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MITEINANDER NEU-DENKEN – LaBGC und Harald Haarmann im Interview

ProMosaik: Wir haben beide in der
Vergangenheit schon einzeln interviewt, heute sprechen wir mit ihnen zusammen:
LaBGC und Harald Haarmann.
>LaBGC, eine in Spanien lebende Künstlerin und Publizistin.
>Harald Haarmann, ein in Finnland lebender
Sprachwissenschaftler und Kulturphilosoph.
Von wegen dunkel! und Utopie einer idealen
Gemeinschaft
lauten zwei hoch spannende Artikel, die Sie gemeinsam
geschrieben haben – nachzulesen auf der Website der Frankfurter Rundschau. Nun
haben Sie auch ein Buch gemeinsam geschrieben. Es trägt den Titel MITEINANDER
NEU-DENKEN
und ist Ende letzten Jahres im LIT-Verlag erschienen. Was hat
Sie zu diesem Buch bewogen?
LaBGC: Die Gewissheit, dass der dramatische Verlust
an Gemeinwohl und der verantwortungslose Umgang mit der Natur ein Überdenken,
ja ein Neu-Denken der Strukturen unseres Zusammenlebens dringend erfordert. Von
dieser Notwendigkeit sind wir, Harald Haarmann und ich, beide zutiefst überzeugt.
Unser Buch MITEINANDER NEU-DENKEN schließt das, was in
ferner Vergangenheit gelungen ist, für das Heute auf.
In seinen Forschungen und unermüdlichen Veröffentlichungen
zeichnet Harald die Spuren vergessener Kulturen nach. Der erstaunlichste
interdisziplinär gewonnene wissenschaftliche Befund ist, dass die erste
Hochkultur der Menschheitsgeschichte – genannt Alteuropa oder Donauzivilisation
– es schaffte, 3000 Jahre lang ohne zerstörerische Konflikte zusammenzuleben,
bahnbrechende Entdeckungen machte, ein immenses Handelsnetz aufbaute und vom
wachsenden Wohlstand offenbar tatsächlich alle Mitglieder der Gemeinschaften
profitierten. Was für ein Befund! Wie konnte das funktionieren?
Wir gingen daran, die Strukturen der Gesellschaften Alteuropas ins Heute
zu spiegeln. Dabei wurde schnell deutlich, dass wir damit einen Schl
üssel in
Händen hielten, der weitergegeben werden sollte. Und so entstand das Buch.
Harald Haarmann: Es ist wirklich
faszinierend, dass Gemeinschaften so weiter Regionen – auf einer heutigen Karte
sind das Ungarn, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Kosovo,
Albanien, Nordmazedonien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Moldawien und die
Ukraine – friedlich und gleichberechtigt zusammen lebten und arbeiteten,
miteinander Handel trieben und das Auskommen aller sicherten. Die Donau und
ihre Nebenflüsse waren die Handelsstraßen – deshalb auch die Bezeichnung
Donauzivilisation – aber die Handelswege führten ebenso über das Mittelmeer,
das Schwarze Meer und auch über Land.
Es lassen sich Handelsbeziehungen
nachweisen bis zur Pyren
äenhalbinsel,
bis nach Nordfrankreich und Südengland, bis nach Norddeutschland und ins
Baltikum, bis in die südrussische Steppe zu den dortigen Viehnomaden und zu den
Ackerbauern in Anatolien, und bis nach Nordafrika. Das ist eine Größenordnung,
die alles in den Schatten stellt, was es damals auf der Welt an zeitgenössischen
Handelsbeziehungen gab. Über die Handelskontakte mit Kleinasien und Nordafrika
formiert sich ein wahrhaft interkontinentales Netzwerk.
Ein solches Handelsnetz konnte nur
auf der Basis intakter Siedlungsgemeinschaften mit einer gut funktionierenden
kommunalen Selbstverwaltung aufgebaut und aufrecht erhalten werden, und dies
war ein Milieu, wo jeder Zugewinn dem Gemeinwohl zugute kam.
Es sind genau diese Strukturen, die
wir in unserem Buch darlegen und fragen: Was sagt uns das heute?
ProMosaik: Wie sind Sie dabei vorgegangen?

LaBGC: Nun, wir haben zunächst einmal die
vorliegenden Daten gesichtet und die Schlüsse betrachtet, die daraus für das
Agieren in den Gemeinschaften Alteuropas gezogen wurden. Dass Harald die
Forschungsergebnisse immer wie auf Knopfdruck parat hat, ist fantastisch! Dann
schauten wir nach Strukturen, die das Zusammenleben regelten. In kleinen
Siedlungen, in Städten oder überregional zwischen Handelspartnern. Und leiteten
daraus Begriffe ab wie Gemeinwohl, Demokratie, Besitz, Verantwortung, aber auch
Religion, Liebe und so fort, anhand derer wir das Zusammenleben der Menschen
Alteuropas unserem Zusammenleben gegenüberstellten. Zudem nahmen wir uns vor,
die Texte kurz und knapp auf die Spiegelungen ins Heute zu konzentrieren. Das
Wissen über Alteuropa ist ja hinlänglich veröffentlicht. Der Großteil der
relevanten Literatur ist übrigens in der Bibliographie von MITEINANDER
NEU-DENKEN
aufgelistet.

ProMosaik: Ja, und dabei stellen die Bücher,
die Sie, Herr Haarmann, zu Alteuropa, bzw. der Donauzivilisation geschrieben
haben, einen besonders reichhaltigen Fundus dar. Dazu auch Ihre Veröffentlichungen
über das, was die Lehren Platons noch von Alteuropa enthalten. Ist es nicht an
der Zeit, dass dieses Wissen in die Schulbücher aufgenommen wird? Es wirft doch
einen völlig neuen Blick auf die Weltgeschichte, dass die Demokratie nicht nur nicht
erst mit den Griechen in die Welt gekommen ist, sondern bei den Griechen schon
nur noch ein Fragment war.
Harald Haarmann: Richtig. Obwohl Alteuropa seit
mehr als dreißig Jahren intensiv 
erforscht wird, sind die Ergebnisse aus dem
Kanon des Schulunterrichts wie auch der universitären Ausbildung fast vollständig
ausgeblendet geblieben. Dabei erlebte die archäologische und
kulturwissenschaftliche Forschung in Südosteuropa nach der politischen Wende
Anfang der 1990er Jahre einen dynamischen Aufschwung. Doch die Neuerkenntnisse
sind bis heute im Schatten des etablierten Wissens verblieben.
Die Weltgeschichte, da
gebe ich Ihnen recht, muss in der Tat neu gefasst werden. Die wichtigsten
Bausteine sind vorhanden. Man darf das, was über die Gesellschaften Alteuropas,
die über den Zeitraum zwischen 6000 und 3000 v.u.Z. Bestand hatten, als
gesichert bekannt ist, nicht länger ignorieren.
ProMosaik: Bei der Lektüre Ihres
ersten gemeinsamen Buchs MITEINANDER NEU-DENKEN dachte ich an vielen
Stellen: Ja, so ist es! oder Ja, so müsste es sein! Und mir wurde bewusst, wie
viel Grundlegendes man im täglichen Marathon der Aufgaben in Job und Familie
aus dem Blick verliert. Ohne in Larmoyanz wegen misslicher Umstände zu verfallen
und ohne erhobenen Zeigefinger konfrontiert Ihr Buch auf angenehme Weise mit
den wesentlichen Faktoren des Zusammenlebens im Kleinen wie im Großen. War Ihre
Absicht zu zeigen, wie’s gehen kann?
LaBGC (lacht): Wir liefern keine Rezepte
für gutes Zusammenleben. Wir beschreiben, was sich im Laufe der Entwicklung des
Miteinanders von Menschen als nützlich herauskristallisiert hat und dann die
erste Hochkultur über 3000 Jahre in Balance hielt.
Dabei fasziniert
zuvorderst die Erkenntnis: Der Mensch ist keineswegs unausweichlich des
Menschen Wolf. Und natürlich das Warum. Der Wolf, den wir ja zweifelsfrei alle
in uns tragen, hat keinen Grund, auf Raubzug zu gehen, wenn wir genug zu essen
haben, einen guten Platz zum Schlafen, Aufgaben und Anerkennung bekommen, Liebe
spüren und geben können, und wenn wir lernen dürfen und uns einbringen können
als gleichwertige und gleichberechtigte Geschöpfe. Alle! Außerdem braucht es
unbedingt gute Anführer und Organisatoren. Das sind Frauen und Männer, die in
diese Positionen gewählt werden, weil sie die Fähigkeiten dafür mitbringen und
gezeigt haben, dass wir ihnen zu recht vertrauen können. Solange sie ihre
verantwortliche Position und unser Vertrauen nicht missbrauchen, wählen wir sie
wieder. Der Wolf in uns dreht sich zufrieden auf die andere Seite und schnarcht
weiter.
Wenn wir im Heute diskutieren, ob ein
ordentliches Grundeinkommen und ausk
ömmliche Renten für alle, ein Grundrecht auf
Wohnen, Recht auf Arbeit, auf Bildung, auf Teilhabe am öffentlichen Leben unser
brüchiges Miteinander verbessern könnte, ist das, als ob jemand den Schleier
vor unserem kulturellen Gedächtnis lüftet.
         
ProMosaik: Es könnte so leicht sein,
vom Instrumentarium Alteuropas etwas zu lernen für die Krisen, die unsere
heutige Gesellschaft durchrütteln. Warum wird es uns vermutlich dennoch schwer
fallen?

Harald Haarmann: Weil wir anders als die
Menschen in der Ära Alteuropas ja überhaupt nicht mehr selbstverständlich an
den Maximen des Gemeinwohls ausgerichtet sind. Zwar haben sich in vielerlei
Transformationen die bis heute tradierten Grundwerte aus alter Zeit abgeleitet,
doch ist das ursprüngliche, am Gemeinwohl orientierte Denken und Handeln durch
Umwälzungen in der Geschichte überformt und verdeckt worden. Vieles ist auch gänzlich
abhanden gekommen. In dem Zusammenhang ist das Kapitel Fusion in unserem Buch
aufschlussreich. Es beschreibt, was die Balance im Leben Alteuropas beendete
und schließlich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und Zerstörungen führte.

Schon in der Antike war das Wissen um
Gesellschaften in Balance fast vollst
ändig verschüttet. Immerhin einem Philosophen
waren Leitgedanken einer am Gemeinwohl orientierten Lebenswelt aus vor-antiker
Zeit noch präsent. Das war Platon. Was auch der Erziehung durch seine Mutter
Periktione, ebenfalls Philosophin, zu verdanken war. Im Modell einer idealen
Gesellschaft hat Platon das Wesentliche in seiner politischen Theorie
veranschaulicht.
Die Verfestigung der
Sozialhierarchie, die St
ärkung
von Formen absolutistischer Herrschaft, die Verhärtung des staatlichen Bürokratiewesens
und die Trennung sozialer Gruppen ohne direkte Möglichkeiten, auf die Geschicke
der Gesellschaft einzuwirken, haben die Entwicklung von Staat und Gesellschaft
bis in die Neuzeit bestimmt. Die Wiederbelebung demokratischer Werte bezog sich
im Kontext der Revolutionen in Amerika (1776) und in Frankreich (1789) auf das
Modell der Athener Demokratie, das ja schon längst nicht mehr das vollständige
Spektrum an Grundwerten vertrat. In der Gesellschaft der griechischen Antike
gab es keine Gleichstellung der Frauen mit den Männern mehr, und es gab den großen
Teil der Rechtlosen, die Sklaven.
Es kommt hinzu, dass das Denken in
Kategorien einer Gesellschaft mit Sozialhierarchie in der nachantiken
Geschichte Europas dominierte. Da das Modell Alteuropa vergessen und nicht mehr
f
ür
Vergleichszwecke zur Verfügung stand, festigte sich eine einseitige Denkweise,
bei der die Grundwerte zunehmend die Rolle von Idealen annahmen, die sich aber
mehr und mehr von der alltäglich praktizierten Politik entfernten und in vielen
Kontexten völlig verblassten. Um die idealisierten Grundwerte wieder “instand
zu setzen”, ist NEU-DENKEN erforderlich, und das kann nur im MITEINANDER
gelingen. Um was es hierbei im Einzelnen geht, das haben wir in unserem Buch
ausgeleuchtet.
ProMosaik: Bascha Mika, Chefredakteurin der
Frankfurter Rundschau, hat das im Geleitwort zu Ihrem Buch auf den Punkt
gebracht. Sie schreibt:
Die Autor*innen deklinieren, gut verständlich und
mit Lust lesbar, alle Begriffe durch, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung
sein können. Von Verantwortung über Gleichberechtigung, von Besitz bis zu
Liebe. Dabei wird klar: Es geht ihnen nicht nur um Erkenntnis, es geht um die
Tat. Handeln! Jetzt!”
Können wir mit dem neuen
Wissen über Alteuropa zuversichtlicher in die Zukunft blicken?
Harald Haarmann: Unsere Aufforderung zum
NEU-DENKEN macht als ersten Schritt eine Aktualisierung des Modells Alteuropa
erforderlich. Das Wissen über diese vor-antiken Gesellschaften und die
Strukturen ihrer Gemeinwesen muss breit verfügbar gemacht werden, um das
Defizit auszugleichen, das vom Kanon unserer westlich-aufklärerischen Erziehung
verursacht ist. Es wird von dem Ausmaß unserer WissensNEUbildung und von der
Intensität unserer Beschäftigung mit Alteuropa abhängen, in welchem Umfang die
nützlichen Lehren ihre dynamische Wirkung für den Aufbau unserer Zukunft
entfalten können.
LaBGC: Es wäre schön, wenn unser Buch dazu beitragen
würde, Visionen, Ideen und Modelle vieler Menschen zusammenzubringen. Wenn es
auf diese Weise als
warmer Wind
unter den Flügeln der Gedanken verstanden wird, dann bin ich sehr zufrieden.
ProMosaik:
Ich danke Ihnen beiden für
das Gespräch, und ich freue mich bereits auf die englische Übersetzung Ihres
Buches, die unter dem Titel RE-THINKING TOGETHERNESS nächstens
erscheint.
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