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Verteidigen wir die Wahrheit gegen die Unwahrheit!

Von Evelyn Hecht-Galinski, Sicht
vom Hochblauen
, 17. Oktober 2018.


Was
sich am letzten Sonntag, am Tag der Bayernwahl (14.10.2018), in der Frankfurter
Paulskirche, vor 700 illustren Gästen aus Politik, Medien und Kultur abspielte,
war gewiss ein Novum. Mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels wurde das
Ehepaar Jan und Aleida Assmann ausgezeichnet. Geehrt wurden die beiden
Kulturwissenschaftler unter anderem für ihre Forschungsarbeit zum „Kulturellen
Gedächtnis“, und gemeinsam hielten sie ihre Dankesrede. Die Jury ehre „ein
Forscherpaar, das sich in seiner Arbeit seit Jahrzehnten wechselseitig
inspiriert und ergänzt“, und weiter: „Aus dieser spannungsvollen,
komplementären Einheit, die Aleida und Jan Assmann bilden, ist ein
zweistimmiges Werk entstanden, das für die zeitgenössischen Debatten und im
Besonderen für ein friedliches Zusammenleben auf der Welt von großer Bedeutung
ist.“ (1)

„Wahr ist, was uns verbindet.“
Immer wieder kam in der Dankesrede der Bezug auf Hannah Arendt und
Karl Jaspers, bei dem sie den prägenden Satz fanden: „Wahr ist, was uns
verbindet.“ Der Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller hat die
Auszeichnung als „sehr politische Entscheidung“ bezeichnet, und tatsächlich
machte Aleida Assmann sehr politische Aussagen, denen nicht zu widersprechen
ist. Als sie jedoch am Schluss ihrer Rede Bezug auf den bei der UNESCO
eingereichten Antrag der Stadt Hebron im von Israel besetzten Westjordanland auf
Weltkulturerbe nahm, wurde ich hellhörig. (2)
Seinerzeit
löste dieser palästinensische Antrag, der von der UNESCO angenommen wurde,
erwartungsgemäß Widerspruch bei der israelischen Besatzungsmacht aus.
Immerhin
bezeichnete Aleida Assmann Hebron als besetzt, allerdings hob sie ganz bewusst
das „besondere Erbe“ und den Anspruch des „jüdischen Volkes“ auf einen Teil der
historischen Schichten hervor. Sie beschäftigte sich mit dem Begriff „shared
heritage“ (das geteilte Erbe).
Aleida
Assmann schlug doch tatsächlich vor – da die „Altstadt von Hebron eine
jüdische, christliche und islamische Geschichte hat, die in allen drei
monotheistischen Weltreligionen gleichermaßen präsent, heilig und lebendig ist,
weil sich alle auf Abraham als ihren Stammvater beziehen“ – einen gemeinsamen
palästinensisch-israelischen Antrag zu stellen, denn nur ein gemeinsam
eingereichter Antrag könnte die ganze Geschichte dieses Ortes anerkennen und
wäre zugleich sein bester Schutz. Was hier trennt ist der „ausschließliche
Anspruch auf Wahrheit“. So ein gemeinsamer Antrag, der nicht nur den Konflikt
lösen, sondern „die Altstadt von Hebron von einem Ort des Terrors in einen Ort
der Annäherung, der Kooperation und des Friedens verwandeln würde.“.
Schließlich heiße Hebron auf Hebräisch als auch auf Arabisch „Stadt des
Freundes“. Ganz nach Jaspers Worten: „Eine Perspektive des Friedens wird
ermöglicht durch ein ganz einfaches Kriterium: Wahr ist, was uns verbindet“.
Verkennung
einer Realität, die von grausamer Brutalität geprägt ist
Von
einer Verbindung im friedlichen Sinne kann man in diesem Zusammenhang wohl kaum
sprechen. Das erscheint mir doch sehr theoretisch und an der traurigen
Wirklichkeit vorbei gedacht. Dieser Vorschlag als Lösung des Problems, für mich
undenkbar, schließlich ist es doch wohl utopisch, dass sich Palästinenser
darauf einlassen würden, sich mit den Besetzern zusammen zu tun und damit quasi
die Besatzung noch als normal hinnehmen
Diesen
sicher gut gemeinten Vorschlag kann ich nur als naiv bezeichnen. Wie kann es
eine solche Verbindung geben in einer Stadt, in der laut UNESCO das
Weltkulturerbe in Gefahr ist?
Wie
kann es eine Perspektive des Friedens geben in Hebron, dem Symbol der
Unterdrückung des palästinensischen Volkes und des illegalen israelischen Besitzanspruchs
auf einen so wichtigen Ort für die drei Weltreligionen?
Berichtete
doch Haaretz just an diesem selben Sonntag, dass das Netanjahu-Kabinett,
erstmals seit 2002, dem Bau von 31 neuen Siedlungseinheiten in Hebron bekannt
gegeben hat. Avigdor Lieberman, der berüchtigte ehemalige Türsteher und
Kriegsminister des „Jüdischen Staats“, gab diese Entscheidung bekannt. Hebron
bekomme „erstmals seit mehr als 20 Jahren ein neues jüdisches Viertel auf dem
Gelände der derzeitigen Militärkaserne“, erklärte er. Lieberman, Mitglied der
rechtsextremistischen Partei Yisrael Beitenu (Unser Haus Israel), sprach mit
geschwollener Brust von einer „neuen wichtigen Etappe bei der Stärkung des
Siedlungsausbaus in „Judäa-Samaria“ (=illegal besetztes Westjordanland). Das illegal
besetzte Hebron ist die besetzte Stadt, in der etwa 800 judaistische
Siedler/innen schwer bewacht von jüdischen „Verteidigungssoldaten inmitten von
200.000 Palästinensern leben. Für diese Siedler-Eindringlinge wurde ein großer
Teil der historischen Innenstadt abgetrennt.
Von
einer grausamen Brutalität geprägt
Spezielle
Einheiten verrichten seit Beginn der illegalen Besatzung ihren „speziellen“
Dienst in Hebron, der von einer grausamen Brutalität geprägt ist, wie sie die
IDF immer mehr ausübt, um die Besatzung zu garantieren. Als einige Soldaten der
Organisation „Breaking the Silence“, erschrocken über ihre eigene Verrohung
auspackten, die sie immer begleiten werde, und darüber berichteten, wie sie in
nächtliche Razzien zu Monstern wurden, nicht davor zurückschreckten, auch
Frauen und Kinder brutal zu erniedrigen. Diese berüchtigten Eliteeinheiten, die
in Hebron und Gaza eingesetzt wurden, sind nur dazu da, ein besetztes Volk
unter Kontrolle zu halten, durch wechselnde Checkpoints, zermürbende Wartezeiten,
das Einkassieren von Autoschlüsseln, Folterungen und entwürdigende Verhöre,
Verhaftungen ganzer Dorfgemeinschaften, Zerstörung von Häusern, Plattmachen
ihrer gesamten Habe, Sippenhaft und Kollektivbestrafung, sie zu erniedrigen und
den Palästinensern ins ewig ins Bewusstsein einzukerben, dass Widerstand
zwecklos ist. Das alles wird in der Öffentlichkeit als „Terrorbekämpfung“ und
„Selbstverteidigung“ verkauft. Genauso, wie es die heuchlerische
Wertegemeinschaft und speziell Kanzlerin Merkel und der „Auschwitzminister“
Maas tun und sich damit mit der ethnischen Säuberung Palästinas solidarisieren.
 Erst kürzlich fasste die UNESCO weitere Beschlüsse zum
Weltkulturerbe: zur Altstadt von Jerusalem, der historischen Ibrahim-Moschee in
Hebron und der Moschee Bilal Ibn Rabah in Bethlehem im besetzten Teil von
Palästina. Sie gehören zum Weltkulturerbe und werden durch Israel gefährdet.
(3)
In der
ersten Entscheidung wird festgestellt, dass die Altstadt von Jerusalem, wie
auch ihre Mauern, im Weltkulturerbe eingetragen sind und für die drei
monotheistischen Weltreligionen heilig sind. Es wird bestätigt, dass alle von
der Besatzungsmacht Israel ergriffenen Maßnahmen null und nichtig, und deshalb
zurückzuweisen sind.
In der
zweiten Resolution wird bekräftigt, dass die Ibrahim-Moschee in Hebron (Grab
der Patriarchen) und die Bilal Ibn Rabah-Moschee in Bethlehem wichtige Orte in
Palästina sind. Sie gehören zum Islam wie Heiligtümer von Judentum und
Christentum.
In
dieser Resolution wird auch bedauert, dass Israels Siedler Ausgrabungen, neue
Straßen und Neubauten, sowie auch eine Mauer um die Altstadt von Hebron,
vorantreiben. Nach internationalem Recht ist das illegal und verletzt die
ursprüngliche Geschichte der Denkmäler. Die Entscheidung wendet sich gegen jegliche
Freiheitsbeschneidung und fordert freien Zugang zu den heiligen Orten.
Im
Übrigen wird beklagt, dass die Mauer in Bethlehem den Zugang zur Bilal Ibn
Rabah einschränkt; in der Resolution wird gefordert, dass die „israelischen
Autoritäten den ursprünglichen Charakter der Umgebung wieder herstellen, um den
Besuch der Moschee zu ermöglichen.
Besetzte
und Besatzer auf eine Stufe gestellt
Bei all dem wurde mir schlagartig bewusst, wie typisch deutsch die
Assmann-Rede doch war. Wieder einmal stellen die Wissenschaftler, die es
eigentlich wissen müssten und auch wissen, die Besetzen und die Besatzer auf
eine Stufe. Nicht nur das, denn erwiesenermaßen will Israel keinen Frieden, nur
das Land ohne die Menschen.
Deshalb
ist der oben erwähnte Vorschlag mehr als abwegig, und ich empfehle dem Ehepaar
Assmann die Lektüre des Buchs von Breaking the Silence, worin israelische
Soldaten über ihren menschenverachtenden Einsatz gegen die zivile Bevölkerung
in den besetzten palästinensischen Gebieten berichten. Dann hätten sie mit
Sicherheit in ihrer Dankesrede mit Hebron einen anderen Schlussakkord gesetzt.
So aber
war diese in großen Teilen wichtige und großartige Rede typisch deutsch und
sträflich unvollständig, ja im schlechten Sinn „einseitig“ – wie immer, wenn es
um das Thema Israel und Palästina geht. Hier ein paar der für mich
prägnantesten Aussagen, die ich gerne kommentieren möchte.
„Der
Wert der Wahrheit ist wichtiger denn je“.
Aber
bitte immer nur die ganze Wahrheit und nicht die halbe, wie am Beispiel von
Hebron.
„Jede
Gesellschaft braucht ein Gedächtnis“
In der
Tat braucht das auch die palästinensische Gesellschaft: die Anerkennung ihres
Gedächtnisses, die ihr brutal verweigert wird von der jüdischen Besatzungsmacht.
„Beschämend
ist allein diese Geschichte, nicht aber die befreiende Erinnerung an sie, die
wir mit den Opfern teilen“
Gilt
das nicht ebenso für die Geschichte in Palästina/Israel? Beschämend ist eben
auch die Nakba, die Katastrophe, die der „Jüdische Staat“ nicht mit den Opfern
teilen will, sondern alles dafür tut, diese Erinnerung zu eliminieren und zu
leugnen. Solange auch Deutsche diese Tatsache nicht anerkennen, kann es keine
wirkliche Erinnerungskultur in Deutschland geben.
Jede Erinnerungskultur, die mit dem Holocaust zu tun hat, wird für
immer verbunden sein mit der Nakba, die aus der Gründung des Staates Israel vor
70 Jahren resultiert und die Palästinenser die verleugneten Opfer der
Nazibarbarei sind. Wer diese Tatsache nicht anerkennt, verleugnet ein
kulturelles wie nationales Gedächtnis. Gerade in Deutschland ist es an der
Zeit, dies endlich anzuerkennen, besonders in dunklen Zeiten, wo die
Nakba-Ausstellung wieder verboten wird und die Meinungsfreiheit immer
eingeschränkter wird.
„Verstehen
wir die Öffentlichkeit als eine Kampfzone, in der sich die Wahrheit unablässig
gegen die Unwahrheit behaupten muss“
Was
wäre es für eine Rede gewesen, wenn ein Wissenschaftspaar dieser Größe auch
diese Punkte berücksichtigt hätte, die unzertrennbar mit der deutschen
Vergangenheit verbunden sind. Solange die Verantwortung für die Palästinenser
nicht endlich auf die gleiche Stufe wie die zum „Jüdischen Staat“ gestellt
wird, solange bleibt jede „Gedenkkultur“ unvollkommen und verlogen. Lassen sie
mich mit dem in der Rede so oft zitierten Karl Jaspers enden: „Verstehen wir
die Öffentlichkeit als eine Kampfzone, in der sich die Wahrheit unablässig
gegen die Unwahrheit behaupten muss“.
Behaupten
wir uns in der Öffentlichkeit und verteidigen wir die Wahrheit und gegen die
Unwahrheit!
Fußnoten:
 In der Neuen Rheinischen Zeitung (NRhZ) veröffentlicht in Ausgabe
678 vom 17.10.2018 unter http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25298