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Die post-virale Welt- unsere Welt?

von Milena Rampoldi, Tlaxcala, 15. April 2020. Die aktuelle virusbedingte Isolation und Segregation führen den Menschen dazu, sich in sich zu kehren und über sein Leben nachzudenken. Auch diejenigen, die ein weniger wenig hysterisch mit der Krise umgehen und einige Stunden mal die dröhnenden Medien ausmachen, weil sie dynamisch im Leben stehen und reaktionsfähig sind, auf die Umwelt reagieren und Überlebensstrategien finden, verlassen hie und da mal das Terrain der Dynamik und denken über den Sinn des Lebens, der Welt, der menschlichen Beziehungen und der Politik nach. 

DAQ, Politico
Unabhängig von der Ideologie, religiösen Zugehörigkeit und Einstellung zum Leben trifft dies mit Sicherheit auf Menschen weltweit in allen Kulturen und Traditionen zu. Daher sollten wir dieses Denken, Handeln, Reflektieren und Reagieren mal als Menschheitsphänomen sehen, ohne es in einen nationalen Rahmen einzuordnen. Keine Nation entwickelt Utopien und Überlebensstrategien, sondern die Menschen weltweit. Denn Menschen leben immer schon in Gemeinschaften, miteinander und füreinander. Die Nationen wurden erst viel später dazuerfunden und verfolgten vor allem das Ziel, das Gegeneinander der Menschen durch die gegenseitige Ausgrenzung und nationale Abschottung zu fördern.
Der Mensch ist geschaffen, um, wie Aristoteles so schön sagte, als „soziales Tier“ durchs Leben zu gehen. Der Mensch ist ein offenes Wesen. Er öffnet sich gegenüber seinen Mitmenschen, geht intime, familiäre, freundschaftliche, soziale und politische Beziehungen ein. Das Handeln des Menschen ist sozio-politisch fokussiert. Auch das fehlende Engagement in Gesellschaft und Politik ist, wenn auch im negativen Sinne, eine sozio-politische Haltung des Menschen.
Das Virus, oder besser gesagt die Maßnahmen der Staaten, in denen wir leben, zwingt uns, in einer horizontalen Segregation zu leben, die uns von unseren Mitmenschen fernhält. Wir überbrücken diese Segregation, indem wir neue Strategien der virtuellen Kommunikation entwickeln. Wir vergessen dabei aber, dass der Mensch ein materielles, körperliches Wesen ist.
Maurice Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang von der leiblichen Existenz. Der Leib ist nämlich der Ort der Fundierung des Menschen in der Welt als Raum der sozio-politischen Beziehungen. Und in dieser leiblichen Existenz stecken die Seele des Menschen, sein Drang zum Unendlichen und sein die Potential an utopischen Denken.
Wenn wir diese Aspekte nun aktivieren und uns vorstellen, wie die Welt nach dem Virus aussehen wird, verstehen wir auch direkt die Notwendigkeit, diese Welt nach dem Virus jetzt schon zu gestalten, indem wir positive und konstruktive Veränderungen antizipieren. Und eine große Veränderung betrifft die Überwindung des kapitalistischen Systems der Unsicherheit, des Prekariats, der Ausgrenzung und Einstufung von Menschen gemäß den kapitalistischen Maßstäben des Erfolgs und des angesammelten Kapitals.
Wir befinden uns derzeitig schon lange nicht mehr im Bereich der Virologie, sondern im Bereich der kapitalistischen Strategien zwecks Eindämmung des Virus mit der daraus folgenden Zerstörung des Kapitals im Rahmen einer weltweiten Rezession, die vom Kapitalismus selbst erzeugt wird, indem er diese erst Notstandmaßnahmen ergreift.
Der Arbeitszwang wird den Menschen genommen. Es werden Millionen von Menschen, die im Kapitalismus als sozial schwach gelten, am Selbstzwang gehindert, zur Arbeit zu gehen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Dies geschieht weltweit. Wir dürfen das Ganze nicht im Rahmen einer eurozentrischen Sozialstaatidee sehen, in der der Kapitalismus korrigiert wird und Menschen vom Staat getragen werden, um zu überleben. Überlebensstrategien werden den Menschen genommen, wenn man sie der horizontalen Segregation unterwirft.
Die Schwächsten sind zur horizontalen Segregation oder im besten Falle zum Social Distancing verbannt, das in den meisten Gesellschaften gar nicht möglich ist, weil die Menschen zu sehr an die Gemeinschaft gebunden sind und diese Distanzierung gar nicht wahrnehmen oder weil sie kein Haus haben, um dem Imperativ der Nation zu folgen, sich im eigenen Hause zu verkriechen, bis die Nation die Pandemie eindämmt.
Die Zwangsmaßnahmen vervielfachen sich weltweit. Die Menschen denken in ihren Häusern, ob nun Villen oder Wellblechhütten, an die Welt nach der Zäsur des Covid-19-Virus, um von dieser Welt der Unterdrückung, der Einschränkung, der Armut rauszukommen, wenn sie arm sind, oder um kapitalistisch wieder voll durchzustarten, um das in Luft aufgelöste Kapital wieder aufzustapeln, wenn sie reich sind.
Aber die erste Kategorie, d.h. die Mehrheit aller weltweit lebenden Menschen, erwachen dann ohne das Virus in einer post-viralen kapitalistischen Welt, die sie erneut unterdrückt und ausgrenzt.
Meine Lösung des Problems: Lasst uns die Welt verändern, bevor es zu spät ist und lasst uns jetzt schon über eine Alternative zum aktuellen vorherrschenden, kapitalistischen Modell nachdenken. Lass uns an ein Modell denken, in dem wir weltweit auf die materiellen Bedingungen sehen und sagen: Wir brauchen materielle Sicherheit, wir brauchen Ressourcen für alle, um Raum für die Utopie in allen Gesellschaftsschichten zu erhalten.













Denn Philosophie, Utopie und Denken sollen nicht das Privileg der Auserwählten bleiben. Ich möchte nicht, dass die Aussage, die Georg Büchner „Woyzeck“ in den Mund legt, nach dieser Pandemie immer noch zutrifft und wir immer noch von den Kapitalismus-Verarmten Folgendes hören: ”Wir arme Leut. Sehn sie, Herr Hauptmann, Geld, Geld. Wer kein Geld hat. Da setz einmal einer mein’sgleichen auf die Moral in der Welt….“ Denn das Denken darf den Massen nicht vorenthalten werden. Und so auch nicht die Erarbeitung von Strategien, die uns aus dem Kapitalismus in ein gerechteres, sozialeres System führen.