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Epidemie und Wirtschaft: Die Ökonomie des Todes

Von Nikolaus Piper, msn,
11. April 2020. 
Die Pest war eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte. Trotzdem hat sie langfristig der wirtschaftlichen Entwicklung genutzt. Über die paradoxen Spätfolgen von Seuchen.

© Kunsthistorisches Institut in
Florenz/Max-Planck-Institut
Florenz wird 1348 von
der Pest heimgesucht. Das soll dieser Kupferstich zeigen, der erst in einem
späteren Jahrhundert entstand.
Die
Ökonomie des Todes
Wahrscheinlich begann alles in China.
Dort war 1332 die Pest ausgebrochen, eine extrem ansteckende Seuche, deren
Ursache man damals nicht kannte und gegen die es kein Mittel gab. Von China aus
dehnte sie sich nach Westen aus und erreichte schließlich Europa, und zwar über
eine Handelsgaleere aus der genuesischen Handelskolonie Caffa auf der Krim
(heute: Feodossia), die Ende 1347 in den Hafen von Messina (Sizilien) einlief.
Die Mannschaft war von der Seuche befallen und steckte die Menschen an Land an,
die sie zunächst gastfreundlich aufgenommen hatten.
Von Messina aus breitete sich die Pest
auf dem ganzen Kontinent aus. Die Pandemie, die man später den “Schwarzen
Tod” nennen sollte, wurde eine der größten Katastrophen der Geschichte.
Vermutlich ist dabei ein Drittel der Bevölkerung Europas gestorben, mindestens
25 Millionen Menschen. Einige Länder, etwa Frankreich und Italien, dürften die
Hälfte ihre Einwohner verloren haben. Auslöser der Seuche ist das Bakterium Yersinia
pestis
; der sogenannte Rattenfloh überträgt es auf Ratten ebenso wie auf
Menschen. Wer damals an der Pest erkrankte, bekam schwarze Eiterbeulen und
starb oft schon wenige Stunden nach der Ansteckung.
Nach
der Pest folgte ein goldenes Zeitalter für die Arbeit
Die gegenwärtige Corona-Epidemie, der
bis Freitag weltweit mehr als 96 000 Menschen zum Opfer gefallen sind, hat ganz
sicher auch nicht annähernd die Dimension der mittelalterlichen Pest. Aber in
einem wichtigen Punkt lohnt sich trotzdem ein Vergleich. Epidemien haben oft
langfristige und überraschende wirtschaftliche Konsequenzen. Die Pest ist dafür
ein besonders gutes Beispiel. Kurzfristig waren die Folgen für Wirtschaft und
Gesellschaft furchtbar. Der Dichter Francesco Petrarca schrieb 1350, nachdem er
die Stadt Rom besuchte: “Die Häuser liegen nieder, die Mauern fallen, die
Tempel stürzen, die Heiligtümer gehen unter, die Gesetze werden mit Füßen
getreten.” Anders als der Coronavirus traf die Pest vor allem junge Leute,
was den wirtschaftlichen Schaden noch erhöhte.
Langfristig jedoch führte die
Katastrophe paradoxerweise dazu, dass es den Überlebenden substanziell besser
ging und Europas Wirtschaft sich schneller entwickelte. Im Mittelalter, als es
noch keine Industrie gab, hing das Wohlergehen der Menschen davon ab, wie viel
und welches Land sie für die Landwirtschaft zur Verfügung hatten. Weniger
Menschen bedeuteten mehr und besseres Land – also auch weniger Hunger und
höhere Reallöhne. Der Wirtschaftshistoriker Hans-Joachim Voth von der
Universität Zürich sagt: “Die Pestepidemie ist einer der Auslöser der
Großen Divergenz zwischen Europa und dem Rest der Welt.” Unter der Großen
Divergenz verstehen Historiker die Tatsache, dass die europäische Wirtschaft spätestens
nach 1700 sehr viel leistungsfähiger wurde als die anderer Kulturen wie China
und Arabien. Zusammen mit seinem Kollegen Nico Voigtländer ( Universität Yale)
veröffentlichte Voth eine Studie, die den Zusammenhang beschreibt: Der
Bevölkerungsrückgang durch die Pest war so massiv, dass er auch mit mehr
Geburten so schnell nicht ausgeglichen werden konnte. Deshalb wurde Arbeit
knapp und teuer: “Über ein paar Generationen erlebte der alte Kontinent
ein goldenes Zeitalter der Arbeit,” heißt in dem Papier.
25
Millionen Menschen oder mehr
fielen zwischen 1347 und 1353 der Pest
zum Opfer. Das war mindestens ein Drittel der damaligen Bevölkerung Europas. In
Frankreich, Italien und anderen Ländern starb sogar die Hälfte der Einwohner.
Die Überlebenden allerdings hatten Vorteile von der Entvölkerung des
Kontinents. Mehr Land pro Einwohner stand jetzt zur Verfügung, die Menschen
hatten mehr zu essen. Die Wohlhabenderen leisteten sich auch mehr Luxuswaren,
was die Wirtschaftsentwicklung förderte. Beispielhaft für die Zeit nach der
Pest war der Aufstieg der Familie Fugger in der alten Reichsstadt Augsburg.
Die höheren Löhne reichten nicht nur
fürs Überleben, viele Menschen konnten sich jetzt auch Luxusprodukte leisten.
Die wurden in Städten hergestellt, weshalb die Verstädterung zunahm, der
Geldumlauf und das Steueraufkommen. Beispielhaft dafür ist der Aufstieg der
Fugger. Er begann kurz nach dem Ende der Pestzeit, als 1367 Hans Fugger, der
Sohn eines Bauern aus Graben im Lechfeld, in die Freie Reichsstadt Augsburg zog
und sich bei einem Leineweber verdingte. Er verwob Flachs mit feiner,
importierter Baumwolle zu luxuriösem Barchent und begründete so ein
Familienimperium, das jahrhundertelang Bestand hatte.
Auch die Inflation in Europa ging
zurück, wie der Historiker Klaus Schmelzing in einem neuen Arbeitspapier für
die Bank von England schreibt: von 1,58 Prozent jährlich auf nur noch 0,65
Prozent von 1360 bis 1460. Es gab also keine Teuerung mehr, vor der die
Menschen hätten Angst haben müssen. Die Pest hatte auch die Einstellung zum
Konsum verändert. Die traumatische Erfahrung, dass das Leben plötzlich vorbei
sein kann, führte, so Schmelzing, zum Wunsch, dieses wenigstens in vollen Zügen
zu genießen. Das hatte zur Folge, dass der Anteil des Vermögens, der für den
Konsum verwendet wird, zwischen 1350 und 1450 stark gestiegen ist. Ein Indiz
dafür sind die Gesetze gegen übertriebenen Luxus, die viele italienische Städte
erlassen haben. Venedig zum Beispiel verfügte 1430 eine Obergrenze für die
Absatzhöhe von Damenschuhen.
Dieser Luxuskonsum war, nach Meinung
einiger Forscher, die Voraussetzung für die Renaissance und den Abschied vom
Mittelalter. Die höheren Löhne bedeuteten aber nicht unbedingt, dass es den
Menschen in der Zeit gut ging. Tatsächlich nutzten Fürsten und Könige die höheren
Steueraufkommen, um mehr Kriege zu führen. Die Städte wurden größer, aber das
Leben in diesen Städten war extrem ungesund: Menschen und Tiere lebten eng
beieinander, die Bürger entleerten ihre Nachttöpfe einfach auf die Straße, und
Stadtmauern begrenzten das räumliche Wachstum. Krieg, Verstädterung und
importierte Seuchen begleiteten den Fortschritt in Europa wie drei
“apokalyptische Reiter”, schreiben die Forscher Voth und Voigtländer
in Anlehnung an die Offenbarung des Johannes in der Bibel.
Sowohl vor als auch nach dem Schwarzen
Tod wurde die Menschheit von mörderischen Epidemien heimgesucht. Auch deren
wirtschaftliche und politische Folgen waren unabsehbar. So brach 542 in
Konstantinopel die Beulenpest aus. Diese nach dem oströmischen Kaiser Justinian
benannte “Justinianische Pest” verheerte den gesamten Mittelmeerraum
und könnte den Aufstieg des islamischen Weltreichs hundert Jahre später
begünstigt haben.
Eine besondere Rolle im kollektiven
Gedächtnis von Europäern und Nordamerikanern spielt die Spanische Grippe, die
gegen Ende des Ersten Weltkriegs ausbrach. Von den absoluten Zahlen her war sie
schlimmer als der Schwarze Tod: Mindestens 500 Millionen Menschen – ein Viertel
der damaligen Erdbevölkerung – wurden angesteckt, mehr als 50 Millionen
starben, viel mehr als im Krieg selbst. Die wirtschaftlichen Folgen waren aber
zu vernachlässigen. Nach einer Schätzung des kanadischen Finanzministeriums
kostete die Grippe ganze 0,1 Prozent Wirtschaftswachstum. Das mag damit
zusammenhängen, dass als Folge der Demobilisierung nach dem Krieg sowieso eine
Rezession ausgebrochen war.
Allerdings entfällt in
Industriegesellschaften auch der langfristige Wachstumseffekt der Entvölkerung,
wie er nach der Pestepidemie im Mittelalter festgestellt wurde. Wenn die
meisten Waren in Fabriken hergestellt werden, wird es für die Reallöhne im
Verhältnis weniger wichtig, wie viel Land für die Produktion von Lebensmitteln
zur Verfügung steht.
Lernen kann man am Beispiel der
Spanischen Grippe, wie wichtig Social Distancing in einer Pandemie ist. Nach
einem Bericht des Wall Street Journal wartete die Stadtverwaltung von
Philadelphia 16 Tage, bis sie die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger einschränkte.
Sogar eine Parade wurde noch genehmigt. Der Preis war hoch: Auf dem Höhepunkt
der Seuche lag die Sterberate in Philadelphia fünfmal so hoch wie in St. Louis,
das nach zwei Tagen mit Social Distancing begonnen hatte.
Das
gab es noch nie: Die ganze Welt riskiert eine Rezession, um die Pandemie zu
bekämpfen
Heute weiß man, dass es während einer
Pandemie eine klare Wahl gibt: Entweder eine Gesellschaft akzeptiert
kurzfristig wirtschaftliche Schäden, um die Seuche einzudämmen. Oder sie
bezahlt dafür mit vielen Toten in der Zukunft. Was die jetzige Pandemie von
allen anderen in der bisherigen Geschichte unterscheidet, ist die Tatsache,
dass der größte Teil der Welt diese ökonomischen Kosten akzeptiert, dass sie
eine schwere Rezession zulässt, um den Kollaps der Gesundheitssysteme zu
verhindern und Menschenleben zu retten. In einigen Ländern, vor allem in Donald
Trumps Amerika, kam die Reaktion verspätet, aber sie kam irgendwann doch.
Gleichzeitig geben Politiker und Notenbanker Billionen Dollar und Euro aus für
Programme, die vor wenigen Wochen noch unvorstellbar waren.
All dies hat es bisher noch nie gegeben.
Auch wenn die Seuche eingedämmt ist und es einen Impfstoff gibt, wird sich die
Politik daher mit den Spätfolgen der Rettungsprogramme befassen müssen. Über
die Einzelheiten kann man heute nur spekulieren. Droht angesichts des vielen
gedruckten Geldes jetzt wieder Inflation? Wird die Erfahrung mit den
Lieferschwierigkeiten für Atemmasken und Beatmungsgeräte den Wunsch nach
Autarkie in vielen Staaten verstärken? Werden Experimente wie das
bedingungslose Grundeinkommen beliebter? Wird die Europäische Union das
alles aushalten?
Nur eines ist sicher: Nach Corona wird
die Welt anders aussehen als zuvor.