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Hala Farrag – Wie die vergleichende Literaturwissenschaft die interkulturelle Kommunikation fördern kann

Von Milena Rampoldi, ProMosaik. Anbei
mein Interview mit Prof. Dr. Hala Farrag, Professorin
für Germanistische Linguistik der Universität Kairo, zu Themen im
Bereich der vergleichenden Literaturwissenschaft, die meiner Meinung nach die
interkulturelle Kommunikation fördern kann.




Wie wichtig ist
die vergleichende Literaturwissenschaft für die interkulturelle Kommunikation
und warum?

Die Vergleichende
Literaturwissenschaft hat das Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen
zwei Literaturen sowie direkte und indirekte Einflüsse aufzuzeigen, oft im
Hinblick auf bestimmte Werke, Gattungen oder auch gesamte literarische
Tendenzen. In meinem Fall bin ich eher auf vergleichende Linguistik
spezialisiert; diese hat aber ein etwas anderes Ziel, nämlich, bestimmte sprachliche
Phänomene in zwei Sprachen zu vergleichen. Oft gehe ich in meinen
Forschungsarbeiten von einer stilistischen Besonderheit aus, die in einer
literarischen Gattung oder bei einem gewissen Autor besonders auffällt und
versuche, ihre Relevanz in den untersuchten Texten zu erläutern und zu belegen.
Dabei ist die aufwändigste Arbeit, Entsprechungen in der zu vergleichenden
Literatur zu finden, wobei die Gattung, das Thema, die literarische Tendenz und
nicht zuletzt auch die historische Epoche zu berücksichtigen sind. Was ich an
dieser Arbeit besonders interessant finde, ist, dass sich oft so viele
Gemeinsamkeiten herausfinden lassen, mehr als man anfangs angenommen hätte.
Dies, obwohl Deutsch und Arabisch auf den ersten Blick zwei so unterschiedliche
und geographisch wie etymologisch distanzierte Sprachen sind. Und eben in
diesen Gemeinsamkeiten entdeckt man Belege für die Internationalität
menschlicher Erfahrungen und für die Art und Weise, wie man sie literarisch zum
Ausdruck bringt, abgesehen natürlich von den Charakteristika einer jeder
Sprache.

Erzählen Sie
unseren Lesern von Ihrem Essai über Oswald von Wolkenstein und ‘Abu
‘l-‘Atahiya.

Ja, dieses Essay ist ein
solches Beispiel. Zunächst kannte ich nur den renommierten mittelalterlichen
arabischen Lyriker ‘Abu ‘l-‘Atahiya für seine berühmten und sehr oft zitierten
Verse über die Vergänglichkeit der Welt. Ich suchte lange nach einer
Entsprechung in der deutschsprachigen Literatur, bis ich endlich auf den
mittelalterlichen Tiroler Ritter und Sänger Oswald von Wolkenstein gekommen
bin. Was mich faszinierte, war der gemeinsame Stil der beiden Lyriker, die
weder einander kannten, noch voneinander beeinflusst sein könnten, da der
abbassidische Lyriker ca. siebenhundert Jahre früher lebte und seine Gedichte erst
im zwanzigsten Jahrhundert ins Deutsche übersetzt wurden. Dennoch findet man so
viele gemeinsame Wendungen und sprachliche Formen, insbesondere zur direkten
und indirekten Aufforderung der jeweiligen Adressaten, diese Welt zu
missbilligen, die eigenen Sünden zu bereuen, sich Gott hinzuwenden, Gutes zu
tun und des Todes zu gedenken. Es ist also das gemeinsame Thema, die gemeinsame
Gattung, aber auch die gemeinsamen menschlichen Erfahrungen der gescheiterten
Liebe und des Gefängnisses, die beide Dichter erlebten und aus denen beide
sprachen. Ihre Einsamkeit und die Reue ihrer Sünden führten in diesem Fall zu
einer so ähnlichen sprachlichen Produktion, vor allem was den Satzbau betrifft,
um die Gebote und Verbote zum Ausdruck zu bringen. Der Einfluss der jeweiligen
heiligen Schrift (dem Alten und dem Neuen Testament bzw. dem Qur
ʼān) ist bei beiden
Dichtern deutlich erkennbar. Dabei wird auch offensichtlich, inwiefern sich die
beiden heiligen Schriften stilistisch
ähneln.

Wie wichtig ist
die Aufarbeitung der Geschichte von Granada zwecks Verständnisses des
arabischen Erbes Europas?

Die historischen Romane, die
ich in meinem Aufsatz «Arabisches (Lehn-)Wortgut in ausgewählten historischen
Romanen zur Rekonstruktion des Falls von Granada» untersucht habe, sind ein
gutes Beispiel dafür. Da ist der Leser, insbesondere von Lea Kortes «Die
Maurin», mit einer Fülle von Lexik konfrontiert, die entweder transkribierte
arabische Wörter bilden, oder eben deutsche, spanische oder französische
Lehnwörter aus dem Arabischen sind. Die Autorinnen (auch Christiane Gohl und
Brigitte Riebe) versuchen dadurch, charakteristische Bestandteile der
andalusischen Kultur in dem letzten Königreich zu rekonstruieren: Durch
Begriffe der Architektur (Kuppel, Fries), der Wohnkultur (Matratze,
Baldachin
), der Kleidungsstücke (Kittel, Burnus, Kaftan) und
Textilien (Damast, Gaze), der Kochkunst (Safran, kand-) und des
Krieges (Kaliber, Fanfare, Karacke, albatozas, Arkebuse) wird diese
untergangene Kultur lebendig. Durch die Rückverfolgung der Reise dieser
einzelnen Wörter in die europäischen Sprachen – mit Hilfe von zahlreichen
Lexika der Vermittlersprachen und historischen Quellen – erkennt man, inwiefern
die arabisch-islamische Kultur diese Sprachen beeinflusst hat.

Wie wichtig ist
der „nicht“-orientalistische Blickwinkel auf die arabische Welt?

Die arabische Welt leidet
heutzutage und schon seit über hundert Jahren unter Konsequenzen des
Kolonialismus und der darauffolgenden korrupten Regime, die zum grössten Teil
für den wissenschaftlichen Rückstand dieser Länder verantwortlich sind.
Allerdings bedeutet das nicht, dass diese Gesellschaften in ihrer Blütezeit
keine Vorreiterrolle gespielt haben. Nur eine wissenschaftliche Betrachtung,
die auf Fakten und nicht auf Vorurteile beruht, ist sehr wichtig, um der
arabischen Kultur ihren wohlverdienten Rang zuzusprechen. Im Fall der oben
genannten Arabismen zum Beispiel, habe ich leider festgestellt, dass eine Reihe
von deutschsprachigen Lexika den arabischen Ursprung vieler dieser Wörter entweder bestreitet oder einfach vernachlässigt. Man nennt oft die
französische, spanische oder italienische Herkunft des jeweiligen Wortes und
bleibt dort stehen, obwohl man in den etymologischen Lexika der
Vermittlersprachen dann eine Bestätigung für den arabischen Ursprung desselben
Wortes findet.

Wie können Studien
wie die Ihren auch dazu beitragen, die Islamfeindlichkeit in Europa zu
bekämpfen?

Um auf diese Frage zu
antworten, muss ich auf das Essay von Oswald von Wolkenstein und ‘Abu
‘l-‘Atahiya zurückkommen: Im Laufe dieses Forschungsprojekts haben sich weitere
für die Theorie auch wichtige Ergebnisse feststellen lassen: Während westliche
Sprachforscher erst im ausgehenden 20. Jahrhundert den
kommunikativ-pragmatischen Aspekt der Sprache bzw. der sprachlichen Elemente
entdeckten und zu erforschen begannen, haben mittelalterliche arabische
Philologen wie as-Sakkākī im 13. Jahrhundert diesen Aspekt erkannt und
ausführlich als «
علم
المعاني
» (ʽilm al-maʽānī), d.h.
als Bedeutung der grammatischen Formen,
erläutert und kategorisiert.
Eine vorurteillose Beschäftigung mit fremden Philologien bzw. Kulturen hätte
der Wissenschaft in dieser Hinsicht Jahrhunderte erspart. Solche und ähnliche
Erkenntnisse können auch dazu beitragen, die herabschätzende Betrachtungsweise der
arabisch-islamischen Kultur zu ändern.

Wie nahe stehen
sich Josef Mühlberger und Ġassān Kanafānī und wie können Studien wie diese zur
Sensibilisierung zum Thema Palästina beitragen?

Josef Mühlberger und Ġassān
Kanafānī sind beide Opfer des Zweiten Weltkrieges und der darauffolgenden
massenhaften Vertreibung zahlreicher Völker aus ihrer Heimat. Mühlberger war
ein sudetendeutscher Prosaist aus Nordböhmen, der samt Millionen anderer
Deutsche ausserhalb Deutschlands gezwungen wurde, nach Deutschland
auszuwandern. Die erlebten Gräuel der erzwungenen Flucht in die Fremde und den
Identitätsverlust schildert er in sprachlich ausgefeilten Prosawerken. Ġassān
Kanafānī ist der einzige arabische Schriftsteller, von dem sein Gesamtwerk ins
Deutsche übersetzt wurde. Er gehört zu den wenigen palästinensischen Prosaisten,
die in einer sehr frühen Phase Leiden seines Volkes literarisch verarbeiteten.
Als zwölfjähriger Junge erlebte er die Vertreibung der Palästinenser aus ihrer
Heimat; er war Augenzeuge von blutigen Schlachten nach der Teilung Palästinas
1948 und begann in frühem Alter auch Sprachrohr dieses Schmerzens aber auch des
Kampfes gegen politische und existenzielle Konsequenzen der Vertreibung zu
sein, darunter Armut, Verlust von Familienmitgliedern und die papierlose
Existenz.
Der Heimatverlust schlägt
sich bei beiden Autoren in einer besonderen Beschäftigung mit dem «Raum»
nieder. Mühlberger, der seine Heimat im Alter von 43 Jahren verliess, benutzt
verschiedene Räume, um seine Heimat metaphorisch zu rekonstruieren; oft wirken Elemente
in der verlorenen Heimat aber auch in Transiträumen instabil und sogar
dynamisch, was Gefühle der Unsicherheit widerspiegelt. Hingegen fungieren Räume
bei Kanafānī an vielen Stellen als Metaphern von allem Verlorenen, sei es
Menschen, Gefühle, Erinnerungen und sogar akustische Eindrücke.
Meines Erachtens sollen
solche Studien dem deutschsprachigen Leser einen Einblick in ein fast
Tabu-Thema verschaffen, nämlich Vertreibungsliteratur. Eine Gattung, die selbst
in der deutschen Literatur Schwierigkeiten findet: Man will nämlich von diesem
Kapitel nach dem Zweiten Weltkrieg nichts mehr wissen: Deutsche Einwanderer
mussten sich damals eingliedern und einfach ihre Heimat vergessen.
Was Ġassān Kanafānī
anbetrifft, so versucht eine solche Studie, die sprachliche Verarbeitung der
palästinensischen Katastrophe und die Dimensionen des Heimatsverlustes aus der
Perspektive eines «Primärzeugen» darzustellen. Im Gegensatz zur deutschen
Vertreibungsliteratur ist die palästinensische bis heute immer noch aktuell:
Was Kanafānī damals erlitt, erleiden bis heute noch zahlreiche Palästinenser:
Heimatlosigkeit, Identitätslosigkeit und Papierlosigkeit. Der Palästina-Konflikt
ist seit über siebzig Jahren eine offene Wunde; und sie ist nicht die einzige
geblieben: Irak, Syrien und Jemen sind alle neue «Palästinas», die auf eine
Lösung hoffen.