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Die urdemokratische Ideenwerkstatt „Die Arche“ – ein Interview mit Christof Wackernagel

Von
Milena Rampoldi, ProMosaik. Die Arche ist ein neualtes Projekt der
Kommunikation, des Austauschs, der egalitären, urdemokratischen Erarbeitung von
Projekten und Ideen für eine neue Welt. Dass die Welt in der wir leben, nicht
lebenswert ist und eine radikale Umwälzung nötig hat, liegt auf der Hand. 





Dass
die Veränderungen nicht von Oben kommen, ist auch einleuchtend. Christof sagte
mir gerade hier: „Wir spielen uns gegenseitig die Bälle zu, jeder bringt ein,
was er beizutragen hat, und zusammen entsteht das Neue.“ Die Arche beginnt mit
einem Interview, mit Fragen und Antworten und erzeugt dann eine Kette weiterer
Gespräche und Interviews. Hier finden Sie den
Projektentwurf, der sich natürlich in einer
dynamischen und anti-dogmatischen Form sieht.

Von Anfang an steht Wasser im Zentrum der Arche, warum
geht ohne Wasser nichts?
Weil ohne Wasser nichts geht. Wasser ist der Urstoff allen Lebens,
Menschen bestehen zu 70% aus Wasser, nach 5 Tagen ohne Trinkwasser ist jeder
Mensch tot. Und das ist das Stichwort: zwischen 60 und 70 Prozent der Menschheit
haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Es gibt keine Statistiken, wieviel
Menschen, vor allem Kinder, täglich unter teilweise grausamen Todesqualen an
vergiftetem Wasser sterben. Das ist der gegenwärtig grösste Skandal einer
Menschheit, die sich »zivilisiert« nennt und die materiellen und finanziellen
Möglichkeiten hätte, dieses tägliche Trauerspiel zu beenden. Die weltweite
Anstrengung, die nötig wäre, allen Menschen bis ins letzte Dorf Trinkwasser zu
verschaffen[1]
wäre geringer als die gegenwärtige weltweite Anstrengung wegen des im Vergleich
dazu nur einen Bruchteil an Opfern auslösenden Coronavirus. Die Weigerung der
reichen Länder den Opfern des mangelnden Trinkwassers zu helfen, gleicht einem
Völkermord aus unterlassener Hilfeleistung.

Warum gleich viele Männer wie Frauen?
Weil es gleich viele Männer und Frauen auf der Welt gibt. Die
ganze Quotendiskussion ist eine einzige Zumutung. Wer heute noch ernsthaft über
»Anteile« von Frauen bei egal was diskutieren will, hat noch nicht verstanden,
dass das Patriarchat, also patriarchales Denken, die zentrale Ursache des
gegenwärtigen Absturzes der Weltgesellschaft ist. Besitzanhäufungsdenken ist
patriarchales Denken, vor allem die materielle Voraussetzung dafür, der
Nonsense des Vererbens ist ur-patriarchales Denken, dessen Folgen dazu führen,
dass 1% der Menschheit fast alles hat und der Grossteil der Menschen fast
nichts. Es geht dabei nicht um die Rückkehr zum Matriarchat, auch wenn dort
gerechtes Besitzdenken herrschte, von dem man viele Elemente aufgreifen kann.
Es geht um ein Drittes, ein neues, aus beidem das Emanzipatorische
übernehmendes Denken und Handeln, das logischerweise nur gleichgewichtig
erarbeitet werden kann. Ob ying yang oder Dialektik, schwarz weiss oder oben
und unten: das Leben besteht aus zwei Seiten, deren lebendige Ausdrucksform
Frauen und Männer sind. Wenn es darum geht, die grundsätzlichen Fragen des
Zusammenlebens der Menschen neu zu überdenken, »was brauchen wir wirklich?«,
»wie können wir die Güter der Welt auf alle 8 Milliarden Menschen dieses Globus
verteilen?« »wie können wir wirkliche demokratische Entscheidungsprozesse auf
allen Ebenen organisieren?« und viele mehr, ist das Gleichgewicht zwischen
Männern und Frauen, die Spannung zwischen ihnen, die davon ausgelöste Energie,
ihre Liebe und ihre Sehnsucht nach einer menschenwürdigen Welt und die
männlich-weiblich unterschiedlichen Ausdrucksformen davon, notwendige
Voraussetzung, wenn alle zusammen zu einem gleichgewichtigen Ergebnis kommen
wollen.


Warum überreligiös und überkulturell?
Alle Religionen, Kulturen, Philosophien haben notwendige,
aber nicht hinreichende Antworten auf die elementaren Fragen des menschlichen
Zusammenlebens gegeben. Sie sind als individuelle Identität-gebende Faktoren unverzichtbar,
ihre Werte die Basis unseres Denkens, aber wenn sie den Anspruch haben, für
alle Menschen gültig zu sein, führen sie zu Krieg und gegenseitiger Vernichtung,
dem Gegenteil ihres eigenen Anspruchs. Wenn es nur einen Gott gibt, hat er alle
Religionen und Kulturen geschaffen, damit jeder Mensch seine individuelle, für
ihn passende Form zu beten und die Werte seiner Religion in seinem Handeln zu
verwirklichen, finden kann. Es geht um den Dialog der Kulturen, deshalb
ist das auch der Name der Karawane im weltweiten Netz; die Verschiedenheit der
Menschen ist der unerschöpfliche grösste Reichtum der Menschheit. Wenn Frauen
und Männer aus allen Kulturen Welt zusammenkommen, können sie nicht nur lernen,
sich gegenseitig zu verstehen, sondern sich unermesslich gegenseitig
bereichern.

Wie geht die Arche der Menschen mit Eurozentrismus um?
Eurozentrismus ist Dummheit, Beschränktheit, Einsamkeit und
Besitzstandwahrung. Am lächerlichsten ist dabei das Überlegenheitsgefühl der
grosszügigen »Helfer«, die, um nur ein Beispiel zu nennen, den »armen
Afrikanern« Geld in die Hand drücken – ich habe die Katastrophe der
»Entwicklungszusammenarbeit«, die in Wirklichkeit ein Entwicklungsverhinderungsdiktat
ist, zehn Jahre lang in Mali hautnah miterlebt -, denn die Empfänger der Gelder
lachen nur über diese Idioten, die meinen, sie seien »überlegen«, weil sie mehr
Geld und bessere Waffen haben: in Wirklichkeit sind sie die Überlegenen, weil
sie beide Kulturen kennen und aus beiden Nutzen ziehen; Entwicklungsgelder sind
die Quelle der Korruption. Die Rede von »gleicher Augenhöhe« verrät nur die
Verachtung derer, die sie im Munde führen, gegenüber denen, mit denen sie
reden: wie Erwachsene, die, pädagogisch korrekt, in die Knie gehen, wenn sie
mit Kindern reden. Die erste Massnahme, daran etwas zu ändern, wäre, sämtliche
Gelder ersatzlos zu streichen, wie Brigitte Erler das bereits 1989 in ihrem
Buch »tödliche Hilfe« gefordert hat und wie es Dambisa Moyo in ihrem Buch »dead
aid« 2014 gefordert hat, und wie es afrikanische Intellektuelle und Ökonomen
schon lange fordern. Afrika, um nur dieses krassteste Beispiel, zu nennen,
braucht keine Hilfe. Wie man sich gegenüber Eurozentrismus am besten verhält, führte
der Präsident von Burkina Faso, Thomas Sankara vor: er lachte nicht nur die
Kreditgeber, sondern ganz konkret den französischen Präsidenten Francois
Mitterand aus – was er natürlich nicht überlebte. Eurozentrismus ist eine
Haltung, der man nur ein anderes Bewusstsein entgegensetzen kann. Dieses
Bewusstsein erwächst aus der Erfahrung des Zusammenlebens mit den Menschen,
denen man sich überlegen fühlt. Diese Erfahrung kann Scham erzeugen; lässt man diese
zu, erntet man Glück. Das steht hinter dem Gedanken der Karawane. Jeder von uns
trägt Reste dieses falschen Bewusstseins in sich, selbst wenn er noch so guten
Willens ist. Auch die Opfer des Eurozentrismus, die die Täter zu Recht
verachten. Wenn Opfer und Täter unter existentiellen Bedingungen lange Zeit
zusammen leben und sich austauschen, können sie diese Erfahrung machen. Einen
wesentlichen Anteil an der Friedenskarawane tragen Künstler, die auf 5
Festivals diese Erfahrungen in alle Welt verbreiten. Da eine Haltung etwas ist,
das aus dem Unbewussten gespeist wird, kann sie nicht allein mit
intellektuellen Erkenntnissen geändert werden, sondern muss auch auf der Ebene
des Unbewussten herausgefordert werden. Dies vermag allein die Kunst.

Warum soll die Arche der Menschen als Karawane
realisiert werden und nicht auf einem Schiff?
Ein Schiff braucht einen Kapitän, auf einer Karawane können
die Menschen die Gestaltung des gemeinsamen Weges gemeinsam bestimmen, und
darum geht es. Tiere brauchen ein Alphatier, das kann, wie man seit Konrad
Lorenz weiss, auch ein Mensch sein, und das war Noah. Der Unterschied zwischen
Tieren und Menschen ist, dass Menschen keine Alphatiere mehr brauchen, erst
dann werden sie Menschen sein. Dass immer noch Alphatiere die Geschicke der
Menschen bestimmen, ist der Grund dafür, dass die Menschheit in den Abgrund
rast. Deshalb befinden wir uns noch in der Vorgeschichte. Die Geschichte der
Menschen wird erst beginnen, wenn sie sich von diesen tierischen
Ursprüngen gelöst haben wird. Die Geschichte der Menschheit wird erst beginnen,
wenn sie die in Jahrtausenden unter unsäglichen Anstrengungen gemachten Erfindungen
bis hin zur Intelligenten Technologie nicht als Machtinstrument benutzt,
sondern dazu, wofür sie da sind: sich von der naturnotwendigen Arbeit so weit
es geht zu befreien und jedem der 8 Milliarden Individuen auf diesem Planten
grösstmögliche Freiheit der Entfaltung seiner Persönlichkeit und
Verschiedenheit von allen  anderen zu
ermöglichen: die Verschiedenheit der Menschen ist ihr grösster Reichtum, der
Austausch und die gegenseitige Befruchtung die Möglichkeit zu für uns heute
noch unvorstellbarer Diversifiziertheit und Blüte und Entfaltung derselben. Es
geht nicht um die sinnlose Frage, ob die Menschen als solche gut oder schlecht sind,
sondern darum, wie sie ihr Zusammenleben organisieren. Es ist historisch
gesehen allerhöchste Zeit, dass sie endlich damit beginnen, die Möglichkeit dieses
Zusammenlebens zu realisieren. Die Karawane als Arche der Menschheit ist ein
erster Schritt dahin.

Welche sind die Grundlagen für diese neue Welt?
Genau die sollen auf der Karawane besprochen werden. Genau
die kann eben niemand, keine Ideologie, keine Religion, schon gar kein Guru
oder Philosoph, mag er noch so weise sein, alleine oder in einer kleinen Gruppe
vorgeben. Genau dafür sollen vor dem Beginn der Karawane Vorschläge eingereicht
werden, die dort dann ausführlich diskutiert werden. Von mir gibt es zum
Beispiel den Vorschlag der Rückbesinnung auf die Ursprünge der griechischen
Demokratie[2]. Seit
Anfang des letzten Jahrhunderts gibt es die Idee der rätedemokratischen
Organisation der Menschen, von der die Philosophin Hannah Arendt sagt, sie sei
die natürliche Form der menschlichen Organisation, die sich sozusagen
automatisch forme, sobald Macht verschwunden sei[3]. Das
bekannteste Beispiel ist Kronstadt – die Zerstörung dieser Entwicklung durch
die Sowjets das Ende der Revolution und ihr grösstes Verbrechen. Die
Selbstorganisation der Menschen während des Aufstands im Warschauer Ghetto bis
hin zu selbst unter diesen Umständen fröhlicher kultureller Blüte, ist ein
weiteres Beispiel. Es gibt auch anarchistische Vorstellungen und vieles mehr:
all dies wird zusammengetragen und über lange Zeit diskutiert. Dabei ist für
den Dialog der Kulturen die Kultur des Dialogs notwendig. Das heisst: nicht den
anderen von der eigenen Idee überzeugen wollen, sondern die eigene Vorstellung anbieten,
die andere anhören und mit der ehrlichen Bereitschaft, an der eigenen gegebenenfalls
etwas zu ändern, darüber nachdenken. Das ist das Schwerste, was es gibt. Ich
habe diese Kultur des Dialogs in Mali 10 Jahre miterlebt und liebe deshalb die
Menschen dort.[4]
Sie sind mein Vorbild und diese ihre verinnerlichte, seit Jahrtausenden
gewachsene Kultur gibt mir die Bestätigung, dass alle Menschen auf dieser Welt dazu
in der Lage sind.

Wie kann ich mich direkt und aktiv beteiligen?
Fragen stellen und Finanzierung fördern.
Die Arbeit der Menschen auf der Archenkarawane besteht darin, die Fragen zu
beantworten, die im Vorfeld zusammengestellt werden. Den Fragenkatalog weiter
zu entwickeln ist die dringendste Aufgabe, die dank der intelligenten Technologie
ab sofort und weltweit in Angriff genommen werden kann[5]. Mit der
Entwicklung dieses Fragenkatalogs steht und fällt das ganze Projekt. Hier kann
ab sofort die unabhängige Zusammenarbeit von Menschen aus aller Welt beginnen. Hier
kann ohne irgendwelche weiteren Anstrengungen der Beweis geführt werden, dass
herrschaftsfreie Zusammenarbeit aus Menschen aus aller Welt möglich ist. Dazu
gehört auch die Übersetzung der Webseite in möglichst viele Sprachen, was bis
jetzt nur durch automatische Programme realisiert wurde. Verkehrssprache der
Karawane soll englisch sein, aber man kann das nicht von allen erwarten, deshalb
sind Übersetzer elementarer Bestandteil des Ganzen. Dieses Interview wurde
realisiert, weil Menschen aus Istanbul, Tunis, München und Bamako
zusammengearbeitet haben – der Rest ist herzlich eingeladen, weiter zu machen.
Die Finanzierung in Höhe von etwa 250 Millionen Euro sind für die großen
Industrieunternehmen dieser Welt Peanuts. Die Initiative gibt es ja schon seit Anfang
des Jahrtausends. Der deutsche Finanz- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement
wollte mit mir diese Summe von 10 Industrieunternehmen zusammentragen, was von
dem damaligen Außenminister Joschka Fischer verhindert wurde. Es bleibt dabei,
dass diese Weltanstrengung nicht von einer Person oder einem Unternehmen,
sondern von mindestens zehn finanziert werden muss. Wolfgang Clement war mit
mir der Meinung, dass gerade Deutschland mit der globalen Friedenskarawane die
Chance bekäme, einen Teil seiner historischen Schuld abzutragen. Jeder, der die
Möglichkeit dazu hat, diese Gedanken an Entscheidungsträger heranzutragen, kann
dadurch zur Realisierung beitragen.

Warum geht es nicht anders als über eine partizipative
Initiative von unten?
Weil die auf der Karawane entwickelten und realisierten Strukturen
der Organisation des Zusammenlebens der Arche das Modell der Strukturen des
Zusammenlebens der Menschen auf der Welt sein sollen. Jede von oben kommende
Vorgabe würde zu einer Reproduktion genau der Machtstrukturen führen, die es
gerade abzuschaffen gibt. Es geht um nichts weniger als die Beendigung der Herrschaft
von Menschen über Menschen. Ich kann dieses Gerede von »der Mensch ist nun mal schlecht«
etc. nicht mehr hören. Es bleibt der Mehrzahl der Menschen unter den gegebenen
Bedingungen meist nichts anderes übrig als genauso schlecht zu sein, wie die
Alphatiere, die ihnen dieses vorführen. Der Mensch lernt durch Nachahmung, also
muss ihm ein anderes Modell zum Nachahmen angeboten werden; die meisten Menschen
sind angesichts der überwältigenden Macht der in der Tat in der Mehrzahl
schlechten menschlichen Macht-Alphatiere resigniert. Die auf der Karawane
praktizierte Kultur des Dialogs, ihre Realisierung ganz unten im Kleinen, die
Bestätigung, dass diese Kultur des Dialogs tatsächlich möglich ist, obwohl sie
das Schwierigste ist, das es überhaupt gibt, wird dem Rest der Welt auf den
fünf Festivals, die während der Karawane stattfinden und in alle Welt
ausgestrahlt werden, präsentiert und sie damit zur Nachahmung aufgefordert. Die
Umdrehung der gegenwärtigen Strukturen von oben nach unten, das Beispiel und
Vorbild der realisierten Möglichkeit eines Zusammenlebens von unten nach oben
ist Weg und Ziel der Karawane.

Warum ist die Trinkwasserinitiative der Auftakt zur
Arche?
Weil es ein Verbrechen wäre, politisch wie spirituell nicht
vertretbar, über die Grundbedürfnisse der Menschen und ihre Befriedigung
nachzudenken, solange unzählige Menschen, vor allem Kinder, qualvoll sterben,
weil der Rest der Menschheit ihnen die Befriedigung des allerersten
Grundbedürfnisses jeglichen Lebens, Trinkwasser, nicht ermöglicht, obwohl er es
könnte.