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Eine Frau. Ein Mann. Ein Lift.

von Jürgmeier, 23. Sep 2018, zuerst veröffentlicht auf InfosperberWas ist wahrscheinlicher – dass eine Frau in einem Lift sexuell belästigt wird, dass ein Mann beschuldigt wird, das getan zu haben?


Red. «Infosperber»-Redaktor und Schriftsteller Jürgmeier wurde von «maenner.gr» sowie der Stadtbibliothek Chur zu einer Lesung eingeladen. Am 18. September 2018. Im Rahmen der «Aktionstage Psychische Gesundheit» des Gesundheitsamtes Graubünden vom 6. September bis 10. Oktober 2018. «Typisch Mann, typisch Frau!? Vorstellungen, wie Geschlechter sein und handeln sollen, schränken Handlungsmöglichkeiten im Alltag ein. Das Leben ist vielfältig! Auf witzige, provokante und nachdenkliche Weise regt Jürgmeier an, Bekanntes zu hinterfragen. maenner.gr und die Stadtbibliothek laden ein, uns mehr Freiheiten zu nehmen und diese wo nötig einzufordern!» So wurde die Lesung angekündigt. Den nachstehenden Text hat Jürgmeier speziell für diese Veranstaltung geschrieben.
18. September 2018
Eine Frau. Ein Mann. Ein Lift. Zum Ersten.
Eine Frau. Ein Mann. Ein Lift. Und deshalb sind Sie hergekommen? Obwohl heute Abend «die Chefin» ermittelt. Auf SRF 1. Tom Cruise wieder einmal auf «Mission impossible» unterwegs ist. Wenn auch nur im Zweiten. Was haben Sie sich bei dieser Affiche gedacht? «Eine Frau. Ein Mann. Ein Lift.» Dass die beiden sich näherkommen, als es ihnen der Fahrstuhl eh abverlangt? Wie stellen Sie sich das vor? Mit zwei Rollatoren. Zum Beispiel. In einer dieser verglasten Liftkabinen, in denen die Spannerin mit Feldstecher von gegenüber noch die Farbe der lackierten Zehennägel erkennen würde. Oder haben Sie sich die beiden, ganz selbstverständlich, als junge Menschen gedacht? Als heterosexuelle Schönmenschen? Mit langen, braun gebrannten und glatt rasierten Beinen? Die man an diesem Sommertag auch sehen würde. Frau selbstverständlich auch. An diesem meteorologischen Hitzetag. An dem auch Männer lieber luftige Röcke trügen. Wie, besonders, Frauen glauben. Statt Originaljeans, die an erotisch verschwitzten Kniekehlen kleben. Aber was wäre ein Mensch mit Jerseyrock und antistatischen Schuhen, Suva-«Kennzeichnung A», mit getrimmtem Bart und zwei Einkaufstüten in jeder Hand, auf dem Weg zum Mu-Ki-Schwimmen? Ein Mann? Eine Frau? Wann sind Sie sicher, dass eine Frau eine Frau, ein Mann ein Mann ist? Erst, wenn Sie ihr oder ihm Slip oder Boxershorts runtergerissen wie im Film «Boys don’t cry»? Müssen Sie das Lohnkonto und die Waffensammlung gesehen haben? Oder haben Sie noch ein anderes Korsett, neben Frau und Mann, in der Schublade?
Sie, jedenfalls, war gefangen. In diesem Lift mit Zielwahlsteuerung. Das Tippen auf den Touchscreen draussen legt einen fest. Wie ein Vertrag mit Konventionalstrafe. Wer in den Lift steigt, wird direkt ins angewählte Stockwerk gebracht. Im Innern kein Knopf für spontane Einfälle, keine Taste für Wankelmütige. Dreissig Sekunden braucht einer der 54 Personenlifte für die 102 Stockwerke des auf 1776 Fuss hochgezogenen One World Trade Centers auf dem Ground Zero. Wie lange wäre sie im Churer Lacuna Hochhaus, 85 Meter und 25 Etagen hoch, mit diesem Unbekannten zusammen? Den sie in den letzten Jahren etwa zwei, drei Mal gesehen. Ein offensichtlich kerngesunder Mann, der die Gruppenpraxis visavis nur für den «Checkup 35» oder die Grippeimpfung aufsuchte. Wie viel Zeit blieb ihr in diesem modernen Aufzug – um das neuste Getwitter zu checken, über den Sinn des Lebens nachzudenken oder die To-Do-Liste durchzugehen? Sie musste dringend den geflickten Stuhl bei der Schreinerin abholen. Wie viele Minuten, wie viele Sekunden hatte sie für die Menuplanung, um sich ein Geschenk für den Fünften ihres Neffen auszudenken oder sich vorzustellen, was ihr so alles passieren könnte, in diesen paar Kubikmetern, in denen Menschen sich näherkommen als Kühe im Laufstall und Geschlechterverhältnisse sich verdichten.
«Züchten Sie auch Rosen?»
Vor ein paar Wochen hat ihr ein Arbeitskollege beim Kopierer die Hand unter die linke Achsel geschoben und gespottet, es verstosse gegen das Folterverbot, dass er ihre Beine immer nur ansehen dürfe. Eine Kollegin spürte letzthin im vollgestopften Tram eine fremde Hand im Schritt. Ihre Mutter hatte ihr schon vor Jahren anvertraut, sie sei als junge Frau von einem Mann mit zwei Hunden gezwungen worden, ihm zu folgen. In seiner Wohnung habe er sie auf den Boden gedrückt und vergewaltigt. Immer die beiden knurrenden Hunde neben ihrem Kopf. Und ihre Facebook-Freundin, eine Pekinger TV-Moderatorin, war von einem Bekannten im Lift in die Ecke gedrängt worden. Als er versuchte, sie zu küssen, schlug ihn die Kickboxerin k.o. Sie selbst hatte mit dem Karate schon nach einem halben Jahr wieder aufgehört. Sie wollte sich nicht als potenzielles Opfer, allzeit schlagbereit, durchs Leben kämpfen. Sie ärgerte sich über die Bilder, die ihr durch den Kopf wirbelten. Vorsicht und Generalverdacht in ihrem Hirn ablagerten. Überlegte, ob sie das angestrengte Schweigen – das Fantasien und Ängste befeuerte – beenden und ein lockeres Gespräch über Urban Gardening beginnen sollte. Und wollte. Aber würde der Mann, den sie der Generation ihres Vaters zuordnete, die Frage «Züchten Sie auch Rosen?» nicht als Aufforderung verstehen?
«Freuen Sie sich auch auf den Herbst, oder haben Sie gerne so heiss?» Kam ihr der Mann zuvor. Der zum Handy gegriffen, als er registriert hatte, dass er auf ihre Beine zu starren begann und bemerkte, dass die oberen Knöpfe ihrer Bluse, die auch ein Männerhemd hätte sein können, offen waren und ihm Teile ihrer Brüste präsentierten, die normalerweise von der Sonne nicht bestrahlt wurden. Es beschämte ihn, dass sein Blick, im Gegensatz zu seinen Hüften, nicht zu altern schien und ihn in den Augen der Frau, die seine Studentin hätte sein können, als Bedürftigen zu denunzieren drohte. Das geschäftige Streicheln des Smartphones ermöglichte es ihm, die Frau – deren Körper ihm vertraut zu werden begann, bevor er ihre Stimme gehört hatte – zu ignorieren, ohne sie zu kränken. Nicht nur in jüngeren Jahren hatte sich der Eitle manchmal vorgestellt, eine Geheimnisvolle würde ihm in einem leeren Zugsabteil, in einer Beiz, in der das Personal schon diskret einzelne Lichtergruppen löschte oder, eben, in so einem fahrenden Stuhl ihr Begehren zeigen. Würde er wie fünfzehn von zwanzig Testmännern – die in der Sendung «Typisch Frau – typisch Mann» mit Günther Jauch, im Rahmen eines Experiments, von einem weiblichen Lockvogel zu einem Quickie animiert wurden – das eindeutige Angebot freudig annehmen? Oder würde er, dreizehn Genderjahre später, verzweifelt den Stoppknopf drücken, um im 33. Stock aus der Liftkabine zu flüchten? Unter irgendeinem Vorwand. Die Urinprobe im Wartezimmer stehen lassen, zum Beispiel. Er musste lachen, und bevor sie ihn auffordern konnte, ihr vorzulesen, was ihn derart erheiterte, rettete er sich wie alle Konfliktscheuen in ein Gespräch über den heissen Sommer.
«Geile Hose übrigens»
«Nein», antwortete sie. Sie geniesse die warmen und langen Abende. Am liebsten würde sie DaunenjackenLammfellstiefelThermounterwäsche bei der Caritas entsorgen, immer ohne Socken herumlaufen und das ganze Jahr im Silsersee schwimmen. «Aber darauf hoffe ich ja vergebens.» Seufzte sie. «Nach diesem heissen Sommer gibt’s sicher einen kalten Winter ohne Ende.» Er war dankbar, dass sie ihn in vertrautes Gelände lockte. «Sie werden es noch erleben», malte er ihr an die Wand, ohne ihre Zukunftspläne und Sehnsüchte zu kennen, «dass Sie Ihren Enkeln erklären müssen, weshalb diese die versunkene Stadt, Venedig, nicht mehr besuchen können, in der ihre Grossmutter in jungen Jahren romantische Tage verbracht hat.» Bevor das unverbindliche Gerede übers Wetter in einen beklemmenden Disput über das Klima kippte, beendete eine Konservenstimme mit der Ankündigung der untersten Etage den aufkommenden Streit. Die Klimaskeptikerin lächelte den Grünmenschen an: «Anscheinend haben Sie nicht gelesen, was ein spanischer Bürgermeister letzthin im Radio gesagt hat.» Er verstand nicht. «Der steigt nicht mehr mit einer Frau allein in einen Lift, aus Angst, die behaupte hinterher, sie sei Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden.» Erklärte sie und schmunzelte maliziös: «Aber wer würde mir schon glauben, dass ein Mann wie Sie mich begrabscht. Das traut Ihnen doch keiner und keine zu. So einem wie Ihnen.» Bevor er sich entscheiden konnte, ob das ein Kompliment oder üble Nachrede war, verliess sie den Ort ihres kurzen Zusammenlebens, zupfte im Vorübergehen an seinen Shorts – in denen er sich immer etwas lächerlich vorkam, nicht nur wegen der unrasierten Beine –, drehte sich noch einmal um, spöttelte «Geile Hose übrigens» und liess einen Verblüfften zurück, der sich fragte, ob er das eben gerade wirklich erlebt oder ob es der Autor nur erfunden hatte.
Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie im Aufzug des 126 Meter hohen Zürcher Prime Towers bedrängt oder im Willis-Tower, in Chicago, nach siebzig Sekunden Fahrzeit zu Unrecht, aber empört beschuldigt werden, Sie hätten Ihren Körper begehrend und gewaltsam an einen Menschen gedrängt, der noch vor anderthalb Minuten Teil der anonymen 7.5-Milliarden-Masse gewesen, die Ihnen manchmal den bedrohlichen Satz «Es gibt einfach zu viele Menschen» entlockt? Wie gross, dass Sie eine vertraute Person in den gemeinsamen vier Wänden zu sexuellen Handlungen nötigen? Sie als Frau? Sie als Mann? 
Eine Frau. Ein Mann. Ein Lift. Zum Zweiten.
Sie hatte sich gerade entspannt an die Wand gelehnt und freute sich auf die paar Sekunden, in denen sie nur von einer Videokamera eingefangen werden würde – da stürzte sich, beobachtet von einem bezahlten Spanner oder einer professionellen Voyeurin vor irgendeiner Monitorwand, so einer in den Spaltbreit und stemmte sich erfolgreich gegen das Schliessen der Lifttüren. Schluss mit dem Frieden. Sie schaute ihn erst an, als sie seine Stimme erkannte. Es war der Mann, den sie auf ihrem Handy unter «Liebster» abgespeichert hatte. «Das trifft sich ja perfekt, dass du einen Stuhl dabeihast.» Grinste er und forderte sie mit einer schwungvollen Bewegung auf – die an einen nur zwei-, dreimal geprobten Hofknicks erinnerte –, bat sie, sich auf den Stuhl zu setzen, der jetzt problemlos wieder dreihundert Kilos Lebendgewicht standhalten würde. Sie tat ihm den Gefallen, schlug die Beine übereinander und imitierte Miss Universe auf dem Thron. Er liess sich auf die Knie fallen, wie sie das nicht einmal mehr bei Rosamunde Pilcher tun. Aber diese jungen Leute heiraten ja wieder mit allem DrumundDran, als wollten sie ihren geschiedenen Eltern beweisen, dass sie schaffen würden, woran die gescheitert waren. Fragte sie, ob sie mit ihm das Meinsolldeinsein wagen wolle. Versprach ihr, sie zu begehren und zu lieben, bis der Hühnervogel ihn hole oder die Prostata ihn stoppe. Steckte ihr einen Ring aus Karbon an den Finger. Und erklärte: «Als Platzhalter, bis wir die richtigen haben.»
«Ich gehe doch nicht zum Vergnügen vor dir auf die Knie»
«Du bist ein verrückter Kerl!» Lachte sie das Lachen, mit dem sie ihm regelmässig das Gefühl gab, sie sei seinen Eltern dankbar, dass die damals ihre Velos an den Strassenrand gestellt, obwohl sie nicht mehr daran glaubten, dass frau deswegen in die Hoffnung kommen würde. Dann küsste sie ihn – als würde sie seine Existenz immer wieder von Neuem feiern wollen. So leidenschaftlich, wie auch Sie sich das hoffentlich vorstellen können. So lange, dass der Lift im höchsten Gebäude der Welt, dem 830 Meter hohen Burj Khalifa in Dubai, längst das oberste Geschoss erreicht hätte, aber diese gemächlichen Lifte aus den Siebzigerjahren lassen den Liebenden auch in Gebäuden, die nie im Nebel verschwinden, etwas mehr Zeit. Er interpretierte ihr Lachen und ihre Zärtlichkeiten als «Ja, ich will». Griff ihr unter die Kniekehlen. Und da haben Sie gedacht, diese Jungen seien auch nicht mehr so wild wie wir, also wie Sie damals. Nur noch Cybersex statt analoge Leidenschaft, mit 14 pornosüchtig und mit 16 das erste Mal Viagra. Das alles geht Ihnen, das heisst mir durch den Kopf – nur wegen dieses blöden Lifts. Froh, dass er drei Mal wöchentlich Bizeps und Sixpack trainierte, hob er sie hoch, so dass die Frau den Boden unter den Füssen verlor, was Männern auch 2018 nur selten passiert. Trug sie – inzwischen war der Aufzug dann doch am Ziel ihrer Träume angekommen – über zwei Schwellen und liess sie auf das Bett fallen, das schon ein gemeinsames war. Aber als alle Kleider an Orten verstreut waren, wo sie in einem aufgeräumten Haushalt nicht hingehören; als die beiden sich einander hatten zufallen lassen, ihre Körper sich aneinander und ineinander drängten, zeigte sich ihr Kopf eigenständiger als ihr Schoss. Sie stemmte sich plötzlich gegen seine kalt gewachste Brust und keuchte: «Du willst mich wirklich heiraten? So richtig?» «Klar», schnaufte er, «ich gehe doch nicht zum Vergnügen vor dir auf die Knie. Und natürlich kannst du auch den Polterabend mit deinen besten Freundinnen haben.»
Sie stand auf. Setzte sich an den Tisch. Ohne sich elegant in das Leintuch zu hüllen, wie es die Damen in solchen Momenten in Filmen so gerne tun, aber eben nicht mit einem Fixleintuch. Als sie den Plastik auf ihrer Haut spürte, ärgerte sie sich, dass sie den Holzstuhl in der ganzen Aufregung im Lift hatte stehen lassen. «Dann müssen wir reden.» Sagte sie. Und es klang bestimmt. Als erinnerte sie sich, mit Schweisstropfen auf dem Bauch, an den Frauensatz «Erst reden, dann Sex». Oder war das der Satz der Herren der Schöpfung? Der Mann – der geniale Geist. Die Frau – der schöne Körper. Zuerst liebeln, dann diskutieren. Oder würden Sie «vögeln» sagen? Ficken? Miteinander schlafen? Koitieren? Wie auch immer – zuerst das eine, dann das andere. Oder umgekehrt. Männersätze. Frauensätze. Alles Klischees. Geschlechtervorurteile. Ideologie. Würde sie, womöglich, reklamieren, wenn sie mir, in irgendeinem Lift, beim Notizenmachen über die Schultern schauen könnte. Wozu sie nie in der Lage sein wird.
«Jeder anständige Mensch putzt seine Scheisse selbst weg»
Ihm war klar, er würde sein «Ja» erst bekommen, wenn auch die Sache mit dem Reinigen des Ortes, den meine Grossmutter noch «Abtritt» genannt hatte, geklärt war. Und eine Putzfrau sans papiers würde ihren Fall auch nicht lösen. Nicht einmal, wenn es ein hübscher Raumpfleger mit Ausweis S, für Schutzbedürftige, wäre. «Jeder anständige Mensch putzt seine Scheisse selbst weg.» Hatte sie in ihrem zweiten Chat auf Lovoogeschrieben. Und er hatte sich etwas gewundert. Über die Sprache der Frau, die in ihrem Profil fast zerbrechlich wirkte. Darüber, dass sie ihm in einem Flirt-Matching – das für Frauen gratis war – mit dem Putzen kam. Inzwischen wusste er, sie bestellte auch kein Steak Lady Size. Bevor das Brautkleid genäht und die Lackschuhe poliert werden würden, musste verhandelt werden. Und es würde dauern, bis er wieder an den Ort der Leidenschaft oder des Schnarchens zurückkehren könnte. Er setzte sich zu ihr an den Tisch, und sie redeten. Redeten über berufliche Perspektiven, Organisation des Alltags und Care-Ökonomie. Waren sich einig, dass kein Leben der Karriere einer anderen unterworfen werden dürfte, keiner und keine dem anderen den Rücken freihalten, dass Schwangerschaft oder ihr Abbruch im Konsens entschieden werden müsste, kein «Mein Bauch oder mein Sperma gehört mir» – falls das je ein Thema werden sollte. Und dass keine die Kinder dem anderen vertrauensvoll überlassen, sondern diese zu gleichen Teilen vom einen und von der anderen gewickelt oder ins Jugendgericht begleitet werden würden.
«Das Geld teilen wir brüderlich und schwesterlich. Von Anfang an. Nicht erst bei der Scheidung.» Bestimmte sie. «Lieber nicht», entfuhr es ihm, und er war sich der Zweideutigkeit bewusst, «aber ich weiss, was du meinst – alles auf ein gemeinsames Konto.» «Nein», stellte sie klar, «alles 50:50 auf unsere individuellen Konten überweisen lassen. Davon bezahlt jeder seinen Teil der gemeinsamen Ausgaben, und der Rest bleibt ihr zur freien Verfügung. Dann ist das mit Steuern, AHV und Pensionskasse auch gleich geklärt.» Er überlegte kurz, ob diese Splittinglösung ein Differenzbereinigungsverfahren zwischen National- und Ständerat sowie die Volksabstimmung überstehen würde, dann fiel ihm ein: «Aber du verdienst doch viel mehr als ich.» Auch wenn er bei dieser Frau mit allem rechnete, mit dieser Antwort nicht. «Eben.» Eine Frau. Ein Wort. Und keine weiteren Erklärungen.
«Toleranz und Privatsphäre», erinnerte er sich. Das musste sein. Bei aller LiebeLeidenschaftRomantik. «Nicht in Facebook, Handykontakten, Computerfestplatten des anderen herumschnüffeln.» Verlangte er aufgrund gemachter Erfahrungen von Freunden, die er Kollegen nannte. «Keine Eifersuchtsszenen, wenn ich mit den Kumpels einen Fussballabend mache oder um die Häuser ziehe.» Sie schüttelte spöttisch den Kopf und wurde konkret: «Jede und jeder ein eigenes Zimmer.» Soweit hatte er eigentlich nicht gedacht. Nickte aber reflexartig.
«Das gilt aber auch für mich»
«Und, gäll», vergewisserte sie sich, «nur ein Ja ist ein Ja.» Er wusste, was sie meinte. In Schweden galt seit dem 1. Juli 2018 das sogenannte «Einverständnisgesetz». Der damalige sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven hatte es «seinen» Bürgerinnen und Bürgern in der Weihnachtsrede 2017 so erklärt: «Du musst dich bei der Person, mit der du Sex haben willst, erkundigen, ob sie es will. Wenn du dir unsicher bist, musst du es lassen. Sex muss freiwillig sein.» Und bei der schwedischen Aktivistin Ida Östensson – er las manchmal feministische Texte – hatte er den Satz gefunden: «Wenn du nicht weisst, wie Zustimmung aussieht oder was ein Ja-Signal ist, dann würde ich dir ernsthaft raten, ein Blatt Papier und einen Stift mitzunehmen und nach einer Unterschrift zu fragen.» «Kein Problem», erklärte er sich einverstanden. Aber in seiner Stimme schwang leiser Trotz mit, als er nachschob: «Das gilt aber auch für mich.» Dann wurde er praktisch: «Soll ich ein Formular machen, so müssten wir jeweils nur noch unterschreiben und könnten uns anschliessend lustvolleren Dingen zuwenden.» Sie schaute ihn mit diesen grossen traurigen Augen an, mit denen sie ihn sofort dazu bringen würde, die ganze Putzerei und gleich noch das EinkaufenKochenWaschen zu übernehmen. Aber darum ging es ihr nicht. «Wenn es soweit kommt», erklärte sie bedrückt, «wenn unser Sexualleben zur Gerichtssache wird, nur in diesem Fall brauchten wir ja Beweise, dann lassen wir das mit dem Heiraten und der ganzen Romantik am besten gleich ganz.» Er bekam es mit der Angst zu tun. Würde sie tatsächlich von diesem Tisch aufstehen – und Schluss? «Aber», konnte er sich (und sie) gerade noch retten, «aber das war doch ein Scherz. Wie könnte ich je nicht spüren, ob du Lust hast oder nicht, du erotische Geniesserin. Ich bin doch nicht aus Holz.» Holz isch heimelig. Wobei er keinen Moment an diesen verdammten Stuhl dachte.
So ging es hin und her. Am Tisch. Nackt. Sie redeten die ganze Nacht. Bis ihnen kalt wurde, alles gesagt und er froh war, dass ihm die Vegetarierin – kein Steak Lady Size – das Fleisch nicht aus dem Speiseplan strich.
Eine Frau. Ein Mann. Ein Lift. Zum Dritten.
Der Kommissar steht vor dieser Glaswand, von der sie falsche Verdächtigungen, Spuren – die in die Irre geführt – und bestätigte Tätermotive wegwischen, wenn ein Fall gelöst ist. Aber so weit sind sie noch lange nicht. Was sie sicher wissen – «Sicher ist gar nichts. Wirklichkeit ist immer nur, was wir im Moment für möglich halten», würde die Chefin sagen, wenn sie da wäre –; was sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wissen, ist nicht gerade viel. Ein Mann und eine Frau stiegen am Freitag in einen Lift. Heraus kam, im Parterre, nur die Frau. Das bestätigten verschiedene Zeuginnen. Auch Männer. Die einen beschrieben sie als ältere Dame, die anderen als Frau, die den besseren Teil des Lebens noch vor sich hätte. Auch das Alter liegt im Auge der Betrachterinnen und Betrachter. Der Mann wurde am Montag von seiner Frau – die sich, bei Nachfrage, als Zukünftige herausstellte –, als vermisst gemeldet. Alles andere ist noch unklar. Und das Geschlecht womöglich nur Gerücht.
«Welcher andere Mann würde das tun? Sie etwa?»
Die Frau wirkte verzweifelt. Drei Nächte ohne Schlaf drückten ihr auf die Augen. Ihm war schon nach wenigen Minuten klar, sie gehörte nicht zu den Abhängigen, die einen Mann zum Leben brauchten, sondern zu denen, die spotteten, Hochzeiten seien die schönsten Tage für HeiratsplanerSchneiderinnenFloristenPfarrerWinzerinnen. Trotzdem schien das Verschwinden dieses Mannes die Autonome in ein schwarzes Loch zu stürzen. Die etwas hinterhältige Frage, wieso sie dessen Abwesenheit erst jetzt, am Montagmorgen um acht, melde, parierte sie souverän, aber den Tränen nah. Er, der Kommissar, wäre doch der erste gewesen, unterstellte sie, der ihr am Freitagabend geraten hätte, sie solle sich beruhigen, sich ein gemütliches Wochenende mit ihrer besten Freundin machen, vor Montag würden sie eh nichts unternehmen. Und bestimmt, verdächtigte sie ihn, hätte er irgendeinen blöden Spruch gemacht – am Sonntagabend sei schon mancher wieder nach Hause gekommen, den irgendeine Frau bereits in der Urne gesehen, besoffen womöglich oder anderweitig beglückt. Er fühlte sich durchschaut – genau das hätte er ihr empfohlen. Konfrontierte sie, eine unbeholfene Entschuldigung murmelnd, mit der Möglichkeit, dass der Mann – mit dem sie GabelnFrottierwäscheRebounder teilte – sich, purlimunter, in ein anderes Leben verabschiedet haben könnte. Jetzt brach ihre Beherrschung zusammen. Den herausgeschluchzten Satzfetzen musste er entnehmen, dass sie diese Vorstellung ungeheuerlich fand, für völlig undenkbar hielt – bei einem Mann, der im Lift vor ihr auf die Knie gegangen und hinterher eine Nacht lang ihr künftiges Zusammenleben mit ihr verhandelt hätte. Sie blies eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht, fixierte ihn mit stahlblauen, aber etwas wässrigen Augen, und fragte: «Welcher andere Mann würde das tun? Sie etwa?» Der Kommissar, der zwar nicht «der Alte» war, aber das Menschenmögliche gesehen hatte, liess sich nicht aus der Ruhe bringen, erwiderte gelassen: «Das gibt es immer wieder, dass einer, meistens ist es einer, verkündet, er gehe noch schnell Zigaretten holen, oder Gummibärli, und dann kommt er nie oder erst Jahre später wieder.»
Die Bemerkung, es gäbe noch andere attraktive Männer unter Mond und Sonne, behielt er für sich. Er hätte die Frau, von der er nur ahnen konnte, dass sie eine eigensinnige war, gerne in die Arme genommen und getröstet, aber das verbot die Situation, die eine professionelle war. Schliesslich war er kein Fernsehkommissar. Die erlagen ja, selbst die Frauen, immer wieder der Verführung, die von der fast intimen Nähe zu ZeugenOpfernTäterinnen ausging, von denen sie schon nach fünf Minuten Dinge erfuhren oder zumindest erfahren wollten, nach denen Sie nicht einmal ihre besten Freunde geschweige denn Ihre Liebsten fragen würden. Jetzt beispielsweise wollte er wissen, in welchem Verhältnis sie zu dem Mann stünde, den sie am Donnerstag an den kurzen Hosen gezupft. Statt einer Antwort die Gegenfrage: «Woher wissen Sie das? Wir waren doch allein in diesem Lift.» Als er ihr erklärte, sie müssten allen, auch den scheinbar nebensächlichsten Hinweisen nachgehen und sich u.a. stundenlange banale Video-Aufzeichnungen ansehen, leider ohne Ton, wollte sie wissen, ob sie bei ihren minuziösen Ermittlungen zufällig auch den Holzstuhl gefunden hätten, den sie im anderen Lift habe stehen lassen. Den hätte sie gerne wieder. Die Frage machte es ihm leichter, Distanz zu wahren. Machte ihn misstrauisch, was eigentlich zu seinem Beruf gehörte. War die Angst der Frau um den Liebsten nur gespielt? Dass sie jetzt an diesen läppischen Stuhl dachte? Aber begannen in Zeiten des Todes und anderer Katastrophen nicht die meisten Leute, belangloses Zeug daherzureden, neben einer Leiche zerbrochene Gläser wegzuräumen und mit Mineralwasser an den Blutflecken auf dem Teppich herumzureiben? Als ob sie so den Zusammenbruch der Normalität aufhalten, den drohenden Winter vertreiben könnten.
«So schön sollte man es haben»
Die weiteren Nachforschungen ergaben – die Frau wohnte mit ihrem Verschwundenen im westlichen Teil des Gebäudes. Über eine verglaste Passerelle gelangte man in ihrem, dem obersten Stock in den Ost-Trakt, wo er, ebenfalls zuoberst, in einem Büro für IT-Support arbeitete. Da er im Gegensatz zu ihr keinen Arbeitsweg hatte, stand das Essen meistens schon auf dem Tisch, wenn sie nach Hause kam. «So schön sollte man es haben», jammerte der Kommissar, der sich regelmässig eine Pizza oder einen Karton mit Sushi ins Büro liefern liess. Dafür rannte der Mann manchmal mitten in der Nacht durch den dunklen Übergang, um einen abgestürzten Server neu zu starten. Und die Frau, die allein aus dem Lift gekommen war, hatte ihre psychotherapeutische Praxis direkt neben dieser Computerberatung. Da es im Gegensatz zu dem modernen Lift mit Zielwahlsteuerung in den Aufzügen in diesem Gebäude aus den Siebzigerjahren keine Überwachungskameras gab, war nur schwer herauszufinden, was mit Holzstuhl und Mann passiert war.
Die Zukünftige, die so plötzlich ohne Bräutigam dastand, beschuldigte die Psychotherapeutin, sie habe den Mann, der ihr das Ja-Wort vor Zeugen und Zeuginnen habe geben wollen, umgebracht. Sie sei schliesslich als Letzte mit ihm Lift gefahren. Ein Arbeitskollege ihres geliebten Mannes habe die beiden gesehen. Was der bestätigte, er sei dem Kollegen nachgerannt, weil der das Handy im Büro vergessen habe, und was würde man schon einen Tag lang ohne Smartphone machen, aber er habe nur noch gesehen, wie sich die Lifttüren hinter dem Kollegen und der «Psychotante», wie er sie durchaus liebevoll nannte, geschlossen hätten. Die Psychotherapeutin, behauptete die Frau – die ihrem Stuhl nachtrauerte – habe als Lehrerin ein sexuelles Verhältnis mit dem damals Sechzehnjährigen gehabt. Das habe er ihr in der langen Nacht vom vergangenen Donnerstag gestanden. Bisher habe er das niemandem erzählt. Nicht einmal den Männern in seiner Gruppe. Habe sich geschämt. Männer hätten ja generell Mühe, sich als Hilflose zu sehen, stichelte sie. Aber er habe vor ihrem grossen Tag dafür sorgen wollen, dass kein Geheimnis zwischen ihnen stünde. Jetzt verstehe sie sein Verhalten viel besser. Manchmal, sie schaute den Kommissar verlegen an, manchmal wiche er plötzlich zurück, wenn sie ihn begehrend berühre, «anmache», sagte sie wörtlich. Der Kommissar verlor sich für einen Moment in Bildern und eigenen Gedanken, dann riss er sich zusammen und hörte sie weiterfahren, er habe die «Seelenklempnerin» – die immer so getan habe, als würde sie ihren ehemaligen Schüler nicht kennen – bei nächster Gelegenheit darauf ansprechen wollen. Um «diese Sache» endlich abschliessen zu können. Das habe er am Freitag im Lift bestimmt getan. Er habe ihr die Frau einmal von Weitem gezeigt und erklärt, das sei seine Deutsch- und Französischlehrerin gewesen. «Immer noch eine sehr schöne Frau», ergänzte sie – ohne Zwischentöne. Die Professorin für klinische Psychologie sei wahrscheinlich in Panik geraten, habe Angst bekommen, er könnte die alte Geschichte an die Öffentlichkeit zerren, wie das Männern ja immer wieder passiere, und ihre heile Welt zerstören. «Was dann geschehen ist, können Sie sich besser vorstellen als ich.» Sie liess die Tränen fliessen, schob mit einer ihm schon vertraut werdenden Bewegung eine schwarze Strähne hinters Ohr und richtete sich auf; wenn sich ihr Kopf bekümmert gegen die Tischplatte neigte, fielen ihr die Haare immer wie ein Vorhang ins Gesicht. «Vorstellen kann ich mir viel», brummte der Kommissar – den weinende Frauen immer noch ganz nervös machten –, wies die Unglückliche darauf hin, sie erhebe da eine schwere, eine sehr schwere Beschuldigung, «und im Übrigen», stellte er nüchtern fest, «haben wir noch nicht einmal eine Leiche».
«Ich erinnerte mich nie an meine Schüler»
«Nein», gab die Professorin zu Protokoll – die nichts von den Verdächtigungen wusste, die gegen sie erhoben wurden –, sie kenne diesen jungen Mann nicht. Einmal habe er ihr netterweise geholfen, als sich ihre Klienten beklagt hätten, sie bekämen Hunderte von Werbemails von ihr. «Die ich nie abgeschickt habe», entrüstete sie sich. Eigenwerbung verstosse schliesslich gegen die therapeutischen Standesregeln. Er habe irgendetwas von «Spams» und «Computer gehackt» gefaselt. Der Kommissar versuchte, sich vorzustellen, wie sie, damals, vor fünfzehn Jahren ausgesehen, und dachte, was Jan Fleischhauer am 23. August 2018 im Spiegel in der Sache Jimmy Bennett versus Asia Argento, Namen tun hier nichts zur Sache, schrieb: «Die meisten 17-Jährigen würden es als Glücksfall empfinden, wenn sie eine ältere Frau von den hormonellen Verstörungen befreien würde, die mit der Spätpubertät einhergehen.» Wahrscheinlich hätte er genickt, wenn er diese Fleischhauer-Kolumne gesehen und weiter gelesen hätte: «Feministinnen mögen mich für das, was ich jetzt schreibe, steinigen: Aber für mich macht es einen Unterschied, ob sich ein Mann über eine Frau hermacht – oder eine Frau über einen Mann.» Auch der Kommissar konnte, wollte sich einen Mann nicht als Opfer vorstellen. Nicht einmal einen angehenden. «Und bei dieser Gelegenheit», versuchte er die psychologisch Geschulte aus der Reserve zu locken, «bei dieser Computergeschichte haben Sie sich nicht daran erinnert, dass sie ihm damals, als er noch Ihr Schüler war, zu nahegekommen sind?» Die Kühle schien die Beschuldigung nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. «Ich erinnerte mich nie an meine Schüler.» Stellte sie fest. «Wenn sie nicht mehr in meinem Zimmer sassen, war alles weg – Name, Gesicht, biographischer Hintergrund.» «Im Übrigen», sie sah ihm mit festem Blick in die braungrünen Augen, offensichtlich hatte sie durchaus verstanden, was ihr da vorgeworfen wurde, «im Übrigen bin ich nie einem Schüler näher gekommen. Dieser ganze pädagogische Eros ist doch nur eine Tarnung für pädosexuelle Männer.» Er registrierte, dass sie nicht «pädophil» sagte, sich in diesen fachlichen Differenzierungen auskannte. Jetzt hätte die Chefin vermutlich «und Frauen» gesagt. Aber gab es das überhaupt – pädosexuelle Frauen?
Der Mann, bestätigte die Psychotherapeutin immerhin, sei tatsächlich mit ihr in den Lift gestiegen. Und hatte eine einfache Erklärung für den Umstand, dass sie unten allein ankam. Kaum habe sich der Aufzug abwärts bewegt, habe er wie wild, immer und immer wieder, auf den Stoppknopf gehämmert und sei dann zwei, drei Stockwerke weiter unten wieder hinausgestürmt. Ohne ein Wort zu sagen. Auf tiefenpsychologische Interpretationen verzichtete sie, was dem Kommissar nur recht war. Hatte der offensichtlich leicht aus der Ruhe zu Bringende bemerkt, dass er sein Handy vergessen? War ihm eingefallen, dass er unbedingt noch einen Nachtrag in den Abmachungen mit seiner Liebsten platzieren wollte? Oder hatte ihn ein Verlangen, das er für Leidenschaft hielt, befallen, das kein Nein akzeptierte – weder die Notwendigkeiten der beruflichen Existenz noch die Lustlosigkeit der Begehrten, die nur ein paar Etagen weiter oben in ihrem Bett lag? Oder hatte diese auf seinem Handy inzwischen entdeckt, dass er die Lehrerin – die jetzt eine Therapeutin war – noch immer heimlich besuchte? «Ödipale Phantasiespiele», würde die es vermutlich nennen. Hatte die Frau mit den grossen Augen und den feinen Händen ihn mit beachtlicher krimineller Energie auf falsche Fährten locken, daran hindern wollen, auf die Idee zu kommen, sie selbst könnte durch das eine oder andere so nachhaltig von ihrem Liebsten enttäuscht worden sein, dass sie nicht nur dem gemeinsamen «Für immer und einen Tag», sondern auch dessen individuellem Leben ein Ende gemacht hatte? Obwohl sie keine Aussicht auf eine Witwenrente hatte und auch sein teures Mountainbike nicht erben würde. Oder war der Mann mit Antrag und Kniefall nach dieser verbindlichen Nacht plötzlich in Panik geraten – «beziehungsgehemmt» wäre die Interpretation der Professorin –, war er nicht nur aus dem Lift, sondern auch aus dem «Lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage» gestiegen und hatte sich mit dem nächstbesten Flieger oder Zug in ein unbekanntes Irgendwo abgesetzt?
«Ich bringe Ihnen Ihren Stuhl»
Oder hatte der Mann mit den lächerlichen Shorts das «Geile Hosen übrigens» als Ermutigung empfunden? Auf den Videoaufzeichnungen jedenfalls war zu sehen, wie er der Frau mit den Beinen, die ihn zum Handy hatten greifen lassen, noch lange nachschaute und dann in die gleiche Richtung wegging. War er hinter ihr hergeschlichen, hatte er den Stuhl im leeren Lift gefunden, mit den Händen über das Holz, auf dem sie gesessen, gestreichelt, sich in den Wahn gesteigert, sie habe ihm versteckte Zeichen gegeben, die ganze Nacht vor dem grossen Wandgemälde gewartet, bis der andere Mann die Wohnung verlassen? Hatte er sich vorgestellt, wie er läuten, zu der Verblüfften – die sein Verlangen weckte, ohne es zu wissen – sagen würde: «Ich bringe Ihnen Ihren Stuhl.» Wie sie ihn zu einer Tasse Kaffee einladen und auf mehr hoffen lassen würde. Wurde er aus diesen Träumen gerissen, als der fremde Mann – noch bevor er die Klingel hatte drücken können – wieder durchs Treppenhaus heraufstürmte und nur durch tatkräftiges Handeln gestoppt werden konnte? Befragt, gab der Mann erst an, diese Frau nur einziges Mal, in den drei Lift-Minuten gesehen zu haben. Mit der Aussage konfrontiert, er sei von mehreren Zeugen beobachtet worden, gab er schliesslich zu, der Frau gefolgt zu sein, habe sich aber nicht getraut, sie anzusprechen, habe tatsächlich diesen Stuhl gefunden, sei sich plötzlich lächerlich vorgekommen – «Als Mann in unserem Alter», nuschelte er mit gequältem Lächeln, der Kommissar zuckte zusammen –, er habe nach dem geölten Eichenholz gegriffen und sei nach Hause gerannt. «Sehen Sie», er stand auf und zeigte stolz den Stuhl, auf dem er sass, «ein gut gearbeitetes Stück.» Dann fiel es ihm ein: «Diebstahl, ich weiss, aber Sie sind ja von der Mordkommission.» Er werde den fremden Besitz in ein paar Tagen unauffällig vor ihre Türe stellen. Er hoffe, der Kommissar gönne ihm die kleine Freude. Der hatte ganz andere Probleme.
Die Variante mit der sexuellen Hörigkeit eines ehemaligen Schülers als Motiv für einen Mord musste er fallen lassen. Die Frau – der Singlemonate drohten – konnte das Natel, wie ältere Schweizer Männer zuweilen noch sagten, gar nicht haben, das hatte der Arbeitskollege bei der polizeilichen Befragung als Beweismaterial abgeben müssen. Dank des internen Speichers waren sie auf den obligaten und grossen Unbekannten gestossen. Der Verschwundene hatte diesen per Mail darauf aufmerksam gemacht, er habe bei der Fernwartung seines Computers heikle Dateien entdeckt. Darüber müsse er unbedingt mit ihm reden. An einem sicheren Ort. Diese Formulierung und der Umstand, dass der Anonyme einen Fake-Mail-Account benutzte, liess den Kommissar mit dem Tunnelblick vermuten, es könnte sich bei den sensiblen Gigabytes um Pornofilme mit Minderjährigen handeln. Die gab es im Darknet tonnenweise, und der Unbekannte – für dessen Enttarnung die Spezialistinnen Wochen brauchen würden – könnte das Mail als Erpressungsversuch gedeutet und diesen radikal beendet haben.
«Auch Frauen können morden, wenn sie die Gelegenheit dazu erhalten»
Es ist spät geworden, der Kommissar sitzt seufzend gegenüber der immer unübersichtlicher werdenden Glaswand. Die Kolleginnen und Kollegen sind schon bei Happy Hour oder Einkauf. Geschichten, Fakten und Fantasien, Männer- und Frauenbilder wirbeln durch seinen Kopf. Cherchez la femme – und du findest deinen Täter. Oder ist hier alles andersherum? Der Fall macht ihn ratlos. Er findet, als wäre es das richtige Leben, keine einfache Lösung. Weil ihm Statistik und Geschlechtervorurteile den klaren Blick auf komplexe Realitäten verstellen? Oder fehlt ihm ganz einfach die Leiche? Er würde sich gerne mit der Chefin austauschen. Die kennt sich in diesen Gendergeschichten besser aus als er. Und traut Frauen mehr zu. «Gewalt macht zwar Männer», dozierte sie gerne und regelmässig, «aber auch Frauen können morden, wenn sie die Gelegenheit dazu erhalten. Nur macht es sie nicht zu Frauen.» Er löscht das Licht. Heute wird das nichts mehr. Die Chefin muss ja ihren Kopf im Fernsehen zeigen. Nur um zu beweisen: Mord ist auch Frauensache. Wenigstens im TV.