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Uwe Hinrichs – Ein Zeitalter geht zu Ende…

Von Milena Rampoldi, ProMosaik. Anbei mein Interview mit
Prof. Dr. Uwe Hinrichs, Slawist und Linguist. Habe ihm einige Fragen zum zweiten
Teil des Werkes „Verwandlung der Sophia“ gestellt. Zum ersten Teil hatte ich
bereits mit Dr.
Harald Haarmann gesprochen
. Prof. Dr. Hinrichs setzt sich mit
unserem Zeitalter und seiner Überwindung, bzw. seinem Ende auseinander und
fragt sich, wie das nächste aussehen wird. Habe ihn auch gefragt, was
Performativität bedeutet und wie von der Beschreibung der Welt auf die
Erfindung einer neuen Welt übergegangen wird. Sehr interessante und mehr als
aktuelle Themen.


Welches Zeitalter geht zu Ende? 
Politisch: Gerade erst hat es der Politikchef der „ZEIT“, Bernd
Ulrich, auf den Punkt gebracht:
„500 Jahre
westlich-abendländische Dominanz und 100 Jahre amerikanisch-westliche Hegemonie
gehen zu Ende. Viele spüren das, auch wenn sie es vielleicht anders ausdrücken
würden.“ Mir scheint, dass jetzt die Zeit der großen Ideologien, die das 20.
Jahrhundert prägten und beschädigten, endgültig zu Ende ist. Viele reden von
einer neuen Weltordnung und es ist überhaupt nicht klar, wohin hier die Reise
geht. Als Symptom nehme man aber die geistige und logistische Vorherrschaft von
globalen Szenarien, d.h. große nationen-abgewandten Szenarien, die überall
vorangetrieben werden. Wir haben offenbar tiefgreifende Verwerfungen oder,
vorsichtiger, Veränderungen vor uns, die besonders das alte Europa betreffen.
Nicht nur Esoteriker sagen, dass die europäische Kultur gefährdet ist,
schwächer wird, an Kraft verliert, ihre Selbstinspiration kaum noch
aufrechterhalten kann. Abzuwarten bleibt, inwieweit sich die kommenden
Migrationen als Instrument, als Regulativ, als Korrektiv, in jedem Fall als
gewichtiges Politikum in der Zukunft auswirken werden.  Es bricht also auch ein Zeitalter an, in dem
Migrationen eine neue Bedeutungsdimension für den Planeten annehmen.

Medial: Dies vollzieht sich am Kreuzpunkt einer Zeitenwende, in denen
das MEDIUM sich ändert. Der Berliner Medientheoretiker Norbert Bolz sagt, dass
die 500 Jahre währende Epoche, in der der Buchdruck, die Konzentration auf die
Schriftlichkeit, das Sammeln und Verbreiten der Informationen in Büchern oder auf
anderen traditionellen Tonträgern dominierten (die sogenannte „Gutenberg-Galaxie“),
allmählich ihrem Ende entgegengeht. Etwa seit dem Jahr 2000 haben wir das
Internet, die social media, immer
neue Info- und Bilderdienste und unabsehbare, oft undurchsichtige Aktivitäten
einer neuen Cyberworld. Diese Medien arbeiten weltweit, kumulieren gewaltige
Macht, setzen auf Inszenierung, senden oft in Echtzeit und sind von einer sich
weiter beschleunigenden Schnelligkeit gekennzeichnet, die die Halbwertzeiten
von Informationen, Fakten und Wahrheiten immer weiter verkürzt. Dies alles
verändert („The medium ist the message“,
Marshall McLuhan) Kommunikationen, Werte, Pläne, Mentalitäten, Haltungen und
Weltsichten.
Wir
befinden uns im Moment zweifellos in einer liminalen Übergangsphase, in der das
Alte noch nicht abgeschlossen ist und die langfristigen Konsequenzen einer neuen
Zeitrechnung noch nicht absehbar, noch nicht kalkulierbar sind. Eine solche
Phase weist ein gewisses Maß an Chaos auf, was sowohl Gefahren als auch Chancen
an die Oberfläche bringt. 

Können wir
schon erkennen, welchen Charakter das neue Zeitalter haben wird?
Ständig erscheinen auf dem Markt neue Bücher, die
versuchen, hierauf eine Antwort zu geben, so zu Cyberworld, Künstlicher Intelligenz, einer „Geschichte der Zukunft“
etc.  Oft sind sie reißerisch aufgemacht,
was nicht nur dem Marketing zuzuschreiben ist: Es zeugt auch davon, dass weder die
Autoren noch das gebildete Publikum wirklich eine Vorstellung davon haben,
wohin die Reise im 21. Jahrhundert geht. Auch wie sich die neuen Dimensionen,
die von Nanotechnologie, Neurobiologie, Astronomie und einem neuen
interdisziplinären Denken angedeutet werden, sich mit den neuen Medien und der
politischen Globalisierung vertragen werden – das  ist überhaupt nicht abzusehen. Kontingenz ist deshalb ein zentrales
Merkmal der Zukunft, und zwar in einer ganz neuen Dimension.
In der Geisteskultur kann man einen Rückzug des
Logozentrismus feststellen: der rationalen Vernunft. Dem typisch europäischen, kausallogischen
Denken wird immer weniger zugetraut, die Welt zu erklären und auch tatsächlich
etwas zu bewirken. Das neue Zeitalter wird wahrscheinlich viel mehr auf Größen
wie Inszenierung und Praktisches Handeln, auf Gefühl und Subjektivität setzen.
Die Ära Trump hat zwar negative Züge, zeigt aber scharf die Kräfte an, die das
öffentliche Leben und auch die Politik mehr und mehr bestimmen. Eine neue Art
von „Vernunft“ setzt sich immer stärker durch, die fokussiert ist auf die
Situation, auf das Inszenieren, auf performances
aller Art.
Wie die Welt in einigen Jahrzehnten aussehen wird, ist
noch so gut wie unbekannt – es ist in viel größerem Maße „unbekannt“ als etwa in
früheren vergleichbaren Situationen. Niemand kann heute abschätzen, welche
Rolle die weltweiten Migrationen, ihr Management, die Klimaveränderungen und
die kulturellen Verschiebungen zwischen den Kontinenten wirklich spielen
werden. Notwendig ist deshalb ein neues ganzheitliches Denken, das die Welt und
die Wissenschaften nicht mehr in isolierte Parzellen aufteilt, die angeblich wenig
miteinander zu tun haben. Interdisziplinäre Sichtweisen melden auch in den
Wissenschaften ihren Anspruch an und viele beginnen zu erkennen, dass nicht nur
die Resultate, nicht nur die reinen Daten von Bedeutung sind, sondern auch die
Herangehensweisen, die Methoden und die Haltungen hinter der Wissenschaft, die
oft eine stärkere Wirkung entfalten als die reinen Forschungsergebnisse. Das
Dach über dieser neuen Bewegung bildet die Philosophie – wie es in der Antike
ja schon einmal war. Wie das geht und wie eine erneuerte Philosophie unter
performativen Vorzeichen aussehen kann, ist jetzt im „Manifest der
performativen Philosophie“ dargestellt.

Wie sollen wir
uns die Anpassung von Wissenschaft und Kultur an die Bedingungen des
Internet-Zeitalters vorstellen?
Nehmen wir nur einmal die Recherche, von der ja Wissenschaften und Kultur
leben, und ihren Einfluss auf die Resultate. Der Kulturmensch, und noch viel
mehr der Wissenschaftler: beide sind nicht mehr auf Bibliotheken und Bücher in
dem Maße angewiesen, wie es noch vor kurzer Zeit der Fall war. Es muss nicht
mehr exzerpiert, kopiert, ausgeliehen und zurückgegeben werden. Man sitzt am PC
und ruft durch Mausklick eine Unzahl an Fenstern und Informationen auf
(„Hypertext“), die im Prinzip synchron verlinkt, eingesehen, gespeichert und
wieder aufgerufen werden können. Wir haben kein Archiv, sondern eine
bewegliche, oszillierende cloud. Ein
großer, ständig wachsender Teil von relevanten Büchern, Artikeln etc. ist ohnehin
schon online einsehbar, wenn nicht zu 100%, dann wenigstens in Teilen. Bald
wird fast alles online verfügbar sein. Paradebeispiele für das Arbeiten mit
„Hypertexten“ sind z.B. die Rechtsprechung, die Geschichtswissenschaft, die
Naturwissenschaften. Es ändert sich durch die Art des Arbeitens auch die Art
des Denkens und Zugreifens: Für die Sortierung von im Prinzip unzähligen Informationen
ist letztlich nicht mehr das serielle Abarbeiten und Vergleichen von Bedeutung.
Der moderne Wissenschaftler entwickelt eine tiefere Intuition, arbeitet auch
assoziativ; dadurch wächst seine Verantwortung in immer neue Dimensionen
hinein, weil er auswählen muss. Er hat es nicht mehr vorrangig mit immobilen
und separaten Komplexen von Themen, Thesen und Theorien zu tun, sondern bewegt
sich flexibel zwischen ihnen und erzeugt allein schon dadurch dadurch Neues.
Wie die Welt selber, so das Agieren in ihr:  
Heute löst sich das
linear perspektivierte, homogene Weltbild in Facetten eines Mosaiks auf.“ (Norbert
Bolz).
Das kulturelle Leben selbst stellt mehr und mehr auf performances, Inszenierungen und events um  – auch um die
Aufmerksamkeit des Publikums inmitten eines anschwellenden Überangebots zu
halten. Diesen Trend kann man im Theater, in der Universitätsphilosophie, in
der Kunst, in der Ökonomie besonders intensiv beobachten. Aber auch wenn dies nicht explizit betont oder angestrebt wird, tritt der reine Vollzug, der
„Umgang“, das spontane Handeln, die Wirkung und die Rezeption von Vorgängen und
Aktionen immer stärker ins Bewusstsein der Leute, z.B. in der Rechtsprechung
oder in den Geisteswissenschaften allgemein. Wir haben also vor allem einen
Wandel des Bewusstseins hin zum Performativen vor uns, der nicht nur
Wissenschaft und Kultur, sondern die ganze öffentliche Kommunikation prägt.
Summa summarum: Falls keine
autoritären Gegenkräfte auftreten, wird der Einzelne freier, kann flexibler
agieren, hat aber auch mehr Verantwortung. Er macht Projekte auf Zeit, wechselt
den Standort oder auch die Profession. Die Resultate, Ziele und Werte in
Wissenschaft und Kultur beanspruchen keinen absoluten oder eng-substanziellen
Stellenwert mehr, sondern sind mit ihrer eigenen Relativierung durchaus
einverstanden. Die Bildungs- und Wissensansprüche werden sich auch deshalb relativieren,
weil alles gegoogelt werden kann und auf ein absolutes Bescheidwissen ohnehin
kaum noch Wert gelegt wird (auch weil man vieles immer auch ganz anders sehen
kann und die Perspektiven genauso schnell wechseln können wie das Wissen selbst).

Sie sprechen
von der Performativität wie von einem Wurzelwerk; wie kann man nun das
Performative in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen erkennen?
Es gibt ganz offenbar Gradabstufungen der Performativität, wie auf einer
Skala zwischen stark und schwach. Dies ist das Wurzelwerk, das
sich allgemeinen und absolut geltenden Definitionen entzieht. Am stärksten sind
jene Fälle, bei denen das Performative scharf hervortritt und sofort verstanden
wird, weil es gleich ins Auge fällt – auf jedem Sektor in anderer Form: In der
Sprache durch spezielle Formeln wie Ich
eröffne hiermit die Sitzung
. In der Geschichtsschreibung durch eine
Sprache, die die historischen Vorgänge nachmodellieren will und sie
gewissermaßen noch einmal zeigt. In
der Ökonomie durch Aktionen und Manipulationen der Ökonomen selbst (z.B. Blasenbildungen
in der Finanzökonomie), die den Markt verändern, zeitweilig beruhigen oder
sprengen können. In der sprachlichen Kommunikation durch die Praxis, dass
Meinungen und Verstehen sich erst im Gespräch selbst ergeben und von allen
Akteuren miterzeugt werden. In der Kunst dadurch, dass über das Material und
die Formgebung das Bildthema noch einmal ausgedrückt wird, z.B. in Picassos
„Guernica“. Das wären Beispiele für die sichtbaren Extreme des Performativen.
Darunter stehen überall weitere Gradabstufungen von Performativität, z.B. die
speziellen Inszenierung im Theater, eine blutvolle Sprache in der Philosophie,
die performances in der
Kunstszene  etc. Ein Beispiel: Jeder
spürt sofort, ob in einem wissenschaftlichen Vortrag nur die Fakten in einer abstrakten
Sprache heruntergespult werden (und die Hörer bald gelangweilt sind), oder ob
der Redner selber mit seiner ganzen Person zeigt, ja: verkörpert, was er sagen will, wovon er überzeugen will. Dann
agiert er performativ.

Ist die Wirkungsweise
des Performativen gleichbedeutend mit einer Hinwendung zum ganzheitlichen Denken?
Je   mehr Kulturen, Religionen,
Sprachen und Länder auf den Plan treten, desto unübersichtlicher wird, zunächst
jedenfalls, die Gemengelage. Und der Einzelne, der nur eine Identität, eine
Weltanschauung, eine Meinung aus der
Ecke seines Habitats zur Verfügung hat, ist leicht überfordert oder fühlt sich
bedroht. Denn die Wahrnehmungsstrukturen ändern sich nicht in zehn-zwanzig
Jahren, sondern eher im Laufe mehrerer Generationen. Ein ganzheitliches Denken
ist da geradezu gefordert, wenn man nicht im Strudel der Weltanschauungen und
Perspektiven untergehen oder sich in eine provinzielle Ecke zurückziehen will. Das
Problem ist, dass ganzheitliches Fühl-Denken in den europäischen Kulturen nicht
ausgebildet, nicht trainiert, nicht gelernt worden ist. Harald Haarmann hat im
Ersten Teil des Projektes „Die Verwandlung der Sophia“  in einer Art archäologischer Kleinarbeit
gezeigt, wie sich ein ganzheitliches Denken bei den Alten Griechen, bei Plato,
vorbereitet hat, sich dann später aber langsam wieder verloren hat. Stattdessen
hat sich, besonders seit der Neuzeit, überall eine logozentrierte, eigentlich technische Aufklärung etabliert, die
Kausalität und Ratio über alles stellt und die Disziplinen voneinander isoliert.
Diese Ratio herrscht bis heute vor und ist nur schwer zu durchbrechen. Erst
unter den Bedingungen der Neuen Medien scheint dies nun möglich. Es ist der
Boden für die Heraufkunft und die Macht des Performativen. Es ist nicht
übertrieben, von einer „performativen Renaissance“ zu sprechen, die ein neues
ganzheitliches Denken erzeugt: die Neue Zeit erfordert dies zwingend.
Es wird aber dauern, der Weg ist lang: von den Kitas bis in die Etagen der
wissenschaftlichen Forschung. Man muss klein anfangen, wohl in jedem Sektor.
Hierfür ein markantes Beispiel: In der Erziehung entfernt man sich endlich von
der nur-faktischen Erklärung sozialer und interaktiver Zusammenhänge, weil
Kinder hierfür kein Ohr haben (wollen) und nur irritiert werden; hier hat die
antiautoritäre Erziehung große Schuld auf sich geladen. Werte, Tugenden und
Erziehungsziele müssen im Gegenteil gezeigt
werden, vollzogen, vorgelebt und im Vorbild des Pädagogen sichtbar sein. Dies
ist ganz besonders in der Religionspädagogik wichtig: „Dont tell them you are a Christian, show it!“ wäre das performative Credo:
Geh in die Kirche, bete, feiere das Abendmahl, nimm am Freitagsgebet teil,
singe, sprich mit dem Rabbi, versuche selbst zu erfahren, was Zen-Schulung ist
etc.

Inwiefern hilft
uns die moderne Theaterwissenschaft, die performative Orientierung im
kulturellen Leben zu verstehen?
Das Theater stellt sozusagen die performative Urszene des Homo Sapiens in
Reinkultur dar: Man redet in der Gruppe miteinander, stellt sich als etwas dar
und vollzieht gemeinsame Aktionen und Wirkungen. Der Soziologe Ervin Goffman
hat gezeigt, dass wir nicht nur im Theater, sondern im Leben immer eine Rolle
spielen, eine Fassade vorweisen, von der Hinterbühne des Alltags auf die
Vorderbühne der Aktion streben etc. Und der Kognitionswissenschaftler Bernard
Baars ist der Meinung („In the theatre of
conciousness
“), dass wir sogar ein neuronales Korrelat dieser performativen
Urszene im Kopf haben: Auch das Bewusstsein funktioniert wie unter den
Bedingungen eines Theaterstücks. Dabei stellt die Theaterwissenschaft um Erika
Fischer-Lichte eben jene Begriffswelt zur Verfügung, nach denen wir auch im
Alltag funktionieren: dies sind
Inszenierung,
Aufführung, Einmaligkeit, Spontaneität, Selbstreflexivität, Körperlichkeit und
die unmittelbare Gegenwart eines Publikums. Es zeigt sich so, dass das Theater
nur ein Sonderfall des Lebens ist, das sich der Mensch selbst für seinen Alltag
geschaffen hat: er kann sich beim Leben zusehen. Und wenn er sieht, wie im
Theaterstück unmittelbare Wirklichkeit, Glück und Tragik etc., erzeugt werden,
versteht er intuitiv besser, dass das genauso für seine reale Lebenswelt gilt,
in der er selbst Hauptrolle und Nebenrollen spielt, einem Regisseur gehorcht
etc. Letztlich versteht er, besonders in Trump-Zeiten, noch besser, dass alle
Politik  aus Inszenierungen besteht, aus
Suggestion und postfaktischer Strategie, und ist dann weniger den suggestiven
Mechanismen von Populismus, aber auch von Political Correctness unterworfen.

Wenn die bloße
Beschreibung der Welt nicht mehr genügt, welchen Nutzen bringt dann die
Erzeugung der Welt?
Wenn der Einzelne
begreift, dass es mehr und mehr darauf ankommt, zu erkennen, wie die Welt
erzeugt wird, wird er automatisch auf seine Mitverantwortung, auf sein eigenes
Handeln, auf seine Aktion verwiesen, da er, wie jeder andere auch, aufgefordert
ist, an dieser Erzeugung mitzuwirken. Das Internet führt das ja jeden Tag vor:
Jeder User ist sein eigener Selbstdarsteller auf facebook & Co, sein eigenes Fotoobjekt auf Instagram. Bald ist
er auch sein eigener Darsteller in den sozialen Rollen (Student, Arbeitnehmer,
Politiker, Künstler, Autofahrer etc.). Das war im Prinzip früher auch so, jetzt
aber wird es in seiner Wertigkeit und seinen Möglichkeiten auf eine neue Weise erkannt
und eben dadurch schon verändert. Es bekommt ein neues Niveau. Das
selbstdarstellerische Talent eines jeden / einer jeden ist damit
herausgefordert, und da das jeder macht, wird dem bedingungslos gefolgt. Jeder zeigt sich, stellt sich dar, ist
wichtig, ist etwas Besonderes. Der Nutzen besteht darin, dass ein jeder
erkennen kann, dass er selber einen großen Part spielen kann, ohne allzuviel
auf Wahrheit, Stringenz, Logik etc. geben zu müssen. Jeder kann sich auch als
etwas anderes darstellen, und so
wächst vielleicht das Bewusstsein der eigenen Möglichkeiten; jeder kann sich
blamieren, jede kann über sich hinauswachsen. Die Gefahr dabei ist, dass sich
das Massenphänomen der betonten Inszenierung immer weiter ausbreitet und
intensiviert und am Ende des Tages jeden User wieder gleichschaltet und ihn wieder
dorthin zurückwirft, von wo aus er gestartet ist: aus der Anonymität der Masse.
Wenn man das Prinzip Erzeugung der Welt und ihr Augenblicks-Wesen
erkennt, ist man weniger an die Vergangenheit und ihre Konstruktionen, weniger
an die Zukunft und deren Projektionen gebunden. Man ist mehr auf die
unmittelbare Gegenwart konzentriert – ein Blickwinkel, der in den europäischen
Kulturen seit jeher unterentwickelt ist. Und man entwickelt mehr Gespür dafür,
was im Augenblick gerade passiert, und dies kann wichtiger sein als die
Orientierung an dem, was war oder vielleicht noch passieren wird. Es ist auch
hier also eher eine Frage des Bewusstseins, im Sinne einer geschärften
Aufmerksamkeit für den Moment. Denn gerade die heutige politische Kultur zeigt,
welche immensen, oft irreversiblen Bedeutungen ein Moment, eine Rede, eine
Redewendung, eine Andeutung, ein Selfie, ein Nebensatz oder ein Versprecher
haben können: sie wandeln sich zu Augenblicks-Zeichen für den impliziten
Hintergrund der politischen Zeitläufe.