General

Das globalisierte Unglück

Von, Markus Mugglin, Infosperber, 14. Mai 2020. Die Corona-Krise bringt das Scheitern der Hyperglobalisierung ans Licht. Korrekturen sind dringend nötig.
Die Corona-Krise legt die Schwächen der Globalisierung offen
Schon wieder – ist man geneigt zu sagen, auch wenn
sich die Geschichte nicht einfach wiederholt. Covid-19 ist anders als die
«Asienkrise» vor gut 20 Jahren und der Finanzcrash vor mehr als zehn Jahren.
Dennoch: Schon wieder, weil sich schon damals national ausgebrochene Krisen
rasant globalisiert hatten und warnende Stimmen gegen die Hyperglobalisierung
provozierten. Mit der Corona-Pandemie sind die Zweifel noch erdrückender
geworden. Vor zehn und vor allem vor 20 Jahren hatten die meisten reichen
Länder vergleichsweise wenig zu leiden.
Jetzt sind
sie die Zentren des globalen wirtschaftlichen «Lockdown».
Grosses Marktversagen
Die Schwächen der Hyperglobalisierung sind
offensichtlich und vielfältig. Die Lieferketten vieler Produkte sind äusserst
fragil. Viele Abnehmer sind von wenigen Produzenten abhängig, die
Gesundheitsforschung ist beunruhigend einseitig. Die Vorsorge auf eine seit
langem vorausgesagte Pandemie war erschreckend schwach.
Diesen Schwächen ist eines gemein. Sich nur auf die
Marktkräfte zu verlassen, genügt nicht. Wie vor mehr als zehn Jahren die
Finanzmärkte nicht zur Selbstkorrektur fähig waren, so versagten dieses Mal die
Akteure auf den Gesundheitsmärkten. Zum Marktversagen hinzu kommt das Versagen
der Staaten, weil sie sich vom Zeitgeist «der Markt richte es» verführen
liessen. «Das Glück, dass die politischen Beschlüsse dank der Globalisierung
grösstenteils durch die weltweite Marktwirkung ersetzt wurden», wie es der
legendäre US-Zentralbank-Chef Alan Greenspan ein Jahr vor dem Finanz-Crash in
einem Interview (Tages-Anzeiger, 19. September 2007) gemünzt auf die USA
formuliert hatte, erweist sich jetzt als globalisiertes Unglück.
Hüter des Status quo warnen vor
«Seuchen-Sozialismus», die Ideologie vom schlanken Staat wird reanimiert,
Wirtschaftsprognostiker sagen uns nach dem steilen Absturz der Wirtschaft für
nächstes Jahr einen ebenso steilen Wiederaufstieg voraus – als ob die
«Normalität»“ quasi-automatisch schnell zurückkehre.
Resilienz ist nötig
Dabei zeigt sich genau jetzt wie lebensgefährlich
die Hyperglobalisierung sein kann. Es braucht mehr Resilienz, um global
ausbreitende und verstärkende Risiken abzuwehren. Der Handlungsbedarf lässt
sich aus den Mängeln ableiten, welche die Corona-Krise offenlegt.
Die Lieferketten nach dem Prinzip «just in time»
sind unzuverlässig, die geringe Zahl von Anbietern führen zu fatalen
Abhängigkeiten. Das gilt offensichtlich für Schutzausrüstungsprodukte wie
Masken, Handschuhe, Schutzbrillen und andere Schutzbekleidungen,
Beatmungsgeräte und Desinfektionsmittel. Zu riskant ist auch die Abhängigkeit
der weltweiten Pharmaindustrie von wenigen Herstellern in Indien und China,
wohin die Produktion aus Kostengründen ausgelagert wurde. 
China ist zum weltweit grössten Produzenten
medizinischer Wirkstoffe aufgestiegen, Indien zum grössten Anbieter von
Generika und deckt sich für die zu verarbeitenden Wirkstoffe auch noch zu 80
Prozent in China ein.
Auch die Forschung der Pharmabranche ist nicht auf
die globalen Gesundheitsbedürfnisse ausgerichtet. Die Branche hat «weder dem
Geschäft mit antiviralen Arzneimitteln noch dem mit Impfstoffen grosse
Bedeutung zugemessen», stellte die 
NZZ (16. April 2020) unlängst fest. Vakzine und
die antiviralen Mittel würden zwar das viert- bzw. das fünftgrösste Produktsegment
innerhalb des weltweiten Medikamentenmarkts bilden, im Vergleich mit der
dominanten Vermarktung von Krebspräparaten aber gleichwohl bloss
Nebenschauplätze darstellen. Der Erlös in der Onkologie übertraf 2018 jenen mit
antiviralen Medikamenten um das Dreifache und jenen mit Vakzinen um das
Vierfache. Und die Differenzen – so schätzten Branchenkenner zumindest vor der
Corona-Krise – dürften sich in nächster Zukunft noch massiv vergrössern.
Es wird dort geforscht und produziert, wo hohe
Gewinne in Aussicht sind. Deshalb haben sich viele Pharmaunternehmen aus dem
Geschäft mit Vakzinen zurückgezogen. Trotz wiederholter Pandemiewarnungen in
den letzten 20 Jahren wurde abgerüstet statt aufgerüstet. Es war schlicht zu
wenig verlockend, Impfungen zu entwickeln. Nur gegen Ebola waren die Bemühungen
erfolgreich.
Jetzt rauft man sich zwar zusammen. Die
Pharmakonzerne öffnen ihre Wirkstoff-Schatzkammern und tauschen sich
untereinander aus. Jetzt, da der Ruf der Pharmawelt auf dem Spiel steht. Das
heisst aber noch nicht, dass sich die Forschungsprioritäten ändern werden.
Deshalb ist die Politik gefordert. Wo Märkte
versagen, muss sie sich einbringen. Sie muss sicherstellen, dass die Forschung
auf die Gesundheit als öffentliches globales Gut ausgerichtet ist – auch wenn
keine grossen Margen locken. Auch der Patentschutz darf kein Tabu sein, wenn es
um die Versorgung der Bevölkerung in den armen Ländern geht. Es soll nicht die
«Preismacht» entscheiden, welche die Pharmakonzerne dank ausgebautem
Patentschutz auszuspielen vermögen.
Naturschutz setzt Globalisierungsgrenzen
Die Pandemie stellt über die Gesundheitsfrage
hinaus die Hyperglobalisierung in Frage. Die Verbreitung der Viren stellt auch
ein von Menschen verursachtes ökologisches Problem dar. Wenn Wälder abgeholzt,
Strassen auch in entlegene Gebiete gebaut, Soja und Getreide angebaut, die
Tierhaltung intensiviert und mit Wildtieren gehandelt und so die Artenvielfalt
reduziert wird, darf das nicht nur als ein Problem des Naturschutzes abgetan
werden. Es ist «in Wirklichkeit auch ein gewaltiges globales Gesundheitsproblem»,
weil die Umweltzerstörungen den Viren neue Übertragungswege öffnen, erläuterte
unlängst die Wissenschaftsjournalistin Juliette Irmer Ende März in der NZZaS.
das Verhältnis zwischen Natur und Mensch. Erreger von Wildtieren springen auf
Nutztiere oder Menschen über.
Das Vordringen in bisher nicht erschlossene Gebiete
wirft über Gesundheitsprobleme hinaus auch die Frage nach den Grenzen des
Wirtschaftens auf. Soll der Markt bestimmen, wie weit der Mensch in die Natur
eingreift?
Diese Frage stellt auch das Ziel eines
ungehinderten Freihandels in Zweifel. Woher kommen die Hölzer, das Soja und
Palmöl, das Fleisch und mineralische Rohstoffe her? Werden sie auf Kosten
tropischer Wälder und der Artenvielfalt produziert und unter welchen
Bedingungen? Debatten über transparente Lieferketten, wie sie die
Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz und mitten in der Corona-Krise
die 
EU-Kommission neu angestossen hat, kommen zum richtigen
Moment.
Abschied von der Hyperglobalisierung bedeutet
allerdings nicht Rückzug hinter die nationalen Grenzen und schon gar nicht
«America first» oder ähnliche Nationalismen mit beliebig protektionistischen
Massnahmen – sondern der Weg hin zu einer globalen Kooperation. Pandemien
halten sich nicht an Grenzen, genauso wenig wie sich Schutzwälle gegen die
Erderwärmung und die Folgen des Klimawandels bauen lassen. Nationale Eindämmung
des Virus und der Treibhausgasemissionen nützen wenig, wenn die andern nicht
mittun. Der Abschied von der Hyperglobalisierung steht deshalb nicht im
Widerspruch zu globaler Kooperation.