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Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus sind nicht das Gleiche

von Medico, 21. November 2018. Ein älterer Artikel, den man immer wieder lesen sollte. ProMosaik. Israelische Intellektuelle wenden sich gegen Ausrichtung der Wiener Antisemitismus-Konferenz. Mit einem außergewöhnlichen Aufruf haben sich am Montag 34 israelische Akademikerinnen und Künstler kritisch gegen eine heute stattfindende Konferenz in Wien zu Wort gemeldet. Die österreichische Regierung hatte als Veranstalterin angekündigt: „Antisemitismus und Antizionismus stellen für Teile unseres heutigen Europas nach wie vor eine deutlich spürbare Plage dar, die das Leben der jüdischen Gemeinschaft in den Ländern der EU und das allgemeine Wohl in Europa bedroht. […] Sehr häufig findet Antisemitismus Ausdruck in übertriebener und unverhältnismäßiger Kritik am Staat Israel.“

medico-Partner Breaking the Silence informiert auf einer Tour durch Hebron über die israelische Besatzungspolitik. (Foto: Oren Rozen)
Gegen die Gleichsetzung von Kritik an israelischer Regierungspolitik und Antisemitismus wenden sich die Unterzeichner*innen des Briefes mit ihren Forderungen. Bemerkenswert ist der Aufruf unter anderem deshalb, weil sich damit jüdische Stimmen in die Debatte einschalten, von denen die Mehrzahl bisher nicht durch ihren politischen Aktivismus von sich Reden gemacht hat. Ihre Glaubwürdigkeit speist sich aus ihren Verdiensten als Bürger*innen des Staates Israel (darunter mehrere Träger*innen des renommierten Israel-Preises) und aus ihrem international anerkannten akademischen Renommee in der Erforschung und Lehre u. a. der jüdischen Geschichte, Philosophie und Holocaust-Studien.
Mit ihrer Kritik wenden sie sich gegen die israelische Regierung, als deren politisch bedeutendster Vertreter auch Benjamin Netanjahu nach Österreich eingeladen war, und deren Alleinvertretungsanspruch für alle Jüdinnen und Juden weltweit. Durch ihre Verteidigung der Unterscheidung zwischen Israel als Staat und dem Judentum als (Glaubens-)Gemeinschaft erteilen sie auch der politisch motivierten Gleichsetzung von Besatzungskritik und Antizionismus mit dem Antisemitismus eine deutliche und begründete Absage.
Es ist ein erklärtes Ziel der österreichischen Regierung, die Antisemitismusdefinition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) möglichst europaweit zur Grundlage von Entscheidungen in Politik und Verwaltung zu machen. Die deutsche Bundesregierung hat bereits im September 2017 beschlossen, die wegen ihres vagen Charakters nicht unumstrittene Definition anzunehmen, verbunden mit der Empfehlung, sie zur Grundlage in den Bereichen Bildung, Justiz und Polizei zu machen. Felix Klein, seinerzeit noch Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Beziehungen zu jüdischen Organisationen und heutzutage Beauftragter für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, gab damals als Ziel an, alle OECD-Staaten auf die IHRA-Definition zu verpflichten.
Voraussichtlich wird am 22. November in Leipzig der Stadtrat auf Antrag von SPD, CDU und Grünen qua Beschluss genau die Vermischung zur offiziellen Handlungsanweisung erheben, vor der im nachstehenden Aufruf eindringlich gewarnt wird.
Riad Othman

Aufruf

Zu Europa sagen wir: Vermischt Kritik an Israel nicht mit Antisemitismus
Im Kontext ihres EU-Ratsvorsitzes wird die österreichische Regierung am 21. November eine hochrangig besetzte Konferenz unter dem Titel „Europa jenseits von Antisemitismus und Antizionismus – Sicherung jüdischen Lebens in Europa“ abhalten.
Wir unterstützen voll und ganz den kompromisslosen Kampf der EU gegen Antisemitismus. Das Erstarken des Antisemitismus erfüllt uns mit Sorge. Aus der Geschichte wissen wir, dass es oft Vorbote von Katastrophen für die gesamte Menschheit war. Das Erstarken des Antisemitismus ist eine reelle Gefahr und sollte der gegenwärtigen europäischen Politik ernsthaft zu denken geben.
Die EU steht aber auch für Menschenrechte ein und muss diese genauso energisch schützen wie sie den Antisemitismus bekämpft. Die Bekämpfung des Antisemitismus sollte nicht dafür instrumentalisiert werden, legitime Kritik an der israelischen Besatzungen und an schweren Verletzungen palästinensischer Menschenrechte zu unterdrücken.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hätte auf der Konferenz in Österreich sprechen sollen, bis er seine Reise absagte, um seine Regierung zu stabilisieren. Er hat hart daran gearbeitet, Kritik am israelischen Staat mit Antisemitismus zu einem zu vermischen.
Zu unserer tiefen Besorgnis sehen wir diese Vermischung auch in der offiziellen Ankündigung der Konferenz durch die österreichische Regierung. Dort heißt es: „Antisemitismus findet seinen Ausdruck sehr oft in übertriebener und unverhältnismäßiger Kritik am Staat Israel.“
Diese Worte geben die Antisemitismusdefinition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) wieder. Mehrere Beispiele für zeitgenössischen Antisemitismus, die sich der Definition anschließen, beziehen sich auf harsche Kritik an Israel. Im Ergebnis kann die Definition gefährlich instrumentalisiert werden, um Israel Immunität gegen Kritik an schwerwiegenden und verbreiteten Menschen- und Völkerrechtsverletzungen zu verschaffen – Kritik, die für legitim erachtet wird, wenn sie sich gegen andere Länder richtet. Das schreckt jedwede Kritik an Israel ab.
Die Ankündigung setzt außerdem Antizionismus mit Antisemitismus gleich. Wie allen modernen jüdischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts widersetzten sich jedoch auch dem Zionismus viele Jüdinnen und Juden heftig, ebenso wie nicht-Juden, die nicht antisemitisch waren. Zahlreiche Opfer des Holocaust waren gegen den Zionismus. Demgegenüber unterstützten viele Antisemiten den Zionismus. Es ist unsinnig und unangemessen, Antizionismus automatisch mit Antisemitismus gleichzusetzen.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Staat Israel seit über 50 Jahren eine Besatzungsmacht ist. Millionen von Palästinenserinnen und Palästinensern unter Besatzung entbehren ihrer Grundrechte, Freiheit und Würde. Gerade in Zeiten, in denen die israelische Besatzung sich in Annexion verwandelt, ist es notwendiger denn je, dass Europa alle Versuche entschieden ablehnt, die freie Meinungsäußerung anzugreifen oder Kritik an Israel durch die falsche Gleichsetzung mit Antisemitismus zum Schweigen zu bringen.
Europa muss dies auch für die eigene Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit ihrer Bekämpfung des Antisemitismus tun. Die Ausweitung dieses Kampfes zum Schutz des israelischen Staates vor Kritik trägt zu der Fehlwahrnehmung bei, dass Jüdinnen und Juden mit Israel gleichzusetzen seien und deshalb verantwortlich für die Handlungen dieses Staates wären.
Als israelische Gelehrte, deren Mehrheit jüdische Geschichte erforscht und lehrt, sagen wir zu Europa: Bekämpft den Antisemitismus unnachgiebig, um jüdisches Leben in Europa zu schützen, und ermöglichet, dass es zur Blüte gelangt. Erhaltet dabei die klare Unterscheidung zwischen Kritik am Staat Israel, so harsch sie auch sein möge, und Antisemitismus aufrecht. Vermischt nicht Antizionismus mit Antisemitismus. Und schützt die Rede- und Meinungsfreiheit derjenigen, die die israelische Besatzung ablehnen und darauf bestehen, dass sie endet.

Unterzeichner_innen:

  1. Professor Gadi Algazi, Abteilung für Geschichte, Universität Tel Aviv.
  1. Dr. Yael Berda, Abteilung für Soziologie und Anthropologie, Hebräische Universität Jerusalem.
  1. Professor José Brunner (emeritus), Cohn Institut für Wissenschaftsphilosophie und Ideengeschichte und Buchmann Fakultät für Recht. Ehemaliger Direktor des Minerva Instituts für deutsche Geschichte, Gründungsmitglied und akademischer Supervisor der ersten Rechtshilfeklinik für Holocaust-Überlebende, Universität Tel Aviv.
  1. Professor Alon Confino, Pen Tishkach Professur für Holocaust-Studien, University Massachusetts Amherst.
  1. Professor Arie M. Dubnov, Max Ticktin Lehrstuhl für Israel-Studien, Abteilung für Geschichte, George Washington University.
  1. Professorin Rachel Elior, John und Golda Cohen Professur für jüdische Philosophie und jüdische Mystik, Hebräische Universität Jerusalem.
  1. Professor David Enoch, Rodney Blackman Lehrstuhl für Rechtsphilosophie an der Fakultät für Recht, Abteilung für Philosophie, Hebräische Universität Jerusalem.
  1. Dr. Yuval Eylon, Dozent für Philosophie, Abteilung für Geschichte, Philosophie und jüdische Studien, Offene Universität Israel.
  1. Professor Gideon Freudenthal (emeritus), Cohn Institut für Wissenschaftsphilosophie und Ideengeschichte, Universität Tel Aviv.
  1. Dr. Amos Goldberg, ehemaliger Lehrstuhlinhaber, Abteilung für jüdische Geschichte und zeitgenössisches Judentum, Hebräische Universität Jerusalem.
  1. Professor David Harel, William Sussman Professur, Abteilung für Informatik und angewandte Mathematik, Weizmann Institut für Wissenschaft; Vizepräsident der Israelischen Akademie der Wissenschaften; Träger des Israel-Preis (2004); EMET Preisträger (2010).
  1. Professor Hannan Hever, Jacob & Hilda Blaustein Professur für hebräische Sprache & Literatur, Abteilung für vergleichende Literaturwissenschaft und jüdische Studien, Yale University.
  1. Professorin Eva Illouz, Abteilung für Soziologie, Hebräische Universität Jerusalem; ehemalige Präseidentin Bezalel Academy of Art and Design, Jerusalem.
  1. Daniel Karavan, Bildhauer, Schöpfer des Denkmals für die Sinti und Roma Opfer des Nationalsozialismus, Berlin (2012) und der Straße der Menschenrechte am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg (1989-93); Träger des Israel-Preis (1977).
  1. Professorin Hannah Kasher (emerita), Abteilung für jüdische Philosophie, Bar-Ilan Universität, Ramat Gan.
  1. Professor Michael Keren (emeritus), Abteilung für Wirtschaftswissenschaften, Hebräische Universität Jerusalem.
  1. Professor Yehoshua Kolodny (emeritus), Institut für Erdstudien, Hebräische Universität Jerusalem; Träger des Israel-Preis (2010).
  1. Miki Kratsman, ehemaliger Leiter der Abteilung Photographie an der Bezalel Academy of Arts and Design, Jerusalem; EMET Preisträger (2011).
  1. Nitzan Lebovic, Professor, Apter Lehrstuhl für Holocaust-Studien und ethische Werte, Lehigh University.
  1. Alex Levac, Träger des Israel-Preis (2005).
  1. Dr. Anat Matar, Abteilung für Philosophie, Universität Tel Aviv.
  1. Professor Paul Mendes-Flohr (emeritus), Abteilung für jüdische Philosophie, Hebräische Universität Jerusalem.
  1. Professor Jacob Metzer, ehemaliger Präsident der Offenen Universität Israel; Alexander Brody Professor (emeritus) für Wirtschaftsgeschichte, Hebräische Universität Jerusalem.
  1. Michal Naaman, Künstlerin, Trägerin des Israel-Preis 2014.
  1. Professor Yehuda Judd Ne’eman (emeritus), Universität Tel Aviv; Träger des Israel-Preis (2009).
  1. Professorin Dalia Ofer, Max und Rita Haber Professur für zeitgenössisches Judentum und Holocaust-Studien (emerita), Avraham Harman Institut für zeitgenössisches Judentum, Hebräische Universität Jerusalem.
  1. Professor Ishay Rosen-Zvi, Leiter der Sektion für Talmud und Altertümer, Abteilung für Philosophie, Universität Tel Aviv.
  1. Professor David Shulman (emeritus), Abteilung für asiatische Studien, Hebräische Universität Jerusalem; EMET-Preisträger (2010); Träger des Israel-Preis (2016).
  1. Dr. Dmitry Shumsky, Abteilung für jüdische Geschichte und zeitgenössisches Judentum, ehemaliger Direktor des Bernard Cherrick Center für Studien des Zionismus, Yishuv & Staates Israel, Hebräische Universität Jerusalem.
  1. Professor Zeev Sternhell (emeritus), Abteilung für politische Wissenschaft, Hebräische Universität Jerusalem; Träger des Israel-Preis (2008).
  1. Professor David Tartakover, Träger des Israel-Preis (2002).
  1. Professorin Idith Zertal, Autorin von „Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit“, Tel Aviv.
  1. Professor Moshe Zimmerman (emeritus), ehemaliger Direktor des Koebner-Zentrums für deutsche Geschichte, Hebräische Universität Jerusalem.
  1. Professor Moshe Zuckermann (emeritus), Cohn Institut für Wissenschaftsphilosophie und Ideengeschichte, Universität Tel Aviv.