Kampf gegen das Coronavirus: Liegt Schweden am Ende doch richtig?
Sven Lemkemeyer, Tagesspiegel, 18. April 2020. Auch Schweden steht wegen seines Umgangs mit dem Coronavirus international im Fokus. Die Regierung fühlt sich zu Unrecht kritisiert und verteidigt den Kurs.
Diese Art der weltweiten Aufmerksamkeit schmeckt den eher zurückhaltenden Schweden so gar nicht. Das wird spätestens am Freitagmorgen deutlich, als in Stockholm hochrangige Mitglieder der Regierung vor die Presse treten. Eingeladen sind explizit ausländische Journalisten, denn die rot-grüne Minderheitsregierung von Premierminister Stefan Löfven möchte ein aus ihrer Sicht fehlerhaftes Bild korrigieren, das in anderen Staaten über Schweden in der Coronavirus-Krise entstanden ist.
Und so sagt Außenministerin Ann Linde: „Es ist ein Mythos, dass das Leben in Schweden so weitergeht wie gewöhnlich.“ Viele Bereiche der schwedischen Gesellschaft seien eingeschränkt und viele Unternehmen würden unter der aktuellen Situation leiden.
Und ihre sozialdemokratische Kollegin, Sozial- und Gesundheitsministerin Lena Hallengren, unterstreicht dies, wird aber zudem konkreter: „Ich muss feststellen, dass es das Bild gibt, dass Schweden in dieser Krise im Vergleich zu anderen Ländern radikal anders agiert. Ich teile diesen Eindruck nicht“, sagt sie.
Schweden habe in zwei Punkten anders gehandelt, sagt Hallengren: Zum einen seien die Schulen nicht geschlossen worden – Kindertagesstätten und Grundschulen sind geöffnet, an weiterführenden Schulen und Unis wird digital unterrichtet. Zum anderen, so die Ministerin, seien keine Regeln eingeführt worden, mit denen die Bürger gezwungen würden, zu Hause zu bleiben. Die Regierung habe sich mit Empfehlungen an die Bürger gewandt – und das sei erfolgreich gewesen.
Und dann, fast zeitgleich zu dem Moment, als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in Berlin sagt, in Deutschland sei der Ausbruch „Stand heute – wieder beherrschbar und beherrschbarer geworden“, spricht der Chef der schwedischen Gesundheitsbehörde, Johan Carlson, indirekt den Punkt an, der vielleicht hinter der Irritation des Auslands über den „schwedischen Sonderweg“ steht.
Während zum Bespiel in allen anderen EU-Ländern das Alltagsleben weitgehend eingefroren ist – graduell mit Unterschieden wie in Deutschland, Frankreich oder Spanien – ist in Schweden auch im Gegensatz zu den Nachbarländern Dänemark und Norwegen eben doch noch einiges möglich. So sind beispielsweise Bars, Cafes und Restaurants unter Auflagen geöffnet und werden gut besucht, wie die ersten warmen Frühlingstage zeigten. Auch shoppen und Frisörbesuche sind weiter möglich, Versammlungen sind bis zu 50 Personen erlaubt. Carlson sagt dazu: „Während andere Länder den so genannten Lockdown gewählt haben und nun einen Weg finden müssen, wie die Gesellschaft wieder geöffnet wird, hat Schweden ein Modell, das über eine lange Zeit funktionieren kann.“ Und weiter: „Wir können so bis 2022 leben, wenn wir müssen.“ Ist Schweden am Ende vielleicht mindestens genauso erfolgreich bei der Bekämpfung des Coronavirus wie andere Länder, die schärfere Maßnahmen erlassen haben?
Dieser Ansicht sind längst nicht alle. In einem am Dienstag in der Tageszeitung „Dagens Nyheter“ (DN) veröffentlichten Artikel kritisierten 22 Forscher – darunter zehn Virologen und Epidemiologen – die Strategie der schwedischen Gesundheitsbehörden scharf. Sie kritisieren, die Fallsterblichkeit in Schweden sei deutlich höher als in den Nachbarländern Norwegen und Finnland, wo scharfe Restriktionen erlassen wurden, und bewege sich auf italienische Verhältnisse zu.
Zwischen dem 7. Und 9. April seien nach Angaben der Weltstatistikseite Worldometer in Schweden 10,2 Menschen pro eine Millionen Einwohner an den Folgen von Covid-19 verstorben. In Italien habe die Zahl bei 9,7, in Dänemark bei 2,9, in Norwegen bei 2,0 und in Finnland bei 0,9 gelegen. „In Schweden sterben also mehr als zehnmal so viele Menschen durch das Coronavirus wie in unserem Nachbarland Finnland“, schrieben die Wissenschaftler und Mediziner.
Sie riefen die Regierung daher dazu auf, mit „schnellen und radikalen Maßnahmen“ einzugreifen. Da auch Menschen ohne Symptome das Virus verbreiteten, müsse die soziale Distanzierung erhöht werden. „Schließt Schulen und Restaurants wie in Finnland“, lautete daher eine der Forderungen der Wissenschaftler. Auf die Kritik angesprochen, entgegnete Carlson am Freitag: „Haben Sie schon mal eine Frage erlebt, in der die Forschergemeinschaft vollständig einer Meinung ist?“ Und legte nach: „Es steht auch ein großer Teil Wissenschaftler hinter uns.“
Ein internationaler Vergleich der Zahlen ist, das ist inzwischen klar, nicht einfach und liefert mitunter ein verzerrtes Bild, da in den Ländern unterschiedlich viel getestet wird. Zudem werden Todesfälle international in den Statistiken anders erfasst.
Dies sind die Zahlen für Schweden: Am Freitagnachmittag gibt es in dem Land mit seinen 10,2 Millionen Einwohnern 13.216 bestätigte Infektionen. Ab Anfang März war die Zahl der neuen Infektionen stetig gestiegen; der vorläufige Höhepunkt wurde dann am 8. Und 9. April mit jeweils mehr als 700 neuen Fällen erreicht. Zuletzt gab es täglich weniger als 500 bestätigte Neuinfektionen.
Anders sieht es allerdings bei der Zahl der Toten aus, die deutlich angestiegen ist. Am Freitag wurden 1400 Todesfälle gemeldet, 67 mehr als am Vortag. Die meisten Toten gibt es in der Region der Hauptstadt Stockholm. Aber: Es gebe immer noch eine hohe Anzahl Verstorbener pro Tag, aber keine Steigerung mehr, eher eine Abnahme, teilte die Gesundheitsbehörde am Freitag mit, verwies aber auf noch mögliche Nachmeldungen von Fällen.
Beide Kennziffern, Neuinfektionen und Todesfälle, entwickeln sich parallel, aber zeitlich versetzt – wie der „Spiegel“ berechnete um zehn Tage, weil an Covid-19 gestorbene Patienten im Schnitt nur zehn Tage vor ihrem Tod erstmals in die Infektions-Statistik aufgenommen wurden. Das bedeutet umgekehrt, dass der Höhepunkt der täglichen Coronavirus-Todesfälle in Schweden vielleicht an diesem Wochenende erreicht sein könnte.
Sollte sich der Trend fortsetzen und dies tatsächlich eintreffen, dürften sich Premier Löfven und der Staatsepidemiologe Anders Tegnell, der die Regierung berät, bestätigt fühlen. Tegnell zeigt sich bisher mit Blick auf die schwedische Kurve immer optimistisch. Das schwedische Gesundheitssystem und die besonders die Intensivstationen seien zwar stark belastet, aber nicht überlastet, betont er.
Auch Tegnell wehrt sich immer wieder gegen den Eindruck, Schweden gehe einen Sonderweg. Man habe agiert, wie andere Länder auch. Am 9. April sagte er: „Wir versuchen eigentlich, genau das Gleiche zu machen, haben aber akzeptiert, dass es nicht die Lösung ist, alles zu schließen. Wir schließen so viel wie möglich auf freiwilliger Basis und es sieht so aus, dass wir genauso weit gekommen sind, wie andere Länder.“
Fakt ist, die Regierung von Premier Löfven hat von Beginn an darauf gesetzt, dass die Schweden, die traditionell ein vergleichsweise großes Vertrauen in ihre Politiker haben, die Appelle von Regierung und Gesundheitsbehörde befolgen, die auch Tegnell in seinen täglichen Pressekonferenzen herunterbetet. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bürger den Kurs der Regierung stützt.
Folgende Empfehlungen und Einschränkungen gibt es unter anderem in Schweden:
- Die Bürger werden aufgefordert, soziale Kontakte zu minimieren
- Versammlungen mit mehr als 50 Personen sind seit Ende März verboten
- Unnötige Reisen sollen unterlassen werden
- Es gilt ein Einreiseverbot für Menschen aus Nicht-EU-Ländern
- Die international empfohlenen Abstandsregeln sollen eingehalten werden
- Regelmäßiges Händewaschen wird empfohlen
- Homeoffice wird dringend empfohlen. Wer Symptome verspürt, soll auf keinen Fall zur Arbeit gehen
- Ältere sollen besonders geschützt werden. Besuch in Alten- und Pflegeheimen ist seit Anfang April untersagt.
- Menschen, die älter als 70 sind, und Personen mit Vorerkrankungen sollen zu Hause bleiben
Zudem gilt ab Samstag ein neues Gesetz, mit dem die Regierung bei Bedarf umgehend scharfe Maßnahmen wie Ausgangssperren und die Schließung von Restaurants und Geschäften anordnen kann, ohne vorherige Zustimmung des Reichstags. Das Gesetz gilt zunächst bis Ende Juni.
Gesundheitsministerin Hallengren kündigte am Freitag zudem an, dass Schweden die Coronavirus-Testkapazitäten drastisch hochfahren werde. Angestellte in Schlüsselberufen wie Polizisten und Feuerwehrleute sowie Menschen mit starken Symptomen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen sollen in den kommenden Wochen vorrangig auf das Virus getestet werden.
Die Testkapazitäten sollten schon bald auf 50.000 bis 100.000 Tests pro Woche ausgeweitet werden, sagte Hallengren. Bislang wurden demnach landesweit 75.000 Menschen auf den Erreger Sars-Cov-2 getestet.Die staatliche Gesundheitsbehörde erklärte, zur Erhöhung der Testkapazitäten sollten in den kommenden Wochen Arbeitgeber verpflichtet werden, Test-Kits an ihre Angestellten auszugeben und so Proben einzusammeln. Zudem sollten auch Privatunternehmen zur Auswertung der Tests herangezogen werden.
Auch Premier Löfven äußerte sich zum Wochenende noch einmal öffentlich. Er hatte seine Landsleute wiederholt aufgefordert, die Pandemie ernst zu nehmen, auch in einer für Schweden ungewöhnlichen Rede an die Nation im Fernsehen. Der Zeitung DN hatte er zudem gesagt, Schweden müsse mit Tausenden Toten rechnen. Da sei nun der Fall, sagte er am Freitag. „Das ist nicht überraschend, aber unglaublich traurig. Hinter jeder Zahl stecke ein Mensch”, sagte der Premier.
Löfven, der zuletzt in einem Interview eingestanden hatte, dass sein Land wie andere auch nicht auf eine derartige Pandemie wie das Coronavirus vorbereitet gewesen sei, dankte allen Mitarbeitern im Gesundheitssystem und betonte, im Kampf gegen das Virus werde „Geld kein Problem sein“.
Dann ging er auf eines der größten Probleme Schwedens in der Coronavirus-Krise ein: die Alten- und Pflegeheime. Offiziellen Angaben zufolge werden ein Drittel aller Todesfälle aus solchen Einrichtungen gemeldet, wie die Zeitung DN schreibt.. An vielen Orten herrscht Personalmangel. „Die Anstrengungen unsere älteren Mitbürger zu schützen, müssen intensiviert werden“, sagte Löfven. Es sei entscheidend, dass sich Angehörige weiter an das Besuchsverbot hielten. „Ich verstehe, dass das schwer ist. Es ist natürlich frustrierend seine Lieben in so einer schweren Zeit nicht besuchen zu können. Aber es ist überlebenswichtig.“