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Wir brauchen keinen Führer – Schafft die Bevölkerung den Weg hin zum Faschismus gang alleine oder dreht sich das Ganze in die virtuell unsichtbare Autonomisierung von Unten?

Von Milena Rampoldi,
ProMosaik, 22. April 2020.
Als Heine 1844 „Deutschland. Ein
Wintermärchen
“ verfasste, lag er in allem, was er sagte
völlig richtig. Damals wie heute in unserem COVID-19-Wintermärchen, das
vielleicht keines mehr ist, weil sich die Autonomisierung von Unten immer mehr
als das Modell der Zukunft „zeigt“, obwohl sie virtuell noch nicht oder nicht
mehr sichtbar genug ist, um aufzufallen und den Ton anzugeben, um die Welt nach
dem CORONAVIRUS zu antizipieren.

Heinrich Heine befand sich, als er sein kritisch-satirisches
Werk verfasste, im französischen Exil, war persönlich Opfer der Zensur und litt
als Mensch und als Intellektueller unter der mangelnden Freiheit, dem
Militarismus und wachsenden Nationalismus in seiner alten Heimat. Das Bild
Deutschlands, das er in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ entwarf, war nicht das
Bild, das ein Bürger entwirft, sondern das Bild aus dem Blickwinkel eines
Reisenden. Er erhoffte sich ein freieres, liberaleres Deutschland

Ich fühle mich als deutschsprachige Auswanderin heute
vielleicht genau wie er. Der Winter im Titel seines Werkes steht für mich für
das Kalte, das Unbewegliche, das Verschlafene, das Unpolitische. Und diese
Situation sehe ich aus der Ferne in der deutschen Coronakrise-Medienlandschaft
immer noch sehr stark.
Menschen erstarren infolge einer Virushysterie, die schon
lange das politische Denken vieler vollkommen in den Winterschlaf versetzt hat.
Aber es kommen schon die ersten Frühlingsgefühle auf. Die Utopie ist nicht
vollkommen erstarrt. Menschen wehren sich gegen die Corona-Diktatur und gehen
sogar auf die Straße. Gerichte lassen Demos zu. Die alternativen Medien werden
immer ausdrucksstarker und werden auch immer mehr „besucht“.

Aber es sind noch zu wenige. Oder ist dieser positive Trend
nicht mehr sichtbar, weil er sich unsichtbar macht? Ziehen sich Menschen aus
der virtuellen Welt zurück und bauen ihre autonomisierte Post-COVID-19-Zone in
der realen Welt auf im Hier und Jetzt auf?
Denn aus der Entfernung und an der Oberfläche scheint es
tatsächlich so, als würden die meisten den Auftrag der Nation erfüllen, sich in
einem eingesperrten Herdenmenschen zu verwandeln, der nichts mehr hinterfragt
und zu keinem Widerstand mehr fähig ist. Und diese Menschen im Winterschlaf,
ohne Reaktionskraft, erinnern mich an den Sklaven, von dem Heinrich Heine
spricht. Es ist aber ein ganz besonderer Sklave, denn er braucht gar keinen
Herrn, um sich zu versklaven, sondern versklavt sich ganz allein und
verinnerlicht seine Existenz als Unterworfener. Heine fasst diesen Gedanken in
seinem „Wintermärchen“ in folgende Worte:


Die Worte Heines kurz vor der Europäischen Revolution von 1848
erinnern mich an Étienne de La Boétie und sein Essai „Discours de la servitude
volontaire“ aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, in dem er sich die folgende
Frage stellt, die wir uns heute erneut vor Augen führen sollten:
 „Wie kommt er zur Macht über euch, wenn nicht durch euch
selbst? Wie würde er wagen, euch zu verfolgen, wenn ihr nicht einverstanden
wärt?“
Sigmund Freud spricht in seiner materialistisch orientierten
Theorie der Psychoanalyse von der Tendenz des Menschen, zu einer Masse gehören
und andere nachahmen zu wollen. Das mag alles sein, aber ich fürchte, wir sind
nicht mehr „eine folgsame Herde, die nie ohne Herrn zu leben vermag“, sondern
schon einen Schritt weiter hin zum self-made Faschisten. Wir brauchen gar
keinen Führer mehr, wir werden selbst zu Faschisten. Wir verinnerlichen den
Faschismus, ohne es nicht einmal zu merken und entwickeln uns Schritt für
Schritt zu einem virtualisierten, self-confined Faschisten.

Wir diskriminieren ja schon Menschen, die ohne Maske auf die
Straße gehen, halten alle für gemeingefährlich, die sich gegen die
Ausgangssperre zur Wehr setzen und werfen ihnen vor, sie würden diese als
faschistische Methode politisieren.
Aber ist das wirklich so oder ist dies nur das virtuelle Bild
unserer Gesellschaft, gegen die Sperren verhängt wurden? Gibt es eine
unsichtbare Autonomisierung jenseits und außerhalb dieser virtuellen Welt, die
bis auf die Stimmen der alternativen Medien so ziemlich nach einer braunen
Suppe riecht?

Die Frage, die ich mir während dieser Coronakrise als
„Antifaschistin“ stelle, ist diese: Wie verwandeln sich Menschen in ängstliche
Faschisten? Ich spreche hier nicht von Rassisten, Neonazis, Demokratiefeinden,
sondern von ganz normalen „Bürgern“, die humanistische, christliche, ethische
Ideale jeglicher Art kennen und diese auch in ihrer Erziehung verinnerlicht
haben.

Oder wie werden Menschen autonom, damit sich die Welt nach dem
COVID-19 wirklich verwandelt und das kollabierte neoliberalistische System
endlich überwindet?
Meine Meinung ist, dass man zum Faschisten wird, wenn man das
für Demokratie hält, was gerade in den Mainstream-Medien abläuft. Man sucht
nach einem Sündenbock für den Kollaps der Wirtschaft. Man setzt das Feindbild China
manipulatorisch ein, um die Unfähigkeit der Selbsterhaltung des
Finanzkapitalismus zu vertuschen.
Wenn man heute noch der Meinung ist, man wäre in einer
Demokratie, dann hat man die Welt der demokratischen Denk- und Handlungsweise
schon lange verlassen. Und wer an der Demokratie zweifelt, der braucht keinen
Führer. Der macht sich selbst zum Faschisten. Oder macht er sich nicht zum
Faschisten und erwachen wir bald in einer neuen autonomisierten Weltordnung
nach dem Ende der Pandemie?

Es eröffnen sich meiner Meinung nach hier nur diese beiden
Szenarien.
Szenario 1: Das kapitalistische Finanz- und Wirtschaftssystem
kollabiert. Das Virus wird als Sündenbock genutzt. Aber wir sind brave Bürger.
Wir bleiben zu Hause. Wir fahren gemeinsam mit der virtualisierten Herde in der
vollkommenen Segregation die Kultur der Demokratie, unsere Wirtschaft, unsere
Kultur und unsere Gemeinschaft, das Gefühl des Sozialen und das politische
reaktionäre Denken an die Wand. An die Wand eines Killer-Virus, das die Welt
der Medizin schon lange verlassen und Wirtschaft und Politik weltweit bestimmt.

Dieses Szenario ist genau das des Buches der
italienischen Autorin Michela Murgia mit dem Titel „
Faschist werden: Eine Anleitung“, ein Handbuch, das uns satirisch aufzeigt, wie aus uns
ein Faschist wird. Aber ganz wichtig, oder noch wichtiger, ist der Spruch des
Zeichners Mauro Biani auf dem Cover der Originalausgabe: „derjenige ist
Faschist, der sich so verhält“.
Somit ist es nicht wichtig, was
einer sagt oder laut ausposaunt oder in die sozialen Medien stellt, sondern wie
er handelt. Die Autorin spricht von der faschistischen Seite als der
„schwärzesten“ Seite unseres Selbst.

Was ich glaube: Ja, es gibt ein Virus, vor dem wir uns
schützen sollen, in dem wir als Gesellschaft achtsam handeln und in dem wir die
Forschung vorantreiben, um dieses Virus zu überwinden.
Ja, das Virus tötet. Aber der Faschist in uns ist noch
tödlicher.
Das Virus wird eines Tages wieder verschwinden, aber der
Faschismus wird die Zukunft unserer Kinder sein, wenn wir nicht jetzt sagen:
NEIN, ich will das nicht. NEIN, es geht auch anders.
Hier wird im Namen eines Virus ein Kampf gegen die Demokratie
ausgetragen. Faschismus wird als der einfachere Weg gewählt, denn Demokratie
ist mit Engagement, mit Arbeit, mit Bemühung verbunden, Faschismus ist einfach:
Hirn ausschalten und durch!
Um faschistisch zu werden, brauchen wir gar keinen Führer
mehr… das ist der selbstgemachte Sklave von Heinrich Heine. Nicht mehr der
Massenmensch von Sigmund Freud, der noch den Führer brauchte.


Szenario 2: Das kapitalistische Finanz- und Wirtschaftssystem
kollabiert. Das Virus wird als Sündenbock genutzt. Aber wir sind die Bürger des
neuen Widerstandes in der realen, materiellen Welt. Wir bleiben zu Hause.
Lehnen uns aber gegen das System auf. Wir erheben unsere Stimme gegen die
Ausgangssperren. Wir organisieren uns von unten. Wir üben die Demokratie, wir
schließen uns zusammen. Wir arbeiten und wir experimentieren neue soziale und
wirtschaftliche Formen der Selbstverwaltung.
Ich freue mich auf dieses Szenario 2, das aber aktuell in der
virtuellen Welt der Virushysterie noch ziemlich unsichtbar erscheint. Aber wir
haben den Winter hinter uns, und es ist Frühling.