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„Nie war die Verachtung der politischen Klasse gegenüber denen, derer Diener sie sein sollte, grösser und deutlicher zu sehen als jetzt”: Christof Wackernagel im Gespräch

von Milena Rampoldi und Fausto Giudice, ProMosaik, 25. April 2020. Ein Interview mit dem Schauspieler und Schriftsteller Christof Wackernagel zur aktuellen Lage in Deutschland, der bleichen Mutter.
Wie erlebst du diese Coronakrise? Wie siehst du die Lage in Deutschland unter den Menschen und was ändert sich positiv oder negativ?

Als schleichende Machtergreifung. »Divide et impera« wussten schon die Römer – insofern ist »social distance« nur alter Wein in neuen Schläuchen. Und wenn das »zoon politicon«, dieses soziale Wesen Mensch trotzdem unbedingt kommunizieren will, obwohl kein Aktenbesitzer daran verdienen kann, soll dieses Wesen das wenigstens elektronisch tun, damit man es besser aussaugen und beherrschen kann, insofern gibt es also doch eine neue Qualität, zumindest was die Repressionstechniken und ihre Verschleierung betrifft. Totale Herrschaft als Schutzmaßnahme der Menschen vor sich selbst, weil sie so »unverantwortlich« sind; man könnte das auch totale Entmündigung der gesamten Bevölkerung nennen.
Dabei ist es in Wirklichkeit genau umgekehrt: einmal mehr sind es die, auf deren Rücken sowieso schon die ganze produktive Last liegt, die jetzt dazu noch solidarisch sind, teilen und helfen. Es ist diese »unverantwortliche« Bevölkerung, die erkennt, dass sie sehr viel von dem ganzen Überfluss, in dem sie leben zu müssen glaubte, in Wirklichkeit nicht braucht. Es wird mehr denn je deutlich, dass der Mensch tatsächlich ein »soziales Wesen« ist, das voneinander sich gegenseitig stärkend profitieren kann, sich miteinander entwickeln kann, also eine aufeinander aufbauende Gesellschaft sehr wohl gestalten könnte, wenn sie nicht von der Politik menschlicher Alphatiere daran gehindert würden. Es ist diese zur »Herde« erklärte Bevölkerung, die jetzt beweist, dass sie sich selbst organisieren könnte, ohne Börsen, ohne Ölkriege, ohne Autowahn – und dafür wird sie von denjenigen als Helden gefeiert, die alles dafür tun, diese Selbstbestimmung zu verhindern. Es scheint fast so, dass im Maß, in dem die Realisierbarkeit einer menschenwürdigen Gesellschaft näherkommt – mental wie materiell – die Kräfte zu ihrer Verhinderung wachsen. Die Definitionen der Begriffe von »Besitz« und »Eigentum« müssen auf die persönlichen Bedürfnisse beschränkt werden. Erde, Wasser, Feuer und Luft gehören allen Menschen.

Wie schätzt du den Kurs der offiziellen deutschen Politik ein? Wie reagiert oder nicht reagiert die Gesellschaft darauf?

Nie war die Verachtung der politischen Klasse gegenüber denen, derer Diener sie sein sollte, grösser und deutlicher zu sehen als jetzt. Als Markus Söder den Notstand ausrief, erinnerte er daran, dass er schließlich zuvor der Bevölkerung »einen Schuss vor den Bug« gegeben habe, diese aber das Zeichen nicht verstanden habe, weswegen »wir« – seine Augen verengten sich, seine Lippen wurden straff, seine Stimme sank und wurde energischer – »das öffentliche Leben herunterfahren müssen«; als ich das sah und hörte, lief es mir kalt den Rücken hinunter: totalitäre Sprache in Reinform. Die Bevölkerung als Knetmasse. Es gibt keinen Machtmissbrauch – Macht ist selbst Missbrauch, selten wurde das deutlicher als jetzt. Der Bayrische Ministerpräsident regelt, ob und wie man auf einer Parkbank sitzen kann und wird damit der beliebteste Politiker Deutschlands und zukünftige Bundeskanzler. Dabei sind Zahlungen, die jetzt großzügig an viele verteilt werden, Bestechungsgelder, um keinen Widerspruch, gar Widerstand aufkommen zu lassen und Zeit für die Neustrukturierung zu bekommen: in drei Monaten wird der neue Zustand Normalität; wenn der alte Zustand nicht mehr wiederkehrt, was jetzt gebetsmühlenartig ständig den Menschen eingetrichtert wird, sucht man einen vorübergehenden Job – und bei dem wird es dann eben bleiben.
Das drückt immerhin aus, dass das Bewusstsein der ungleichen Verteilung der Güter der Welt grösser geworden ist, aber solange die patriarchalischen Besitzverhältnisse nicht begraben werden, haben menschenwürdige Bewegungen keine Chance.

Harm Bengen
Glaubst du, dass diese Krise den Kapitalismus noch verschärfen wird oder dass es zu einer Befreiung von der Laste der Kapitalismus kommen wird?

Ich glaube nicht an Verschwörungstheorien, aber Gelegenheit macht Diebe: der Virus kam den Herrschenden wie gerufen. Gerade fangen Menschen an, Lebensmittel in mitgebrachten Behältern zu kaufen, um Plastik zu reduzieren – schon geht das »aus hygienischen Gründen« nicht mehr, und die Aktionäre der Plastikindustrie müssen sich nicht um ihre Gewinnspanne grämen. Schon lange soll Bargeld abgeschafft werden, aber das niedere Volk mag nicht mitmachen – endlich haben die Geldaristokraten einen scheinbar objektiven Grund. Die Tante-Emma-Läden, überhaupt der ganze Mittelstand, ein Dorn im Auge der Unilevernestlé und sonstigen Großkonzern Börsenauguren: welch Chance diese Gewinnreduzierer endlich los zu werden. Auch dieser Teufelskreis ist nicht neu, über die Auswirkungen der vielzitierten Pandemie von 1918 auf die Filmindustrie schreibt der New Yorker:
»Viele kleinere Firmen gaben auf, und die daraus resultierende Marktbereinigung führte zu einer Konsolidierung, die die Großen größer machte und genau jene Studios entstehen ließ, die zusammen die Produktion, den Vertrieb und die Kinos in einer Hand beherrschten; die Grippe, kombiniert mit dem Ende des Krieges, ließ das Mega-Hollywood entstehen, das heute wieder dupliziert wird.«[1]
Dieses Modell wird gerade im Weltmaßstab für alle Bereiche ausgebaut, nicht nur, was die Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten betrifft.
Der Begriff »Kapitalismus« ist eine Verharmlosung, es handelt sich meines Erachtens um eine neue Form von Diktatur, die, wie Huxley schrieb, »den Anschein einer Demokratie« hat und einem »Gefängnis gleicht, in dem die Gefangenen nicht einmal davon träumen, auszubrechen«. Ihr Name ist die Diktatur des Profits, verinnerlicht in den Köpfen der Menschen[2]. Solange die mörderischen globalen Besitzverhältnisse nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, wird sich daran nichts ändern.

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Jan Tomaschoff
Wie denkst du, man kann nun ansetzen, um ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen?

Ein bedingungsloses Einkommen, das nicht weltweit verwirklicht wird, wäre nur ein weiterer Etappensieg im Feldzug der Reichen gegen die Armen. Es gibt nichts Verlogeneres als den Spruch »global denken, lokal handeln«: jeder Bio-Tofu hier kostet woanders Menschenleben. Global denken und global handeln muss es heißen. Ehrlich gestanden interessieren mich die Probleme wohlgenährter Obdachloser in den reichen Metropolen nicht, denn für die 10 Euro, die sie sich bei der Bahnhofsmission abholen können, müssen woanders Menschen ihr Leben lassen. Zum Beispiel Kinder, die an verseuchtem Wasser sterben, weil die Weltgemeinschaft nicht dafür sorgt, dass alle Trinkwasser bekommen, obwohl es ein Kinderspiel[3] wäre im Vergleich zu dem Aufwand, der wegen Corona betrieben wird, sondern zum Beispiel in der Türkei Brunnen an Nahrungsmittelkonzerne verkauft werden, von denen die Bauern, denen diese Brunnen seit Menschengedenken gehörten, dann Wasser in Plastikflaschen kaufen müssen. In Bezug auf die Frage gilt, was sowieso Bedingung für eine wirkliche Veränderung ist: die Besitzverhältnisse global vom Kopf auf die Füße stellen. Ein erster Schritt wäre, den gesellschaftlichen Vertrag des Erbes zu kündigen. Materielle Vererbung ist kein Naturgesetz, sondern eine rein ideelle Vereinbarung unter Menschen, aber Voraussetzung der unmäßigen Anhäufung von Besitz in den Händen der Wenigsten, die Ursache ist für Krieg, Hunger, Terrorismus, Migration und als Folge davon: des Virus. Deshalb wäre jetzt die Zeit, damit anzufangen, diesen Unsinn abzuschaffen, zumindest darüber nach zu denken[4]. So schnell kann man gar nicht rechnen, wie nach dem Ableben von Weltpiraten allen Menschen auf der Welt ein Grundeinkommen ausgezahlt werden könnte.

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Karsten
Was hast du von den Menschen in Mali gelernt? Wie kann man eurozentrische Sichtweisen am besten überwinden?

Die Kultur des Dialogs. Ob ich sie gelernt habe, weiß ich nicht, denn hierzulande lässt sie sich nicht leben, weil sie keine europäische Kultur ist. Wenn man in Mali einen Konflikt auf der Straße hat, ist man dankbar, dass ein Passant eingreift und vermittelt – hier wäre dasselbe Einmischung, die man sich verbittet. Eurozentrismus ist ein psychologischer Schutz, mit dem die Ausbeutung »gerechtfertigt« werden soll, durch den sich der Täter zum Opfer macht, das den armen Leuten dort hilft. Deshalb kann ich auch hier nur antworten: die ungeheure Besitzanhäufung in den Händen der Wenigsten und die daraus resultierende globale Macht ist die Ursache nicht nur dieser mentalen Krankheit, dieser unwürdigen Anmaßung. Der Konflikt spielt sich nicht zwischen schwarz und weiß ab, sondern zwischen reich und arm. Ich bin in zehn Jahren Leben in Mali nie ganz dort angekommen, nicht weil ich weiß bin, sondern mit 450 Euro Hartz4 Einkommen ein reicher Geldsack. Die Schere zwischen arm und reich verhindert menschenwürdige Beziehungen zwischen schwarz und weiß.

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Jochen N
Wie wichtig ist Humor, wenn man sich mit politischen Themen auseinandersetzt?

Ich habe am 1. April folgenden Aprilscherz veröffentlicht:

Die Bundesregierung beschlagnahmt 10 % des auf deutschen Banken liegenden Privatvermögens von 6,3 Billionen Euro, also 630 Milliarden Euro, das doppelte des aktuellen Bundeshauhalts. Friedrich Merz geht mit gutem Beispiel voran, und stellt die Hälfte seines Privatvermögens zur Verfügung: »Peanuts«, erklärte er. Das Geld kommt in einen Fonds, aus dem alle Gehälter zu 100 Prozent weitergezahlt werden. Soloselbständige und Künstler erhalten pro Monat 2000 Euro. Die Lehre aus Corona: »»Solidarität heisst Umverteilung von oben nach unten« (Merkel). Der BMW Konzern teilt mit, dass die Gehälter aller Angestellten und Arbeitnehmer des Unternehmens für die nächsten 6 Monate zu 100 % aus den Rücklagen der Aktionärsgemeinschaft bezahlt werden. Der Pressesprecher der Familie Quandt dazu: »Wir sind so begeistert von der Hilfsbereitschaft der einfachen Menschen in unserem Land, dass wir auch von unserer Seite her ein kraftvolles Zeichen setzen wollen!« Alle anderen Unternehmen dieser Größenordnung werden aufgefordert, sich dem Vorbild von BMW anzuschließen.

Es sei unerträglich, wurde ich kritisiert, »Hasstiraden« zu verbreiten in einer Zeit, in der man um seine Angehörigen bangen müsse. Reichtum macht offenbar humorlos.

Was fehlt den „Germanen“ heute am meisten? Ein Tucholsky? Ein Karl Kraus? Ein Brecht?

Alle drei haben es nicht geschafft, Hitler zu verhindern. Heinrich Mann wäre noch zu erwähnen. Vielleicht fehlt den »Germanen« vor allem die Fähigkeit selbst zu denken, anstatt Leitfiguren hinterher zu rennen, selbst wenn es welche mit den richtigen Inhalten sind.

Noten
[3]https://softsecrets.com/de/2019/02/04/das-trinkwasserjahr/https://softsecrets.com/de/2019/02/04/das-trinkwasserjahr/ von der Bundesregierung und allen Parteien mit der Begründung abgelehnt, dass die UNO das für das Jahr 2030 vorgesehen hat.