestellt, daß die Bedingungen,
unter denen viele Menschen leben, die Brutstätte von Krankheiten sind, und
nicht nur in Hinterindien, wo es kein sauberes Wasser gibt, sondern in den
Metropolen industrialisierter Staaten, in der Lombardei und in New York. Der
Smog, beengte Wohnverhältnisse, veraltete Infrastruktur und eine moderne
Armutsmedizin, die die Menschen mit Antibiotika, Tranquilizern und
Schmerzmitteln ruhigstellt, haben sich als die wirklichen Krankmacher
herausgestellt, die das Virus nur für alle sichtbar gemacht hat.
Die ganze Umwelt-Debatte ist ein wenig aus der Atmosphäre, den
Ozeanen, Urwäldern und Wüsten, dem Geschrei um gefährdete Tierarten, Pflanzen
und Inseln in den Alltag des Hier und Jetzt zurückgekehrt: Worum geht es
eigentlich beim Thema „Umwelt“? – um die Menschheit, die Zukunft, das Klima? –
oder vielleicht zunächst einmal darum, wie in den Metropolen des Kapitals
gelebt und gestorben wird?

8. Energie
Sehr betroffen von der Corona-Krise ist die Energiewirtschaft:
Die eingeschränkte Mobilität und das Ruhen vieler wirtschaftlicher Tätigkeit
läßt den Ölpreis abstürzen, wird aber auch viele Anbieter erneuerbare Energie
in Schwierigkeiten bringen, weil auch sie mit der sinkenden Nachfrage und
höheren Herstellungskosten zu kämpfen haben.
Wie die Fracking-Industrie und die darauf aufbauende
Weltpapierspekulation aus diesem Wellental herauskommen und der Streit um North
Stream und Ukraine-Gastransit weitergehen wird, ist unklar. Das

9. Wachstum
wird jedenfalls in nächster Zeit nicht mehr so richtig
flutschen.
Vielleicht kommt jetzt nach Null- und Negativzinsen das Null-
und Negativ-Wachstum und die Prognosen werden sich darin überbieten, geringeren
oder höheren BIP-Rückgang zu prophezeien. Was das für die aufgehäuften
Schuldenberge bedeutet, muß sich auch erst herausstellen.