General

Corona: «Die Katastrophenszenarien waren offensichtlich falsch»

Von
Urs Scherrer, Infosperber,
16. Mai 2020 –
Medizinprofessor Urs
Scherrer bezeichnet die Corona-«Task Force» als Deckmäntelchen für die
Entscheidungsunfähigkeit der Politik.
Die
abgeschottete und stillgelegte Stadt Wuhan, das Video über den dortigen Bau
eines Notspitals innerhalb einer Woche, die Bilder aneinandergereihter Särge in
Bergamo oder Berichte aus New York: Sie haben tiefe emotionale Spuren
hinterlassen. Deshalb ist es verständlich, dass nicht nur die notwendigen und
zu spät erlassenen Verbote von Massenveranstaltungen bei uns auf breite
Unterstützung stossen, sondern selbst die Schul- und Geschäftsschliessungen
sowie Ausgehbeschränkungen. Noch weiss niemand sicher, ob dieser verordnete
Stillstand eines Teils der Wirtschaft mit allen ihren finanziellen und sozialen
Folgen sowie die Abermilliarden an neuen Schulden verhältnismässig waren. Im
Folgenden stellen wir einen Gastbeitrag des Medizinprofessors Urs Scherrer* zur
Diskussion.
Notizen
eines alternden Mediziners zur Corona-Krise
Ich
liebe dieses Land, dem ich viel zu verdanken habe, zahlte pünktlich Steuern,
hatte Vertrauen in die Institutionen. Doch inzwischen frage ich mich, ob dieses
Vertrauen berechtigt war. Da tritt ein neues Virus auf, mässig gefährlich,
keine Pest. Experten malen den Teufel an die Wand, die ratlose Regierung
verfällt in Panik und erklärt den Notstand. Das Volk kuscht, die Freiheit ist
bloss noch eine Erinnerung, das Land steht still, das Volksvermögen wird
hochwassernd die Aare hinuntergespült. Der Staat verfällt in einen inkohärenten
Aktivismus.
So
mutiere ich auf Geheiss der Regierung von einem einigermassen intakten
Forschungsgruppenleiter zu einem vulnerablen, potenziell einzusperrenden Greis,
der mittels milliardenschwerer Massnahmen geschützt werden soll. Nur: Will ich
das? Eine intensivmedizinische Behandlung endet in meinem Alter nach
wochenlangem Siechtum in mehr als der Hälfte der Fälle letal – und bei den
wenigen Überlebenden ist sie mit Folgen wie Demenz oder therapieresistenten
Depressionen verbunden.
Wundersame
Macht der Bilder
Vor
einem Jahr um diese Zeit pflegten und begleiteten wir meine todkranke Frau bis
zu ihrem Ableben zu Hause. Während dieser schweren Zeit war jeder der Besuche
der Enkelkinder ein heiss ersehntes Fest für meine Frau, ein lebensprägendes
Ereignis für die Enkel. Die Abdankung unter Anteilnahme der ganzen
Dorfbevölkerung ein zentrales Element für den Beginn der Trauerarbeit. Nicht
auszudenken heute. Die Toten werden einsam verscharrt, die Kirchen üben sich in
nobler Zurückhaltung.
Das
Bild des vor Napalmbomben fliehenden Mädchens führte zur Wende im Vietnamkrieg.
Die Bilder der Särge abtransportierenden italienischen Militärlastwagen führten
zur plötzlichen und widerspruchslosen Akzeptanz von Notrechtmassnahmen
europaweit. Welches Bild braucht es für eine Wende, die rasche und vollständige
Rücknahme der Massnahmen?
Lemmingen
gleich verordnen Politiker die überall gleichen Massnahmen. Grossbritannien
knickt nach anfänglichem Widerstand ein, bleibt noch Schweden. Sonst herrscht
überall der Primat der Gesundheit. Wo bleibt das Land, das, «whatever it
takes», eine rasche, breitflächige Durchseuchung der Bevölkerung knapp
unterhalb der Belastungsgrenze des Gesundheitssystems anstrebt? Als mögliche
Belohnung winken die rasche Wiedergewinnung weltweiter Bewegungsfreiheit,
geringere Notfallmassnahmen-induzierte Kollateralschäden, weniger
schulschliessungsbedingte Ungleichheit und mehr.
Was
macht der Bundesrat? Er strebt neuerdings eine Zahl neuer Fälle unter 100 pro
Tag an. Sein Argument: Nur so sei konsequentes Nachverfolgen weiterer
Ansteckungen logistisch möglich. Ist es das uneingestandene Ziel der ­Regierung,
unter horrenden Qualen und Kosten für das Volk einigen App-­Entwicklern Studien
zu ermöglichen? Diese Strategie wird die Pandemie verlangsamen, nicht stoppen.
Gibt es eine elendere Perspektive, als während der nächsten achtzehn Monate
maskenbewehrt, «socially distanced» und von der eigenen Regierung kujoniert
dahinzuvegetieren?
In
den Task-Forces wimmelt es von Epidemiologen, den Apparatschiks der modernen
Medizin, die Daten sammeln, wenn die Schlacht längst vorbei ist. Nun mutieren
sie zu Propheten. Die Datenlage ist unsicher und widersprüchlich. Kein Problem,
das Computerprogramm berechnet ja den Pandemieverlauf auf die Kommastelle
genau. Die zu treffenden Schutzmassnahmen sind alternativlos und kristallklar,
werden auf allen Kanälen mit Nachdruck propagiert.
Die
Spitäler stehen halb leer, die Intensivstationen sind nicht überlastet, die
gemalten Katastrophenszenarien waren offensichtlich falsch. Verantwortliche
Experten und Regierung schweigen vornehm dazu, malen stattdessen das nächste
Katastrophenszenarium einer zweiten Pandemiewelle an die Wand. Gibt es
stichhaltige Gründe, den neuen Szenarien mehr zu vertrauen?
Handeln
in Ungewissheit
Der
Kampf gegen die neue Pandemie, deren Verlauf niemand kennt, erfordert
Entscheide auf unsicherer Grundlage. Risikoaversion ist keine wünschenswerte
Eigenschaft für Politiker in Krisenzeiten. Task-Forces dienen bestenfalls als
Deckmäntelchen für die eigene Entscheidungsunfähigkeit. Zahlen wir den Preis
für das zunehmende Fehlen mutiger und unabhängig denkender Persönlichkeiten in
Regierung und Parlament?
Ich
trotze den Notmassnahmen, verlasse mein quarantänekonformes Domizil, mache mich
unmaskiert auf den Weg zur Bootshaab am See. Maskentragende Zombies, so weit
das Auge reicht, ausweichend, abweisend, bonjour tristesse!
Wir
sind sterblich. Weder die Notmassnahmen noch die Apparatschiks verhelfen uns
zum ewigen Leben, die Epidemie wird weitere Opfer fordern. Der Verlauf der Epidemie
in unserem Land ist gutartig. Aber steht die durch die Notmassnahmen
möglicherweise erreichte Verlangsamung der Ansteckungen nicht in groteskem
Missverhältnis zu den induzierten Schäden medizinischer, sozialer und
gesellschaftlicher Natur? Und, übelstes aller Übel, die Massnahmen verlängern
die Dauer der Pandemie.
Eine
Alternative: Schweizerinnen und Schweizer, werft eure Handys zu den
Munitionskisten in die Seen, lebt, liebt, lächelt, lernt. Mir bleibt die Gnade
der frühen Geburt.