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Die Pandemie als Druckmittel

von German-Foreign-Policy, 7. April 2020. EU
nutzt die Covid-19-Pandemie als Druckmittel gegen Venezuela.
UN-Generalsekretär: Westliche Mächte sollen Sanktionen aussetzen.
 


BERLIN/WASHINGTON/CARACAS (Eigener
Bericht) – Die EU nutzt die Covid-19-Pandemie als Druckmittel gegen die
Regierung Venezuelas. Hintergrund sind die US-Sanktionen gegen das Land,
die die venezolanische Wirtschaft massiv schädigen und den Kampf gegen
das Covid-19-Virus erheblich behindern. Washington will die Sanktionen
nur aussetzen, wenn die Regierung in Caracas zurücktritt. Wolle Caracas
“verheerende Auswirkungen auf die Menschen” verhindern, müsse es die
US-Forderung erfüllen, verlangt auch die Europäische Union. Brüssel ist
seinerseits nicht bereit, seine Sanktionen gegen Venezuela zu beenden,
obwohl UN-Generalsekretär António Guterres seit Ende März explizit
fordert, wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen umgehend auszusetzen, um den
Kampf gegen die Pandemie nicht zu behindern. Mehr als zwei Drittel aller
Staaten unterstützen das, ausgenommen vor allem die Länder der EU und
Nordamerikas. Deutschland trägt zudem Mitschuld daran, dass der IWF
Caracas Nothilfe-Mittel verweigert: Ursache ist, dass diverse westliche
Staaten Venezuelas Regierung die Anerkennung verweigern und einen
Putschisten zum legitimen Präsidenten erklären.

Das Wirtschafts-Pentagon
Die Vereinigten Staaten haben ihre
Sanktionen gegen Venezuela zuletzt im Februar verschärft. Bereits zuvor
hatten sie wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen gegen Caracas verhängt, die
vor allem auf die Erdölbranche, die Goldförderung und den Bankensektor
zielten. Sie sind grundsätzlich als extraterritoriale Sanktionen
konzipiert, betreffen also auch Bürger von Drittstaaten, die mit
Venezuela Geschäfte treiben. Im Februar hat Washington weitere
Sanktionen verhängt, die nun die staatliche Fluggesellschaft Conviasa
bzw. alle treffen, die mit Conviasa zu tun haben – nicht nur
Versicherungsgesellschaften oder Unternehmen, die die Flugzeuge warten
oder auftanken, sondern auch einfache Passagiere, die Tickets kaufen.[1]
Ebenfalls im Februar folgten weitere Sanktionen, die konkret die
Wirtschaftsaktivitäten des russischen Ölkonzerns Rosneft ins Visier
nehmen; das Unternehmen müsse binnen drei Monaten jegliche Tätigkeit in
Venezuela einstellen, hieß es ultimativ.[2] Rosneft hat sich daraufhin
gezwungen gesehen, sein gesamtes Venezuela-Geschäft an ein namentlich
unbekanntes russisches Staatsunternehmen zu veräußern, um den Sanktionen
zu entgehen. Das US-Finanzministerium trete mittlerweile als
“Wirtschafts-Pentagon” auf, urteilte der venezolanische Außenminister
Jorge Arreaza.[3]

Eine Unterwerfungsforderung
Auf zunehmende Kritik an seiner
Sanktionspolitik hat Washington zu Monatsbeginn reagiert: Die
Trump-Administration behauptet nun, unter Umständen zu einer Aufhebung
der Sanktionen bereit zu sein, dann nämlich, wenn Caracas eine lange
Reihe von Forderungen erfüllt. Dazu gehören der Rücktritt von Präsident
Nicolás Maduro, die Schaffung eines “Staatsrates”, der das Land
vorläufig regieren soll, die Freilassung sämtlicher angeblich
“politischen Gefangenen”, die Abhaltung von Neuwahlen und nicht zuletzt
das Kappen jeglichen Einflusses von Staaten, die den USA nicht genehm
sind – insbesondere Russland sowie Kuba.[4] Faktisch handelt es sich um
die für keinen souveränen Staat akzeptable Forderung, sich den
Vereinigten Staaten zu unterwerfen. Die EU unterstützt die US-Anmaßung
und nutzt ausdrücklich die Covid-19-Pandemie, um den politischen Druck
auf Caracas zu erhöhen. Venezuela erfahre derzeit “beispiellose
Herausforderungen mit der Coronavirus-Pandemie”, die “verheerende
Auswirkungen auf die Menschen” haben könne – in einem Land, “das mit
einer schon jetzt ernsten ökonomischen, sozialen und humanitären
Situation kämpfe”, heißt es in einer Erklärung der Union vom 3. April.
Weit davon entfernt, angesichts der Covid-19-Pandemie die Aufhebung der
Sanktionen zu fordern, die einen erfolgreichen Kampf gegen das Virus
beinahe unmöglich machen, verlangt die EU, die gleichfalls
wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen gegen Venezuela verhängt hat, die
Regierung in Caracas müsse sich den US-Forderungen fügen.[5]

Keine IWF-Nothilfe
Die transatlantische Umsturzpolitik
gegenüber Venezuela hindert das Land noch auf andere Weise am Kampf
gegen die Pandemie: Sie führt dazu, dass Caracas einen dringend
benötigten Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) nicht erhält.
IWF-Chefin Kristalina Georgiewa hatte Mitte März mitgeteilt, die
Institution sei bereit, mit all ihren Kapazitäten Kredite zu
mobilisieren, um bedürftigen Staaten beim Kampf gegen “die
wirtschaftlichen und humanitären Auswirkungen” der Covid-19-Pandemie zu
helfen. Dazu stehe das Rapid Financing Instrument bereit, das
finanzielle Nothilfe ermöglichen soll.[6] Venezuela beantragte deshalb
entsprechende Finanzunterstützung. Mitte März waren die ersten
Covid-19-Infektionen in dem Land offiziell bestätigt worden;
gleichzeitig war klar, dass die Regierung nur begrenzte
Handlungsspielräume besitzt: Der Staat ist in den vergangenen Jahren
durch westliche Sanktionen ökonomisch empfindlich geschwächt worden;
hinzu kommt, dass der zur Zeit extrem niedrige Erdölpreis Venezuelas
Einnahmen weiter kollabieren lässt. Caracas sah sich daher gezwungen,
für den Kampf gegen die Pandemie IWF-Hilfen zu beantragen. Die
Institution verweigert das, weil “in diesem Augenblick keine Klarheit
über die Anerkennung” der venezolanischen Regierung durch die
“internationale Gemeinschaft” bestehe.[7] Hintergrund ist, dass
zahlreiche Regierungen Europas und Nordamerikas sowie rechtsgerichtete
Regierungen in Lateinamerika eigenmächtig den (gescheiterten)
Putschisten Juan Guaidó als Präsidenten Venezuelas anerkennen – auch die
deutsche Regierung (german-foreign-policy.com berichtete [8]).

Kanonenbootpolitik
Schließlich wird der Kampf gegen die
Covid-19-Pandemie auch noch durch Kanonenbootpolitik der Vereinigten
Staaten und durch ominöse Manöver eines deutschen Schiffes erschwert.
Die US-Regierung hatte in der vergangenen Woche, nachdem sie in einem
beispiellosen Akt ein Kopfgeld (!) in Höhe von 15 Millionen US-Dollar
auf Venezuelas Präsidenten Maduro ausgesetzt hatte, angekündigt, mehrere
Kriegsschiffe zu angeblichen Operationen gegen Drogenschmuggel vor die
venezolanische Küste zu entsenden. Die Rede war von einer der größten
Militäroperationen der Vereinigten Staaten in Lateinamerika seit
Jahrzehnten; US-Präsident Donald Trump hatte vor ungefähr einem Jahr
über eine US-Militärintervention in Venezuela spekuliert.[9] Die
Maßnahme setzt die venezolanische Regierung ebenso unter Druck wie ein
Vorfall, den ein deutsches Kreuzfahrtschiff Ende März unweit der
venezolanischen Insel La Tortuga auslöste. Das Schiff sei von einem
venezolanischen Patrouillenboot “beschossen und offenbar gezielt
gerammt” worden, behaupteten deutsche Medien.[10] Radarbilder sowie
Funk- und Videoaufnahmen, die die venezolanische Marine anschließend
veröffentlichte, zeichnen ein völlig anderes Bild. Demnach durchquerte
das deutsche Kreuzfahrtschiff ohne Genehmigung venezolanische
Hoheitsgewässer; die Besatzung weigerte sich, Anordnungen der
venezolanischen Küstenwache Folge zu leisten; nachdem die Küstenwache
(zulässige) Warnschüsse abgegeben hatte, rammte das deutsche Schiff das
venezolanische Patrouillenboot, das daraufhin sank. Ohne die Besatzung
zu retten, entfernte sich das deutsche Schiff mit regelwidrig
abgeschaltetem Ortungssystem.[11]

Gegen 80 Prozent der Weltbevölkerung
Während die transatlantischen Mächte ihre
Aggressionen gegen Venezuela trotz der Covid-19-Pandemie ausweiten,
nehmen die Proteste gegen die westliche Sanktionspolitik weltweit zu.
Schon am 24. März hatte UN-Generalsekretär António Guterres die
G20-Staaten aufgefordert, sämtliche wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen
gegen Drittstaaten auszusetzen, um “Zugang zu Nahrung, zur notwendigen
Gesundheitsversorgung und zu medizinischer Covid-19-Hilfe
sicherzustellen”: “Jetzt ist es Zeit für Solidarität, nicht für
Ausschluss”, erklärte er.[12] Der Aufruf verpuffte. Zwar ist es den USA,
der EU, Großbritannien, der Ukraine sowie Georgien am 2. April mit
vereinten Kräften gelungen, eine von Russland in die
UN-Generalversammlung eingebrachte Resolution zum Scheitern zu bringen,
die Guterres’ Appell aufnahm und forderte, Sanktionen zugunsten des
Kampfes gegen die Pandemie zumindest auszusetzen.[13] Am vergangenen
Freitag verabschiedete dann aber die “Gruppe der 77” gemeinsam mit China
eine Erklärung, in der sie “schnelle und wirksame Maßnahmen” forderte,
“um den Einsatz einseitiger ökonomischer Zwangsmaßnahmen gegen
Entwicklungsländer zu unterbinden” – denn die Sanktionen hinderten die
betroffenen Länder daran, “wirksam” auf die Verbreitung des
Covid-19-Virus zu reagieren.[14] Der “Gruppe der 77”, die bei ihrer
Gründung im Jahr 1964 aus 77 Staaten bestand, gehören heute 134
Schwellen- und Entwicklungsländer an. Mit dem Festhalten an den
Sanktionen trotz der Pandemie stellen sich die transatlantischen Mächte,
darunter Deutschland, also gegen mehr als zwei Drittel aller Staaten
der Welt mit rund 80 Prozent der Erdbevölkerung.

  Noten
[1] Paul Dobson: Neue US-Sanktionen gegen Venezuela, Drohungen gegen Russland und Ölkonzerne. amerika21.de 12.02.2020.
[2],
[3] Marta Andujo: Nächste US-Sanktionen gegen Venezuela sollen
“Lebensader von Maduro abschneiden”. amerika21.de 20.02.2020.
[4] Amerika fordert Maduros Abtritt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.04.2020.
[5] Declaration by the High Representative on behalf of the European Union on Venezuela. consilium.europa.eu 03.04.2020.
[6], [7] Julieta Daza: IWF lässt Venezuela im Stich. jungewelt.de 19.03.2020.
[9] Christoph Gurk: Kriegsschiffe vor Venezuela. sueddeutsche.de 02.04.2020.
[10] Marineboot rammt deutsches Kreuzfahrtschiff – und sinkt. spiegel.de 03.04.2020.
[11] Statement by the Group of 77 and China on the Covid-19 Pandemic. New York, 03.04.2020.
[12] Funding the fight against COVID-19 in the world’s poorest countries. un.org 25.03.2020.
[13] UN Adopts Resolution Urging Global Cooperation on COVID-19. nytimes.com 02.04.2020.

[14]
Dario Azzellini: Venezolanische Küstenwache rammt grundlos deutsches
Kreuzfahrtschiff in internationalen Gewässern? amerika21.de 06.04.2020.