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Dokumentarerzählung Frühjahr 1945. Auch in der Pfalz ging der Krieg als verlorener Krieg zu Ende. Die Menschen wussten es.

https://www.untergrund-blättle.ch/prosa/wilma-ruth-albrecht-fruehjahr-1945-dokumentarerzaehlung-1732.htmlI.
Die Menschen wussten es. Doch die Machthaber wollten es nicht wahrhaben und versuchen, noch Mitte März mit Teilen des Korps der 17. SS-Panzergrenadierdivision an der Haardt eine Verteidigungslinie gegen die anstürmenden, gut bewaffneten und siegesgewissen US-Soldaten, die zudem noch Luftunterstützung durch Jabos erhielten, aufzubauen.


Hannes, der schwachsinnige Sohn des Besitzers der Siegfriedmühle im Edenkobener Tal, machte sich auch am Mittag des 21. März 1945, die einzige Kuh am Seil mit sich führend, auf den Weg zur Wiese im hinteren Tal, das bei Sonnenschein die Sonnenstrahlen geradezu anzieht. Die Schule war schon seit Wochen geschlossen. Selbst wenn noch Unterricht abgehalten worden wäre, gefruchtet hätte er wenig, besonders nicht bei Hannes. Neben ihm und der Kuh trippelte ein dreijähriger Junge, der, als die drei das eiserne Hoftor erreichten, von seiner Mutter Joanna, die rechtzeitig aus dem Fenster sah, mit einem scharfen „Hartmut, Du bleibst schön hier!“ zurückgerufen wurde.

Johanna befand sich seit Oktober 1944 mit ihren beiden Kindern, einem dreijährigen Jungen und einem einjährigen Mädchen, im Edenkobener Tal bei ihrem Bruder August. Zuvor hatte sie immer in Kandel bei ihren Verwandten Zuflucht gefunden. Doch nun sitzen amerikanische Offiziere im Haus Nr. 24 in der Bahnhofsstraße. Von Frankreich aus waren amerikanische Einheiten der Siebten Armee über den Bienwald schnell vorgedrungen, hatten im Städtchen keinen Widerstand vorgefunden, weil die entsprechenden Nazigrößen schon geflohen waren, eine gewisse Ordnung hergestellt und das Haus requiriert.

Nach Ludwigshafen selbst konnte Johanna auch nicht: die Wohnung im Erlenweg war teilzerstört und ihr Mann, der sich dem Volkssturm entzogen hatte, lebte versteckt und konnte sie nicht unterstützen.

´Hoffentlich wird er nicht entdeckt oder verraten´, dachte sie. ´Wie erbärmlich, hier in diesem feuchten Loch mit zwei kleinen Kindern, einer schlampigen Schwägerin, die sich wie der Bruder selbst stundenlang herumtreibt, auch jetzt wieder, und mir auch noch ihre drei aufhalst. Wenn´s doch alles endlich zu Ende wär´. Zum Essen gibt’s hier auch kaum ´was, vor allem aber die Feuchtigkeit in Wänden, Böden und Decken – und die Ratten, nachts überall in Haus und Hof… einfach ekelig und gefährlich dazu.´

Währenddessen stampfte Hannes gedankenlos den Waldweg entlang, erreichte auch bald die Wiese und band die Kuh so, dass sie genügend Freilauf zum Grasen und Äsen hatte, an einen Baumstumpf fest. Dann stieg er den Hang hinauf, um nach etwas Essbarem zu suchen, ein vergebliches Unterfangen Mitte April auf einem Boden, der weder Beeren noch Pilze anbietet.

Plötzlich hörte er ein „Stop! Stop!“ und schaute in ein rundes Augenpaar in einem kohlrabenschwarzen Gesicht, das hinter der Brombeerhecke hervorschaute, und dann in noch eins. So schnell hatte Hannes in seinem ganzen Leben noch nicht gedacht: ´Der Belzebub mit seinem Gefährten´, schoß es ihm durch den Kopf, nichts wie weg hier.´ Doch schon packte eine kräftige Männerhand ihn an der Schulter und hielt ihn fest. Hannes brüllte wie ein Schlachttier auf. Sofort sprang der zweite schwarze Mann in Kakidrill hervor und verschloss dem völlig verängstigten Jungen mit beiden Händen den Mund. Beide redeten auf Hannes, der am ganzen Leib schlotterte und strampelte, beruhigend in einem ihm unverständlichem Kauderwelsch ein, zerrten ihn aber tiefer in das Gebüsch zu ihrem Lager.

An einer provisorischen Feuerstelle waren eine Zeltplane, zwei Soldatenhelme und zwei Rucksäcke gelagert. Während der eine Soldat den Jungen immer noch festhielt, öffnete der andere seinen Rucksack, entnahm einen Schokoladenriegel und hielt ihn Hannes mit eindeutigen Gesten entgegen, die selbst einem schwachen Hirn verständlich werden. Mittels Finger auf dem Mund legen und angedeuteten Kehlkopfschnitten wurde ihm klargemacht, dass er die Schokolade erhält, wenn er aufhört zu schreien und sie nicht verrät. Hannes´ Blick wurde gierig. ´Soll sich doch im Wald tummeln, wer will. Hauptsächlich man stiehlt mir nicht die Kuh und lässt mich an Leben.´ Heftig willigte er in den Handel ein.

Die beiden schwarzen Soldaten freuten sich kindlich, als sie sahen, wie genüsslich Hannes die Schokolode verschlang. Als er sich nun umständlich bedanken wollte, erkannten selbst die Beiden, dass dieser Feind wohl harmlos sein muss, denn das Gestammel hatte wenig Ähnlichkeit mit dem, das die Krauts üblicherweise sprachen. Mit breitem Grinsen verständigten sich die Männer untereinander. Bevor sie dem Jungen bedeuteten, dass er jetzt verschwinden sollte, steckten sie ihm noch zwei Cornedbeefdosen zu.

Mit den Schätzen in den Händen rannte er los. In der Nähe der Kuh angekommen, ließ er sich an einem sonnenbeschienenen Fleck auf dem Gras nieder, um die Geschenke näher zu untersuchen. Zufällig zog er an einem Gummi, sofort sprang der Dosendeckel auf und Fleischgeruch stieg ihm in die Nase. Mit bloßen Händen stopfte er sogleich den Doseninhalt schaufelnd in den Mund und schmatzte dabei brummig. Der Leerung der ersten Dose folgte die zweite. Als auch aus dieser nichts mehr herauszukratzen war, kroch Hannes zur Kuh, legte sich unter ihr Euter und ließ sich einen kräftigen Strahl warmer, schäumender Milch in den Mund laufen. Seit langer Zeit war er wieder einmal satt – und müde. Zufrieden rollte sich der Junge zur Seite und schlief ein.

Der Abend rückte näher. Es wurde kühler und dunkel. Doch weder Hannes noch die Kuh erschienen im Winkelgehöft, so dass sich der Vater selbst beunruhigt auf die Suche machte.

Es dauerte nur eine Viertelstunde und Johanna hörte, als sie im Hof die Wäsche von der Leine nahm, ein Geschimpfe und Gezeter unterbrochen von langgezogenen Schreien. Dann kamen auch schon drei Gestalten durch die Hoftür: August mit der einen Hand seinen brüllenden Sohn und mit der anderen die durch das Schreien störrisch gewordene Kuh hinter sich herziehend.

Völlig aufgebracht und keuchend brach es aus August heraus: „Stell Dir vor, Hanne, der Depp da“, damit zeigte er auf seinen Sohn, „liegt dahinten mit diesen beiden leeren Cornedbeefdosen. Die hat der doch tatsächlich allein aufgefressen! Zwei Dosen Fleisch! Und uns hat er nichts, aber auch gar nichts übrig gelassen. Die Kuh hat sich am Seil verfangen und humpelt. Ihr Euter ist auch ganz schlapp.“

Während seine Hand den Kuhstrick losließ, sauste schon zwei weitere Male rechts und links in Hannes´ Gesicht.

„Jetzt hör´ endlich auf, den Bub ständig zu schlagen. Du machst ihn ja noch blöder als er schon ist“, schimpfte Johanna und zog Hannes zu sich. „Stimmt das, was der Vater gesagt hat?“, fragte sie ihn. Das konnte der Junge unter Tränen nur nickend nur bejahen.

Noch bevor das Verhör weiter geführt werden konnte, näherten sich schon zwei Gestalten in Uniform. „Um Himmels Willen…! Ami! Neger!“, ließ August in sich gesackt vernehmen. Stampfend und herrisch traten die beiden Soldaten in den Hof, packten August und fragten bestimmend:

„You are soldier? You are Wehrwolf? You are Nazi? Where are your Weapons?”

Mehrere Rückenpuffe brachten den Begriffsstutzigen dazu zu verneinen. Blöde fragte er Johanna: „Wir haben doch keine Waffen, nicht wahr?“ „Ach, lieber Gott, nein doch, niemals“, jammerte sie. Dann wandten sich die beiden Männer fragend Hannes zu. Entweder um seinen Gönnern einen Gefallen tun zu wollen oder in der Hoffnung auf weitere Dosen Cornedbeef, vielleicht auch um sich für die vielen väterlichen Ohrfeigen zu rächen jedenfalls nickte der Junge eindeutig und mehrmals bejahend, wobei er ein ernstes Gesicht zeigte.

„Du Dummkopf, Du Schafskopf. Natürlich gibt´s hier keine Waffen! -Du bringst uns alle noch in Teufels Küch´, ja unter die Erd´, wenn Du das behauptest“, schimpfte August auf seinen Ältesten ein. Auch Johanna bemühte sich, den Jungen umzustimmen und den Soldaten zu vermitteln, dass Hannes nicht ganz richtig im Kopfe sei. Erfolglos. Klar und deutlich wie kaum sonst, sagte Hannes störrisch: „Aber ja doch, der Vater hat ´ne Pistole.“

Alles Jammern war erfolglos. Mit Knuffen und Stößen August vor sich hertreibend, wurden Haus, Stall und Scheune komplett durchsucht, alles umgedreht, das Bettzeug aufgeschlitzt und die an sich schon nur dürftige Ordnung in vollkommenes Chaos verwandelt.

Eine richtige Kriegswaffe wurde jedoch nicht gefunden – wohl aber Äxte, Beile, Sense und Sichel, Messer in verschiedenen Größen und Schärfen und sonst allerlei Waffenähnliches, was in jedem Haus und Hof zu finden war, aber weder Pistole noch Gewehr, nicht einmal ein Luftgewehr. Als sie einsehen mussten, dass hier kein Widerstandsnetz von Wehrwölfen auszuheben war, verschwanden die beiden amerikanischen Soldaten, ein größeres Durcheinander hinterlassend als sie es schon vorgefunden hatten, dazu völlig entnervte Erwachsene, weinende Kinder und einen jammernden Jungen – die Helden der Siegfriedschmiede.

*

Kurz danach war auch Augusts Frau, abgehetzt aus dem Städtchen kommend, wieder im Winkelgehöft eingetroffen.

„Mensch, wo warst Du denn so lange und was hast Du denn gemacht?“ fragte sie völlig entnervt August. „Ich? Ja, ich war mit ein paar Frauen, wir waren etwa dreißig, beim Truppenkommandant´ im Pfälzer Hof“, antwortete sie, als sei das selbstverständlich.

„Bist Du noch bei Verstand“, schnauzte August, „hast nichts Besseres zu tun? Was wollt´ Ihr denn von dem Goldfasan?“

„Mensch, wir müssen doch das Schlimmste verhindern. Der will doch noch mit Panzersperren den Vormarsch der Amis aufhalten. Von überall sind dicke Holzstämme angefahren worden. Wir haben gebettelt, er soll die Sperren nicht schließen. Wenn die Amis auf Widerstand stoßen, dann kommen die Jabos und bomben alles nieder. Das haben wir doch gestern in St. Martin erlebt. Aber der verbohrte Kerl meinte doch tatsächlich“ und ihn nachahmend sprach sie:„ Wir müssen jetzt das Letzte tun, um den Endsieg zu erringen. Die Panzersperren werden geschlossen. Von Endsieg sprach der Blödmann, von Endsieg!“ empörte sich die Frau. „Ja, da kann man wohl nichts machen“, entgegnete August resigniert.

„Ihr Männer seid aber Schlappschwänz´“, mischte sich jetzt Johanna ein, die zunächst noch unbeteiligt dem Gespräch folgte. „Die müssen im Dunkeln weggeschafft werden“, erklärte sie bestimmt. „Das meinen meine Freundinnen auch“, pflichtete ihr Kätsche bei, „um neun treffen wir uns. Dann muss ich noch ´mal weg, und Du, August, kommst mit“, bestimmte sie. „Die Hanne kann bei den Kindern bleiben.“ „Mich bringst´ von hier nicht weg, nach dem was ich hier grad´ erlebt hab… bin doch nicht lebensmüd´ und lass mich in letzter Sekund´ noch aufknöpfen. Nein, nein, ich bleib schön hier“, entschied er.

Als es dunkel war, tat sich etwas an den Panzersperren. Mit vereinten Kräften hoben mutige Edenkobener Frauen die schweren Holzstämme, mit denen die Straßen versperrt worden waren, zur Seite. Daran beteiligt war auch Kätsche und ihre Freundin Erika, die in der Poststraße wohnte.

Mitten in der Nacht klopfte es mehrmals an deren Schlafzimmerfenster. Als Erika im Nachthemd das Fenster öffnete, flüsterte ihr KarlHeinz, ein stämmiger Bahnarbeiter, leise zu: „ Die Sperren sind wieder geschlossen! Die Polizei hat mit vorgehaltener Pistole einige Männer dazu gezwungen. Los, steh´ auf, wir müssen nochmals ´ran! Ich informier´ inzwischen die anderen Frauen. Wir treffen uns in einer halben Stunde in der Markbachstraße. Die muss auf jeden Fall offen gemacht werden, denn die Ami kommen von der Teufelkopfstraße herunter“, erklärte er klarsichtig.

Eine Stunde später, schon im Morgengrauen, mühten sich mehrere Frauen mit den Holzstämmen an der Markbachstraße ab. „So kommen wir nicht weiter“, entschied Karl-Heinz, „Erika, lauf ´rüber zur Schreinerei und besorg´ zwei Baumsägen.“

Als die Frauen dabei waren, die schweren Stämme zu zersägen, vernahmen sie aus Richtung St. Martin Motorengeräusch von einem Panzer, der sich ihnen mit der grauen Morgendämmerung näherte. Die Frauen zogen weiße Tücher hervor, winkten und riefen: „Nicht schießen, nicht schießen…“

Doch der Panzer rollte weiter auf sie zu und stand jetzt direkt vor der halb geöffneten Sperre. Es war ein deutscher Panzer, einer der Waffen-SS, der bedrohlich sein Rohr auf sie richtete. Da öffnete sich schon die Luke und der Kopf des Kommandanten zeigte sich: „Was Ihr hier macht ist Landes- und Hochverrat. Sofort aufhören!“

„Aber Herr Kommandant“, bat Erika und die anderen Frauen stimmten zu, „das hat doch keinen Sinn mehr. Wenn die Panzersperren geschlossen sind, legen die Amis Edenkoben, unser schönes Städtchen in Schutt und Asche. Das können Sie doch nicht verantworten.“

„Ihr seid mir schöne Patrioten. Ich bin Neustädter und würde Neustadt verteidigen bis zum letzten Haus“, erklärte der Kommandant großspurig. Da fuhr plötzlich ein Personenwagen mit SS-Offizieren heran. Als der Kommandant sie erkannte, fuhr er seinen Panzer zurück, um den Wagen mit seinen Vorgesetzten vorzulassen: Ein Blasser mit Nickelbrille auf der Nase streckte den Kopf aus dem Fenster und rief: „Wie und wo geht´s am schnellsten zur Rheinbrücke?“ Kätsche drängte sich vor: „Sie müssen nach Germersheim fahren. Das ist die einzige noch nicht gesprengte Brücke“ und schon brauste der Wagen los. Da näherte sich schon knatternd ein schweres Militärmotorrad und stoppte vor der Menschengruppe, inzwischen etwa siebzig oder achtzig Personen, zumeist Frauen und einige wenige Männer.

Ein SS-Offizier in schwarzer Totenkopfuniform sprang aus dem Beifahrerwagen, richtete seine Maschinenpistole auf die Menge und entsicherte sie. Damit löste er ein Schimpfen, Schreien und Plärren aus, erreichte jedoch nicht das Zurückweichen der Menge, sondern das Gegenteil. Die Menschen näherten sich mit drohenden Gebärden dem Fahrzeug. Noch bevor sie es umschließen konnten, hüpfte der Offizier mit den Worten „Das werdet ihr noch alle bereuen“ wieder auf den Beifahrersitz und befahl, loszufahren.

Als der Kommandant erkannte, dass sich seine Vorgesetzten absetzen wollten, brach auch sein Widerstandswille zusammen, er ließ seinen Panzer zur Kaserne rollen, um den dort noch versammelten Soldaten zu befehlen, sich geordnet nach Germersheim zurückzuziehen.

Dann blieb es auf der Straße ruhig, so dass die Stämme zur Seite geschafft werden konnte. Karl-Heinz ordnete an, dass die Frauen wieder nach Hause gehen sollten, er und fünf weitere Männer wollten sich, mit Sägen ausgerüstet, zu den anderen Panzersperren begeben.

Tatsächlich wirkte der Ort den ganzen Vormittag und Mittag wie ausgestorben.

Kätsche hatte in ihrer Mannheimer Zeit in den dreißiger Jahren, als sie mit August in der Zehntstraße in der westlichen Neckarstadt nahe der Neunzehnten eine Art „Pension“ führten, einige Brocken Englisch gelernt. An diesem Vormittag ging Kätsche nicht zurück ins Winkelgehöft, sondern schlich an der Waldgrenze im Edenkobener Tal den Weg nördlich den Berg hoch, an der Kropsburg vorbei nach St. Martin. Dort ließ sie sich zu einem amerikanischen Offizier führen, um ihm nach Worten suchen stockend mitzuteilen, dass am Nachmittag alle Sperren weggeräumt seien, die deutschen Soldaten abgezogen worden waren und die Bevölkerung friedlich und ohne Widerstand die Amerikaner erwarte.

Als die Amerikaner am Nachmittag des 22. März 1945 gegen drei Uhr nachmittags auf Edenkoben vorrückten, waren alle Panzersperren geöffnet und nicht nur von der katholischen und von der evangelischen Kirche wehten weiße Bettlaken, sondern auch aus manchem Winzerhaus.

Am 22. März 1945 waren auch die Gartenstadt und Oggersheim kampflos von den Amerikanern besetzt worden. Im Benslerhaus gab es kein wandhohes Hitlerbild mehr. Das hatte Willi zwei Tage vorher verbrannt.

Am diesem Nachmittag des 22. März 1945 streifte Hannes in stiller Hoffnung durch das Brombeergebüsch.

II.

Der Frühling kam spät, doch Mitte März 1945 entfaltete er sich voll: Birken zeigten sich in hellem Grün, Forsythien strahlten intensiv gelb, Narzissen streckten ihre weißgelborangen Blüten keck zur Sonne, um die milden Strahlen einzufangen.

Doch in den Straßen Ludwigshafens hing noch ein schwerer schwefligätzender, ranzigbreiiger und trockensteiniger Geschmacksgeruch. Die Hälfte der Gebäude war zerstört oder beschädigt, die Innenstadt lag weitgehend in Schutt und Asche, auch die großen Industrieunternehmen verloren durch die Bombardierung rund ein Drittel ihrer Produktionsanlagen und ihres Materials. Selbst in den Dörfern war jedes dritte Gebäude beschädigt. Die Straßen waren auch nur zu einem Drittel befahrbar und der Eisenbahnverkehr fast eingestellt. Am 18. März setzten sich die Nationalsozialisten ins Rechtsrheinische ab, ordneten aber noch an, die Rheinbrücke am 20. März zu sprengen, damit wurde auch der Schiffsverkehr völlig lahm gelegt.

In den Fabriken wurde kaum noch produziert, denn nicht nur die Zwangsarbeiter sondern auch die stark reduzierte Stammbelegschaft blieben ihren Arbeitsplätzen fern.

Es gab wichtigeres zu tun.

Doch nur wenige sahen über den Tellerrand ihres eigenen, kleinen persönlichen Schicksals hinaus.

Und einige dieser Wenigen saßen nun wieder nach langer Zeit angstfrei zusammen, diskutierten und planten. Es waren nur vier. Sie hatten an Ritas Küchentisch Platz genommen in der Wohnküche des niedrigen Doppelhauses, des ersten Typs der Genossenschaftshäuser in der Wachenheimer Straße in der Gartenstadt.

1909 hatten 16 Bürger die “Baugenossenschaft Gartenstadt-Ludwigshafen AG” gegründet, 1913 erhielt sie Bauland auf Erbpacht von der Stadt übertragen und die Architekten Schuler und Latteyer entwarfen die Siedlung “Sonnige Au”: zwanzig Häuser mit Küche und zwei Zimmern und sechs mit drei.

Die kleinen Häuschen boten auch jetzt keinen großen Komfort, obgleich sie seit einigen Jahren mit fließendem Wasser und Innentoilette ausgestattet worden waren. Doch die Wohnküche war geräumig genug, vier bis sechs Personen aufzunehmen, dagegen waren die beiden Zimmer im Obergeschoss, die über eine schmale, steile Treppe erschlossen wurden, klein und besaßen teils schräge Wände. Äußerlich wirkten die Häuschen mit ihren großen Fenstern, Walmdächern, vorgelagerten Veranden, teils mit einem Säuleninnenhof und Ziergärten zur Straße hin putzig, wie kleine englische Landhäuser in Spielzeugausfertigung. Die Rückseite dagegen war einfach gestaltet, besaß einen Stall für Kleintierhaltung und rund zweihundert Quadratmeter Gartenland mit Obstbäumen, Hecken und einem Hebelpumpbrunnen.

Aus diesem hatte Rita das Wasser geschöpft, um den Hagebuttentee aufzubrühen, denn mit Stadtwasser konnte dieser alte Teil der Gartenstadt nicht mehr versorgt werden, seitdem das Wasserwerk auf der Parkinsel durch einen Bombeneinschlag erheblich zerstört war. Auf einem Teller lagen Dörrobst, getrocknete Pflaumen und Apfelscheiben, dazwischen einige Haselnüsse.

Rita, einst im Vorstand der “Roten Hilfe”, war äußerlich stark gealtert: ihr langer, kräftiger Körper zusammengeschrumpft und gebeugt, die Finger wiesen knotige Verdickungen auf, das Gesicht lag voller Falten und im geöffneten Mund zeigten sich mehrere Zahnlücken, doch die graugrünen Augen blitzten wach, neugierig, früher sagte man sogar frech. Trotz ihrer körperlichen Gebrechen und der Kriegsleiden, sie hatte den Mann und den einzigen Sohn an der Front verloren, gab sie sich zuversichtlich und energisch. Sie hatte in den letzten Monaten alles, was in der Stadt und besonders im Stadtteil passierte, genau beobachtet und im Gedächtnis behalten.

Rita war es, die die Vier, die sich nun in ihrer Wohnküche aufhielten, aufspüren ließ und jetzt am 20. März, als die Panzerbrigade der dritten Armee des Generals Georg Smith-Patton gerade ein vorderpfälzisches Gemüsedorf nach dem anderen einnahm, zu einer Besprechung aufforderte.

Eigentlich sollte dieses oder ein ähnliches Treffen schon vor drei Monaten stattfinden, doch dann kam die Ardennenoffensive, der Wahnsinnsversuch, den alliierten Vorstoß zu stoppen oder zumindest zu verzögern, dazwischen. Nichts außer vielen Toten hatte dies gebracht und hier im Stadtteil im Februar noch zum Mord am Apotheker geführt.

Die Frau eines Kollegen hatte ihn bei der NSDAP-Ortsleitung denunziert: Regimefeindlich äußere er sich, höre Fremdsender ab und funke sogar selbst. Die fanatischen Parteigenossen wussten nichts Besseres zu tun, als einige NS-Gewinnler und Flakhelferbuben aufzuhetzen, die sich dann auch zusammenrotteten und am hellen Tag den Mann in seiner eigenen Apotheke zu Tode prügelten.

Rita wusste auch, dass vor zwei Tagen die Parteigrößen sich über den Rhein abgesetzt hatten, selbst die Blockwarte waren aus dem Straßenbild verschwunden. Das war jetzt der richtige Zeitpunkt, sich zusammen zu setzen, zu verständigen und zu planen.

Und da saßen sie nun: vier alte, erfahrene Kommunisten, Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre: der vierundfünfzigjährige Max Wenzel, der achtundvierzigjährige Fritz Bäumler, der fünfundvierzigjährige Paul Siebel und der zweiundvierzigjährige Georg Sauer, alle abgemagert, doch lebend und an Erfahrung reich. Von diesen ihren Erfahrungen der letzten zwölf Jahre hätten sie viel erzählen können: der Fritz von seiner dreijährigen KZ-Internierung in Dachau und der letzten Schutzhaft, der Max von seinen drei Verhaftungen, der Georg und der Paul von ihren Gefängnisaufenthalten. Doch ihre Gedanken und Reden führten nicht in die Vergangenheit, sondern in die Gegenwart und in die Zukunft.

“Zuerst muss die Partei wieder her: so schnell wie möglich, so stark wie möglich und so offensiv wie möglich. Vorrang haben die Betriebe. Die Betriebszellen in der Anilin, bei Raschig, der Kutt , bei Halberg, usw. Überall müssen sie aktiviert und zu Betriebsgruppen ausgebaut werden, um Vertrauensleute aufzubauen, Betriebsratswahlen vorzubereiten und auf die Gewerkschaftsgründung einzuwirken”, bestimmte Max unter beifälliger Zustimmung von Fritz Bäumler. “Nichts gegen Antifa-Ausschüsse, nichts gegen Aktionseinheit mit Sozialdemokraten, der SAP und anderen linken Gruppen – all das müssen wir unterstützen. Doch das Hauptgewicht liegt in den Betrieben. Hier müssen wir stark auftreten, wenn es zu einer sozialistischen Umwälzung kommen soll. Es ist zum Mäuse melken – jetzt, da uns die Fabriken offen stehen, die Kapitalisten und ihre Handlanger sich abgesetzt haben, fehlen die Arbeiter, um sie zu übernehmen. Man muss sich einmal vorstellen, gerade noch 800 Beschäftigte zählt die Anilin, vor zwei Jahren arbeiteten dort mehr als 37 000! Ähnlich sieht es bei Raschig, Knoll, Guilini, Halberg und den anderen Großbetrieben aus!”

Dann wandte er sich an Rita: “Die Vorschläge des Nationalkomitees, eine bürgerlichen Demokratie aufzubauen, bringen doch nichts. Was dabei herauskommt, haben wir alles schon nach neunzehnneunzehn erlebt. Die Moskauer Genossen können sich von mir aus auf Positionen in den Verwaltungen stürzen, sie haben die Sowjets hinter sich. Wir hier haben es mit den kapitalistischen Westmächten zu tun und die werden früher oder später alles unternehmen, um ihre deutschen Klassengenossen zu unterstützen.”

“Diese Einschätzung, Max, ist mir zu einseitig, zu mechanistisch, zu undialektisch”, wandte Rita ein. “Kennst du nicht die Beschlüsse von Jalta? Hier wurde klar eine antimilitaristische und antifaschistische Position festgeschrieben. selbst die Rüstungsindustrie soll beseitigt oder mindestens kontrolliert werden. Glaub´ nur nicht, dass die Amis ihre Söhne und Väter umsonst über den Ozean geschickt und geopfert haben. Die wollen wirklich den Faschismus mit Stumpf und Stil ausrotten, haben deshalb einen eigenen Apparat aufgebaut, in dem auch Linke, selbst linke deutsche Emigranten tätig sind. Und die wissen schon, wie man die militärischen und industriellen Kriegsverbrecher aufspürt. ”

“Wir sollten uns an unseren französischen Genossen und am Programm der PCF orientieren: Einheitsfront von unten und oben mit den Sozialdemokraten und zwar insbesondere über das Mittel der Gewerkschaften”, vermittelte Paul, der auf seine Verbindungen nach Frankreich zurück greifen konnte. “Hier gibt es auch Erfahrungen: seit 38 mit der deutschen Sprachgruppe in der CGT und organisatorische Ansätze im KaDeGe, dem Koordinierungsausschuss deutscher Gewerkschaften.

“Allerdings über die Frage der Einheitsgewerkschaften müssen wir schon noch genauer diskutieren”, gab Max zu bedenken. “Die Sozial-demokraten haben weit weniger Opfer als wir gebracht, sind nicht so stark geschwächt und können auf viel mehr Funktionäre zurück greifen. Im Nu entwickelt sich dann die Einheitsgewerkschaft zu einer sozialdemokratischen Richtungsgewerkschaft. Und was dann dabei heraus kommt, haben wir alle erlebt. Ich erinnere nur an die Haltung der freien Gewerkschaften zum Krieg im August 1914 und die Mitarbeit am Vaterländischen Hilfsdienst 1916. Ach was, so weit brauch´ ich gar nicht zurück zu gehen. Sicherlich habt ihr nicht vergessen, wie sich der Leipert noch im April 1933 Hitler andiente. Und erst die Funktionäre im gewerkschaftlichen Ortskartell: Nichts Besseres hatten die 1922 und 1924 zu tun, als die großen Streiks, die Massen- und Generalstreiks abzuwiegeln. Zuletzt haben die doch tatsächlich noch Ende April 1933 zur faschistischen Maikundgebung aufgerufen!” beendete Max seinen kurzen Ausflug in die revisionistische Gewerkschaftsgeschichte.

“Schon gut, Max”, beruhigte Fritz, “das ist hier nicht der Ort, um Fragen gewerkschaftlicher Strategie und Taktik zu diskutieren.”

Nun mischte sich auch Georg ein. Nicht dass er Max widersprechen wolle, dass die Basis der Arbeiterbewegung die Betriebsarbeit sei, wie denn auch, sonst wäre er ja nicht Kommunist: “Aber bedenkt doch Genossen, der Faschismus ist demnächst nur militärisch und dazu noch von außen kommend besiegt. Um ihn im Land selbst auszumerzen, bedarf es eigener Anstrengungen, eines breiten Anti-Nazi-Bündnisses. Wir müssen so etwas ähnliches wie anno neunzehnachtzehn zu Stande bringen, eine Art Räte, Anti-Nazi-Gruppen gründen, zunächst auf Stadtteilebene und zwar sofort. Die sollen dann mit den Besatzern zusammen arbeiten, bevor sich die alten Verwaltungskräfte wieder opportunistisch andienen können. Ich hab´ ´mal kurz zusammengestellt, wie vorzugehen ist.”

Er griff in das Futter seines abgewetzten Sakkos und zog einen nicht einmal eine Handfläche großen, eng beschriebenen Zettel hervor, den ihm letzten Spätherbst Walter Fisch, der mit einigen anderen Kommunisten in die Emigration in der Schweiz geschickt worden war, bei einem konspirativen Treffen in München zugesteckt hatte. Darauf stand:

“1. Gewaltfreie Übergabe des Stadtteils/Stadt an die kämpfenden alliierten Verbände: *Treffen aller bekannten Antifaschisten des Stadtteils/Stadt organisieren, Bildung eines Anti-Nazi-Komitees, Wahl eines Sprechers

*Erstellung einer Liste der bekanntesten, aktiven Nazis; Stellungen der Flakabwehrgeschütze und ähnliche militärische Einrichtungen ausmachen

*Ausgabe der Losung beim Anrücken der alliierten Verbände: weiße Bettlagen aus den Fenstern hängen, z. B. über Flugblätter

2. Erste Schritte zur Herstellung von Ordnung und zum Wiederaufbau:

*Nazis festnehmen und deren Parteibüros besetzen

*Beschlagnahme von gehorteten Nahrungsmitteln und leer stehendem Wohnraum

*Organisation der Nahrungsmittelzu- und Wohnraumverteilung vor allem für Ausgebombte und ausländische Zwangsarbeiter

*Heranziehung der Nazis zu Aufräumarbeiten (Trümmer- und Bombenbeseitigung)

*Wiederherstellung zerstörter öffentlicher Versorgungseinrichtungen (Wasser, Elektrizität, Gas, etc.)

*Entnazifizierung der Verwaltung und Verbände

*Wiedereröffnung der Schulen; Entlassung von NaziLehrern; Schulbücher säubern

*Reorganisierung des Verkehrs und der öffentlichen Verkehrsmittel

3. Bildung eines koordinierten städtischen Anti-Nazi-Komitees im Rathaus, das dem Bürgermeister gleich geordnet ist, Verwaltungsaufgaben anordnet und kontrolliert.”

Nachdem Georg diese Stichworte vorgetragen und erläutert hatte, sagte er zu Rita: ”Du kennst doch sicherlich einige Leute aus dem Stadtteil, die eine solche Anti-Nazi-Gruppe bilden könnten.” Spontan fielen ihr mehre Namen ein: “Ja, da ist zunächst einmal der Trimmel aus der ehemaligen Rechberggruppe, der wohnt gleich ein paar Häuser weiter auf der Maudacher Straße. Dann der unglücklich Dieter aus dem Roten Hof, und der alte Siegel vom Erlenweg. Alles alte linke Sozialdemokraten. Unser Genosse Graf in der Dürkheimerstraße. Ja, nicht zu vergessen der Sohn vom Johann Hoffmann, dem ehemaligen bayerischen Kulturminister unter Eisner, der Hans, der wohnt, wie man erzählt, jetzt auch hier, ich glaub´ in der Forster Straße wie auch der Oskar Vongerichten. Vielleicht noch die katholische Gemeindeschwester, die sich um die Alten, Kranken und Verwirrten kümmert, der Bäcker Rohé, dem sie seinem taubstummen Sohn wegnehmen wollten, und eventuell der Ensinger vom Eiswerk … Ich werd´ mich am besten zuerst an den Trimmel wenden”, erklärte sie, als sich die vier Männer erhoben und verabschiedeten.

So konnten die Amerikaner am 22. März kampflos in die Gartenstadt und in Oggersheim einrücken, während in Mundenheim und Rheingönnheim noch Kämpfe mit Toten und Verletzten stattfanden. Doch schon ein Tag später war die ganze Stadt eingenommen und noch einen Tag später bildete Colonel Ralph Edward Hoover mit 10 Offizieren und 13 Mannschaften die Militärregierung, ernannte am 19. April Hans Hoffmann zum Oberbürgermeister und berief auch tatsächlich am 27. April einen 17 Mitglieder starken Beirat, den die SPD mit sechs Mitglieder und die KPD mit 5, darunter Fritz Bäumler und Max Wenzel, dominierten. Betriebsgruppen wurden aufgebaut und es kam tatsächlich seit Mai zu direkten, ernsten, durchaus aussichtsreichen Unterredungen zwischen KPD- und SPD-Funktionären mit dem Ziel, die Aktionseinheit herzustellen. In der zweiten Maiwoche erteilte die Militärregierung die Erlaubnis zur Gründung einer Gewerkschaft in Ludwigshafen und im Juli zählte der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund Ludwigshafen schon 6 800 Mitglieder, ihr Vorsitzender wurde der Sozialdemokrat Karl Fischer, während Fritz sich als Betriebsratsvorsitzender bei Halberg für die Stärkung der IG-Metall engagierte.

*

Auch Ritas Einschätzung der amerikanischen Besatzungspolitik schien sich zu bestätigen. Mitte April erfuhr Paul Siebel, der wieder in der Anilin arbeitete und den antifaschistischen Vertrauenskörper aufbaute, dass Herr von Schnitzler, der Vorsitzende der IGFarben, der bei Oberursel wie ein Gutsherr residierte, Anfang des Monats vom Stab Murphy der SHAEF in Frankfurt im Verwaltungsgebäude des Konzern, streng verhört, man munkelte sogar verhaftet worden sei. Doch da vermischten sich in den Mitteilungen zwei verschiedene Ereignisse.

Anfang April 1945 fuhr ein olivfarbener, schon etwas ramponierter Jeep der US-Armee mit kleinem Sternenbanner in Heidelberg die Neuenheimer Landstraße entlang und suchte die nächste Abbiegung nach links. In ihm saßen ein langer, drahtiger Einundvierzigjähriger mit intelligenten, wachen Augen im großen Pferdegesicht, ein wesentlich jüngerer, unbekümmert wirkender Leutnant und ein einfacher dunkelhäutiger Soldier der Besatzungsarmee.

Als die zerstörte Karl-Theodor-Brücke in Sicht kam, gab der mit dem Pferdegesicht, der Zivil trug, dem Fahrer ein Zeichen, sich links einzuordnen, um in die Werrgasse einzubiegen. Diese führte einen Hügel hoch, gab nach rechts den Hölderlinweg frei, schwang in einer Kurve zur Hölderlinanlage ein, von wo man zu Fuß den Philosophenweg erreichen konnte. Sie erschloss auch ein kleines exklusives Villengebiet, das die schönste Panoramaansicht der Altstadt mit Karlstor, Heilig Geist Kirche, Marstall, Universität und darüber und dazwischen der alten Schlossruine bot.

Dies wusste der Zivilist. Er kannte die Altstadt und die nähere Umgebung genau, denn er studierte 1923/24 drei Semester an der Universität Heidelberg, die im ersten Viertel des Jahrhunderts als die bedeutendste gesellschaftswissenschaftliche Hochschule Deutschlands galt. Er verkehrte im Kreis um Max Webers Ehefrau Marianne, wo er auch Karl Mannheim, Jakob Marschak, Edgar Salin, Emil Lederer, Arnold Bergsträsser kennen lernte, und auch im Kreis um Heinrich Rickert und Eberhard Gotheim. Während seines Aufenthaltes hatte er auch näheren Kontakt zu kommunistischen und sozialistischen Gruppen.

Heute jedoch galt sein Interesse nicht den ehemals führenden Köpfen von Wissenschaft und Kunst sondern einem der Industrie: Hermann Schmitz, Mitglied des Reichstages von 1935 bis 1945, seit 1935 Wehrwirtschaftsführer und ebenfalls seit 1935 in der Nachfolge von Carl Bosch Vorstandsvorsitzender der IG-Farben, als solcher unter anderem verantwortlich für den Einsatz von Zwangsarbeitern und der Finanzierung und Errichtung des KZ Auschwitz III Morowitz. Er stand wie auch seine Vorstandskollegen Dr. Max Ilgner, Johann August von Knierim, Dr. Karl Krauch und Georg von Schnitzler sowie der Betriebsleiter des Ludwigshafener Werkes, Oppau Carl Wurster auf der vom US-Kriegsministerium erstellten und veröffentlichten Liste von 1 800 Wehrwirtschaftsführern, die von den Alliierten bei der Besetzung Deutschlands sofort in Gewahrsam genommen werden sollten, weil sie, so die Begründung,

“in außergewöhnlicher Weise unter den Nationalsozialisten Vorteile erlangt, sein Aufkommen begrüßt, die Nazis zur Macht verholfen, sie dann unterstützt, an der Eigentumsberaubung und Eroberung gezogener Kriegsbeute teilgehabt oder anderweitig aus der Herrschaft der Nazis für ihre Karriere oder ihr Vermögen Profit“ gezogen hätten.

Vor einer prächtigen Villa in neobarockem Stil stoppte der Jeep. Nachdem das eiserne Gartentor geöffnet worden war, schritten sie, der Zivilist voran, gefolgt von dem Leutnant und dem Soldier energisch über den Kiesweg auf die Treppe und die Haustür zu, in der ein adrettes, aber nicht mehr junges “Hausmädchen” mit weißer Spitzenschürze stand. Hinter ihr erschien sogleich ein älterer Herr in den Sechzigern, immer noch eine stattliche Erscheinung, ein ehemals kräftiger, großer Mann mit grobem Bauerngesicht, langer Nase, sinnlichem Mund, hervorspringendem Kinn mit Doppelkinnansatz und listigen, grauen harten Augen, über die sich dichte, sorgfältig in Form gezupfte, dunkel gefärbte Augenbrauen wölbten. Inzwischen war sein Haar ergraut, die Muskeln erschlafft und den spöttischen Blick hatte er versucht abzulegen, um eine devotes Aussehen zu bieten.

“Meine Herren, ich habe Sie schon erwartet. Bitte, folgen sie mir ins Wohnzimmer. Hier können wir sachlich und in Ruhe alles Nötige besprechen“, meinte er höflich und wies den Weg. Die Männer folgten, während das Hausmädchen den Direktor mit Blicken fragte, ob sie etwas servieren solle, was er in gleicher Weise bejahte.

Vom Wohnzimmer und der davor gelagerten Terrasse bot sich, wie es den Mann in Zivil nicht überraschte, tatsächlich der Postkartenblick Heidelbergs. Doch davon ließ er sich nicht wie seine beiden Begleiter ablenken, sondern bestand sachlich und streng auf Angaben zur Person und Position.

“In meiner Position hatte ich nichts Unrechtes zu verantworten. Ich diente zu allererst meiner Gesellschaft, unserem Volk und förderte die internationale Zusammenarbeit, auch mit den Staaten, wie sich leicht nachweisen lässt.” Er spielte dabei u. a. auf die Verbindungen der IG-Farben mit Standard Oil Company of New Jersey, eine der sechs Rockefeller Ölgesellschaften, an.

“Ja meine Herren, was die Tantiemen als Aufsichtsratsvorsitzenden betrifft, so waren sie hauptsächlich für Kriegerwitwen bestimmt, das ist sogar notariell festgehalten”, widersprach er den Vorhaltungen, er sei Kriegsverbrecher und Kriegsgewinnler.

Als Schmitz bemerkte, dass der junge Leutnant und der naive Soldier sich mehr für die Aussicht auf die alte Universitätsstadt interessierten als für die Auseinandersetzungen zweier Deutscher, glaubte er ein Mauseloch zu entdecken.

“Kommen Sie meine Herren“, wandte er sich an die beiden GIs in texanisch gefärbtem englischen Slang, “im Obergeschoss habe ich eine Sammlung schöner Fotoapparate. Damit können Sie eindrucksvolle Bilder von Old Europe schießen und nach Hause schicken.” Sodann erhob er sich und nickte ihnen auffordernd zu.

Doch er verkannte die Befehlshierarchie. Denn diese Dreimann-Gruppe unterstand der US-Group Control Council, die an die Festlegungen der European Advisory Commission gebunden war und von dem Zivilisten geleitet wurde. Der befahl nun laut: “Feldwebel, nehmen Sie den Mann fest und übergeben Sie ihn dem Befehlshabenden in Heidelberg als Kriegsverbrecher.”

So geschah es erst einmal.

“Aber, ich habe es Ihnen doch schon mehrmals erklärt: Der Maschinist ist nicht da. Seit er zum Volkssturm einberufen wurde, stehen die Maschinen still, seit Wochen ruht die ganze Fabrikation. So einfach, wie sie denken, kann die Anlage nicht angefahren werden. Sie muss zuerst…”, versuchte Gustav Böhl verzweifelt dem uneinsichtigen Graf, der sich als Vertreter des Anti-Nazi-Ausschusses ausgab, um die tiefgefrorenen Lebensmittel, vor allem Fleisch, Fett und Fisch, zu beschlagnahmen, klar zu machen.

Er hatte auch mehrere Mann mitgebracht, die, wie es Gustav schien, das halbe Tiefkühlhaus leer räumten, dazu, um seine Autorität zu heben. einen jungen, dunkelhäutigen untersetzen, muskulösen Soldier. Dessen Interesse galt ausschließlich den zwei kräftigen Kaltblütern, die vor dem Eiswagen, in den halbe Schweine und Fettklumpen verladen wurden, gespannt waren. Von dem ganzen Palaver, das die beiden Krauts veranstalteten, verstand er nichts, denn er war ein einfacher Bauernjunge aus Ohio und ihn interessierten nur die Zugtiere, die auf seiner elterlichen Farm schon lange durch Traktoren ersetzt worden waren. Nur so viel schien klar: der Antifaschist befahl etwas und der andere weigerte sich. Dieser sei angeblich der Fabrikbesitzer – doch so sah er in seinem grauen Kittel mit der dunkelblauen Manchesterhose und dem offenen Hemdkragen ohne Binder gar nicht aus, wenn er ihn mit dem Direktor in Heidelberg verglich.

Tatsächlich Gustav Böhl fühlte sich nie in der Rolle des Direktor richtig wohl. Von seinem Vater hatte er den Betrieb gemeinsam mit seinem Bruder übernommen, die letzten Jahre auch hauptsächlich allein geführt, doch die zu treffenden Entscheidungen waren nicht die eines eigenständigen Fabrikdirektors. Er bekam Vorgaben, wie viel Eis zu produzieren und welche Tiefkühlbestände zu halten seien. Daran hielt er sich. Ansonsten ging er durch die Fabrik, kontrollierte die Arbeiter und plauderte gern mit diesem und jenem.

Seine Eltern waren schon seit Monaten bei der mütterlichen Verwandtschaft in den Niederlanden, wahrscheinlich auch sein Bruder Karl, dessen Villa in Mannheim in Trümmern lag.

Nachdem Willi, sein Maschinist, zum Volkssturm gehen und die Eisproduktion eingestellt werden musste, wäre auch er gerne in den Westen ausgewichen, doch seine Frau bestimmte zu bleiben. Ja, gerade er, dem man einst den Spitznamen Casanovabär gegeben hatte, musste an diese Maudacher Bauernstute geraten. Sie biss sich fest und erklärte jetzt: Die Tiere, die Hühner, Enten, das Pfauenpäarchen und natürlich die Pferde, müssten versorgt, der Nutzgarten hergerichtete und das umliegende Feld bestellt werden, denn es sei Frühjahr. Außerdem könne das große Fabrikgelände doch nicht einfach herrenlos zurück gelassen werden. Die wenigen verbliebenen Arbeiter sollten Ausbesserungsarbeiten am durch den Krieg stark reduzierten Fuhrpark vornehmen, überhaupt das ganze Gelände und die Halle einmal richtig säubern und natürlich auf dem Feld mithelfen. Denn, nachdem die Eisproduktion eingestellt worden war, galt es nur noch das Tiefkühlhaus zu betreiben.

´Die schwere, mehrfach isolierte Kühlhaustür steht jetzt schon fast eine halbe Stunde offen´, bemerkte Gustav mit Unmut und schimpfte: “Jetzt sagen sie doch endlich den Leuten, sie sollen nicht ständig die Tür offen lassen! Die Kühltemperatur nimmt doch ab und zum Schluss vergammeln noch alle Restbestände. – Oder wollt ihr das ganze Kühlhaus leer räumen?”, schob er besorgt hinterher. “Nein, das nicht”, entgegnete Graf, “nur etwa 20 Zentner. Das reicht erst einmal für eine Woche, um die Restbevölkerung der Stadt, einige Tausend, zu versorgen.” “Ja, dann muss doch die Kühltemperatur gehalten werden. Mensch, verstehen sie denn das nicht?” bat Gustav der Verzweiflung nahe. “Wir sind sogleich fertig”, sagte Graf und fügte bestimmt hinzu: “Dann gehen wir in die Maschinenhalle und werfen die Anlage an.”

“Ich hab´s Ihnen doch schon mehrmals gesagt: Mein Maschinist ist nicht da”, wiederholte sich Gustav erneut.” Verärgert fuhr ihn nun Graf an: “Sie wollen mir doch nicht weiß machen, dass sie nur einen Maschinisten beschäftigt haben und sie selbst sich mit den Maschinen nicht auskennen?”

Das war leider so: Wohl hatte einst auch Gustav mit den Maschinen und der ganzen Anlage umgehen können, aber das war Jahre, ach was fast eineinhalb Jahrzehnte her. Seitdem hat sich doch nur der Willi darum gekümmert. Er war nach der Entlassung des alten Paul der einzige Maschinist – der Lohnkosten wegen.

“Dann schaffen sie doch endlich den Mann heran!” fügte Graff im Befehlston hinzu. “Ich weiß doch überhaupt nicht, wo der sich aufhält, nicht einmal, ob der noch lebt”, wendete Gustav hilflos ein.

Nun dieser Einwand stimmte nur halb. Dass Willi noch lebte, glaubte er zu wissen, hatte er doch erfahren, dass dieser sich vom Volkssturm abgesetzt hatte. Aber wo sich Willi heute, ja jetzt aufhielt, davon hatte er nun wirklich keine Ahnung, nicht einmal einen blassen Schimmer.

Nun wurde es dem Antifaschisten Graf aber zuviel. Mehrmals hatte er doch dem Herrn Böhl befohlen, die Eisproduktion wieder aufzunehmen. Statt der Anordnung zu entsprechen, führte dieser nur durchsichtige, windige Einwände an. ´Der will unsere Arbeit, den antifaschistischen Neubeginn, behindern, vielleicht sogar sabotieren. Das kann nur einer von den alten Nazis sein, zudem noch Fabrikbesitzer, Kapitalist. Dem will ich jetzt aber zeigen, wer hier das Sagen hat`, dachte er.

Als die Kühlhaustür wieder verschlossen worden war, die Helfer schon auf dem Wagen saßen und sich Gustav immer noch, wie Graf glaubte, weigerte die Anlage anzufahren, befahl er mit einem bedeutungsvollen Blick auf den Soldier: “Und Sie, Herr Böhl, kommen jetzt mit. In der Zelle können Sie in aller Ruhe überlegen, wo ihr Maschinist ist.”

Das war eine Drohung. Er, Gustav, soll in seinem eigenen Betrieb verhaftet werden. Das war zuviel. Vielleicht gab es einen Ausweg aus der vertrackten Situation. “Also bitte, ich weiß wohl nicht, wo mein Maschinist sich augenblicklich aufhält. Aber ich kann den alten, den pensionierten Maschinisten holen lassen. Damit ist Ihnen doch mehr gedient, als mich zu arretieren”, bot er beflissen an, obwohl er gar nicht wusste, ob der alte Paul, der 1939 mit 67 Jahren in Rente ging, überhaupt noch lebte.

Zufrieden, den scheinbar offensichtlichen Widerstand des Fabrikanten Böhl gebrochen zu haben, willigt Graf ein, drohte aber an, am nächsten Tag wieder hier, genau hier zu erscheinen. Dann wolle er an der Rampe viele frische Eisblöcke sehen.

Gustav hatte nur Zeit gewonnen. Die verbrachte er nachdenklich und brütend in seinem Chefsessel hinter dem klobigen, altdeutschen Schreibtisch. ´Wo, zum Teufel, mag der Willi nur stecken? Die Stadt hatte er bestimmt nicht verlassen, dafür brauchte man ein Permit. Tagsüber stieß man überall auf Kontrollen und nachts galt eine Ausgangssperre …´.

Da erinnerte er sich an einen dieser zweideutigen Sprüche, die Willi so oft gebrauchte: “Der sicherste Platz für den Wurm scheint immer noch das Hühnerhaus zu sein.”

´Was wohl damit wieder gemeint war?´

Plötzlich fiel es Gustav ein: ´Ach ja, die Höhle des Löwen! Der von der Flak geräumte kleine Wehrmachtsbunker gleich hinter der ausgebrannten Fahrzeughalle und neben unserem ehemaligen Fußballplatz.´

Keine zehn Minuten später schlich er die Rampe hoch und rüttelte vergeblich an dem hohen Eisentor. Dann suchte er einen zweiten Eingang. Auf dem Dach, auf dem noch die Abwehrgeschosse fest montiert waren, stieß er auf eine geöffnete Eisenluke, die in eine schummrigen Tiefe führte. Von oben rief er nicht besonders laut, aber deutlich artikuliert hinunter: “Willi! Willi! Wenn Du da drin bist, komm´ raus. Ich bin´s. Dein Freund, der Gustav. Ich brauch dich. Du musst mir helfen. Willi! Willi, hörst Du mich?”

Tatsächlich schwankte eine große, hagere Gestalt in den Lichtkegel des durch die Eisenluke einfallenden Tageslichtes und fragte verdutzt lallend: “Wo kommst du denn her, Gustav? Oh, hab´ ich einen Brummschädel. Und was für´n Durst …”

Das war verständlich, denn vor drei Tagen war Willi, zuvor gewarnt in den letzten Stunden des Krieges gefangen und standrechtlich erschossen zu werden, vom Bunker im Niederfeld hierher geflüchtet, wo er lediglich mehrere von den Soldaten zurückgelassene volle Bier- und Weinflaschen fand und leerte.
© Wilma Ruth Albrecht