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Treblinka 6_6: Noch eine Flucht und das Ende

Jürgmeier / 02. Sep 2018
Er war einer der vielen, die nach Treblinka deportiert wurden. Richard Glazar. Einer, der zurückkam. Das waren nicht viele.

Lesen Sie hier die anderen Teile von «Treblinka».
Massenmord und Widerstand sind das Menschenmögliche –
Erinnerungen an eine Vergangenheit, in der Hoffnung, 
dass es keine Erinnerungen an Zukünfte werden
«Nach der Hitler-Finsternis habe ich die Stalin-Finsternis in der vormaligen CSSR erlebt.» (1) Schreibt Richard Glazar auf der letzten Seite seines Buches «Die Falle mit dem grünen Zaun». Ähnliches sagt er in unseren Gesprächen gegen Ende der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts. «Nach dem kommunistischen Putsch, 1948, hat mich eine andere, aber wieder eine Totalität erwischt. Ich habe gewusst – ich lebe jetzt wieder nicht in einer demokratischen, nicht in einer freien Gesellschaft. Ich habe gewusst – wenn es in der Morgendämmerung an der Tür klingelt, dass das meistens nicht der Milchmann ist, dass das wieder die zwei Herren in Ledermänteln sind, und die führen die Leute ab.» (4)
Dieser Vergleich des Überlebenden von Treblinka, so meine Erinnerung, irritiert mich, 1987, etwas. Obwohl ich selbst strukturelle Parallelen – Machtkonzentration, Führer- und Personenkult, Absolutsetzung einer Ideologie, Einparteiensystem, Unterdrückung und Ermordung Oppositioneller – sehe. Obwohl meine erste politische Aktion als Jugendlicher darin bestand, 1968 ein Flugblatt gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in die Hauptstadt des «Prager Frühlings» zu schreiben und auf dem Zürcher Bürkliplatz zu verteilen. Obwohl ich früh Alexander Solschenizyns «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch» gelesen. Obwohl ich von Exil-Tschechoslowaken, heute Migrantinnen – u.a. wegen eines Gedichts zur Selbstverbrennung eines Prager Studenten – zu einer Gedenkfeier des Jan-Palach-Clubs in der Schweiz eingeladen worden war. Obwohl ich mit Genossinnen und Genossen immer wieder darüber stritt, dass eine Utopie nur eine Utopie, wenn der Weg zu ihrer Verwirklichung nicht mit ZwangzumGlück und Leichen gepflastert sei. Obwohl es – jenseits irgendwelcher «makabrer arithmetischer Vergleiche» (13) – für die Opfer keine wirkliche Rolle spielt, ob ihr Tod durch «den systematischen Einsatz des Hungers als Waffe» (13) oder durch die, bisher, einmalige industriell organisierte Vernichtung von Menschen verursacht wird.
Der vernichtende Scheinwerfer Treblinkas
Auch ich reduziere Richard Glazars Leben auf die Monate in Treblinka, obwohl für ihn selbst das Erzählen über Treblinka nur im Kontext dessen, was er «kurz vor Treblinka und nach Treblinka erlebt» habe, interessant sei. Aber (mediale) Aufmerksamkeit bekommt der unbekannte Mensch Richard Glazar zynischerweise nur durch den vernichtenden Scheinwerfer Treblinkas. Nur weil er, gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit, dem durchorganisierten Morden entkommen. Darüber soll er hinterher reden. Nur darüber. Obwohl er, 1987, auch berichten möchte, wie es ihm danach, insbesondere im sogenannten Ostblock, ergangen. Ich nehme mir vor, zu einem späteren Zeitpunkt eine weitere Sendung mit ihm zu produzieren, die seinem ganzen Leben als einer Biografie des «Zeitalters der Extreme» (Eric Hobsbawm) gerecht würde. Aber dann passiert, was mediale Kulturen konstituiert – neue Projekte und sich im Tages-, ja Minutentakt verdrängende Aktualitäten vernichten BerichteReflexionenRealitäten. Zehn Jahre später, Ende Januar 1997, ich war längst nicht mehr beim Radio, frage ich ihn in Zusammenhang mit dem Buch «Staatsfeinde oder SchwarzundWeiss», mit einem «Gefühl eigener Unzulänglichkeit», an, ob er bereit wäre, «das damals Begonnene neu aufzunehmen und fortzusetzen». Aber jetzt ist es zu spät, um «Ihrem Leben – in dem sich die wesentlichen Tragödien unseres Jahrhunderts ‹spiegeln› – doch noch in einem umfassenderen Sinne ‹gerecht› zu werden». Am 7. Februar 1997 antwortet er mir: «Leider bin ich sehr krank, sodass ich nicht imstande bin, mit Ihnen das von Ihnen gewünschte Gespräch zu führen.»
Und so trage ich erst jetzt, 75 Jahre nach Richard Glazars Flucht aus Treblinka und zwanzig Jahre nach seinem Tod, nach, dass der studierte Ökonom von 1951 bis 1953 «als politisch unzuverlässiges Element in einem Hüttenwerk manuell arbeiten» (1) musste. «Gemeint war damit», schreibt Wolfgang Benz, «auch und vor allem seine jüdische Herkunft, es war die Zeit der Slánský-Prozesse, des stalinistischen Antisemitismus im ganzen Ostblock.» (3) Er habe sich freiwillig für diese Arbeit gemeldet, gibt Richard Glazar mir gegenüber an. Weil «auf dem Geschoss, wo ich gearbeitet habe, in den Büros, fast alle Leute strafweise zur Schwerarbeit in die Industrie versetzt worden» seien. Schlimmeres blieb ihm nach eigener Aussage wegen seines «Bonus des antifaschistischen, des sogenannten antifaschistischen Kämpfers» erspart, «man hat von mir gewusst, dass ich Treblinka überlebt habe» (4). Und weil, so vermutet er, «gewisse Leute, die mir wahrscheinlich freundlich gesinnt waren», seine «Gesuche um die Auswanderung» Ende der Vierzigerjahre «von der Welt geschafft» hätten, damit er nicht unter «die Räder der Stalinfeme-Justiz komme» (4).
Der «Mangel an bürgerlichem Mut» in unterschiedlicher Zeit
Die dunklen Jahre in der Tschechoslowakei, «in diesem totalitären pseudokommunistischen Staat», erinnern ihn an Treblinka. An die Verstrickungen und die Frage «Warum habt ihr nichts getan?». Jetzt war er es, der, «eigentlich», schwieg. Zu den «politischen Prozessen in der schlimmsten Stalinzeit in der Tschechoslowakei, in den frühen Fünfzigerjahren». Er erinnert sich, beispielsweise, daran, dass er mit seinem siebenjährigen Sohn Anfang der Sechzigerjahre eine «Ausstellung von Eisenbahnmodellen» besucht habe. Plötzlich sei einer vor ihnen gestanden, «ich habe ihn fast nicht erkannt», einer, mit dem er aufgewachsen, den er schon lange nicht mehr gesehen. Gefragt, wo er gewesen in all der Zeit, habe der alte Bekannte berichtet, er sei «gestern aus den Uran-Minen» zurückgekommen, «aus einem KZ-Lager, Arbeitszwangslager». Da sei er sich vorgekommen wie einer «im nazistischen Deutschland, an dem einfach alles vorbeigegangen war». Er habe darunter gelitten, dass auch er «in der Staatsfirma, in der ich gearbeitet habe», dafür «votiert» habe, wenn einer mit einer erzwungenen, «einmütigen» Resolution als «Volksfeind» verurteilt wurde. «Obzwar fast alle, vielleicht 98 Prozent genau gewusst haben, er ist unschuldig.» (4)
Aber nicht nur hinter dem «Eisernen Vorhang», sondern in allen möglichen Organisationen im Osten und Westen habe er «in den vielen Jahren nach Treblinka … so viel Mangel an bürgerlichem Mut, nicht gesprochen von Feigheit, in viel, viel weniger extremen und gefährlichen Umständen erlebt, dass ich diejenigen, die ich in Treblinka als die Feigsten betrachtet habe, heute noch innerlich um Entschuldigung bitte.» Keiner stehe auf, keiner melde sich, zum Beispiel in einer Betriebsversammlung, und sage «Genosse Direktor» oder «Herr Direktor, Sie tun der Frau, Sie tun dem Mann doch Unrecht… Keiner… Was riskiert er? Vielleicht seine materielle Existenz, aber vielleicht nur die Höhe seines Gehalts. Aber nicht einmal zu diesem Risiko hat er den Mut. Das ist für mich und die Feigen aus Treblinka, würde ich sagen, eine grosse Entlastung. Ich glaube, niemand, niemand hat heute das Recht, solche Leute wie die, die in Treblinka waren, zu verurteilen.» (4)
Und immer bohrt die Frage, was ich damals getan. In TreblinkaBerlinParisPragAdliswil. Einer wie ich, der den aufrechten Gang, bisher und zum Glück, nie in harten Zeiten unter Beweis stellen musste, sondern immer nur in der Gemütlichkeit geprobt hat.
Eine «noble Flucht»
1968 wurden, weltweit, Hoffnungen auf bessere Zeiten genährt und, wenigstens teilweise, auch erfüllt. Als sich in der Tschechoslowakei «die Verhältnisse allmählich zum politischen Frühling auflichteten, ging es auch mit mir wieder aufwärts» (1). Notiert Richard Glazar in seinen Erinnerungen. Wurde aber schon im August 1968 mit dem gnadenlosen Wechsel der Jahreszeiten und der (vorläufigen) Unveränderbarkeit der politischen Bedingungen in der Tschechoslowakei in Zeiten des Kalten Krieges konfrontiert. Sah für sich, seine Frau, Tochter und Sohn nur noch eine Zukunft in der Flucht, in die Schweiz. «Ich erklärte ihnen, man müsse sich dazu entscheiden – das Einfamilienhaus, in dem meine Frau aufgewachsen war, den Garten, in dem sich unsere Kinder tummelten, das alles zu verlassen –, als ob man in den allernächsten Tagen deportiert werden sollte. Es wurde eine feine, eine noble Flucht im Vergleich mit Treblinka.» (1) Hält Richard Glazar, der Vater, fest.
Richard Glazar, der Sohn, erinnert sich 2018: «Mein Vater war damals 48. Wenn ich mir das vorstelle: Mit 48 alles liegen lassen, mit dreissig Franken in der Tasche in ein fremdes Land gehen und nicht wissen, was wird – Hut ab.» Sie hätten damals, Anfang 1969, nicht einfach auswandern können. Hätten nur die Möglichkeit gehabt, für eine Woche, in gewisser Weise als Ferienreisende, nach Österreich oder in die Schweiz zu fahren. «Man musste aber von einer Schweizer Familie eingeladen werden, und die mussten sich verpflichten, für uns zu sorgen, uns quasi einzuladen.» (6) Sie hätten nichts mitnehmen dürfen – kein Geld, keinen anderen Besitz, keine Geburtsurkunde usw. Wegen der Kontrollen an der Grenze. Auch nachträglich nicht. Mit nichts seien sie in die Schweiz gekommen. Erhielten den Status als politische Flüchtlinge und wurden für drei Monate in einer Angestelltenwohnung im Hotel National in Bern untergebracht. «Das hat die Schweiz, der Staat bezahlt.» Fünfzig Jahre und ein paar Asylgesetzrevisionen später würden sie, womöglich, als «Wirtschaftsflüchtlinge» – die nur ein besseres Leben suchen – und die Tschechoslowakei jener Jahre als «sicheres Land» eingestuft, so dass sie keine Aussicht auf Asyl hätten. Bedroht an Leib und Leben war Richard Glazar, der Vater, in jenen Jahren, auch hinter dem Eisernen Vorhang, vermutlich nicht. «Ich glaube es nicht, aber man hat es nicht gewusst, dort konnten Dinge von heute auf morgen passieren, die einfach nicht absehbar waren.» Aber es sei, glaubt der Sohn, weniger die «persönliche Bedrohung» gewesen, die den Vater zu diesem Schritt bewogen. Er habe, vor allem für seine Kinder, keine längerfristigen Perspektiven in diesem Land gesehen. Befürchtet, sein Status könnte sich «auf uns projizieren» (6).
Gegen Ende des Lebens – seine Frau war schon todkrank – habe er zu zweifeln begonnen. Habe ihn, den Sohn, niedergeschlagen gefragt, ob er nicht alles falsch gemacht. «Ich hätte doch nie mit euch in die Schweiz gehen sollen.» Alles habe er in Frage gestellt. «Dann habe ich ihm gesagt – du hättest nichts Besseres machen können, als du gemacht hast. Ich habe gewaltige Chancen erhalten, in meinem Leben, in meinem beruflichen Leben, die ich auch genutzt habe. Ich durfte Firmen führen, gründen und erfolgreich machen. Spannende Dinge, ich kann mir nicht vorstellen, dass das dort auch möglich gewesen wäre.» (6) Sagt, 2018, ein dankbarer Sohn.
Tagesanzeiger-Meldung vom 5. Februar 1998
Auch die Überlebenden sterben
In einem Interview mit ihm, am 29. März 1990, erzählt Wolfgang Benz in seinem Buch über «Deutsche Juden im 20. Jahrhundert», habe Richard Glazar gesagt: «Primo Levi und Jean Améry, die über den Holocaust ein erschütterndes Zeugnis abgegeben hatten, haben beide Selbstmord begangen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Grund nicht gerade darin lag, dass sie diese furchtbare Erniedrigung erlebt hatten. Oder ob sie Angst hatten, als sie älter wurden, Angst vor dem Sterben, dessen sie ununterbrochen Zeugen gewesen waren.» Am 5. Februar 1998 findet sich im Tagesanzeiger unter dem Titel «Der letzte Zeuge» folgende Meldung: «… Richard Glazar, vermutlich letzter Überlebender des Vernichtungslagers Treblinka, hat sich am 20. Dezember [1997] aus einem Fenster des jüdischen Altersheimes in Prag gestürzt, tief deprimiert über den Tod seiner Frau.» Jetzt, dachte ich damals, hat ihn Treblinka doch noch eingeholt. Oder war es nur «Richards Unfähigkeit…, nach dem Tode Zdenkas weiterzuleben», ohne die Frau, die von sich sagte, sie sei «für ihn wie die Luft, die er zum Atmen braucht» (12)? Aussagen, die ich damals, 1998, noch nicht kannte. Das Leben überlebt keiner. Nicht einmal der, der aus Treblinka zurückgekommen ist. Immerhin hatte er noch eines. Über fünfzig Jahre lang.
Zwanzig Jahre nach seinem Tod, beim Schreiben dieses Textes, erfahre ich mehr. U.a. von Richard Glazar, dem Sohn. Nach dem Fall der Mauer, dem Öffnen der Grenzen nach Osten hin sowie, schliesslich, der Auflösung der Sowjetunion hatten Richard und Zdenka Glazar in ihrer alten Heimat, an der Moldau, im Jüdischen Seniorenheim Jordan eine Zweitwohnung gemietet. 1996 erkrankte Zdenka Glazar-Vitkova schwer und starb ein Jahr später. Mit 71 Jahren. «Innerhalb dieses Jahres ist er in ein psychisches Tief gefallen», erzählt der Sohn. «Wie wenn Sie einem Lahmen zwei Krücken wegnehmen. Für ihn ist die Welt zusammengebrochen.» (6) Wolfgang Benz schreibt: «Richard war zunehmend von Verlassensängsten verfolgt, er unternahm mehrere Suizidversuche mit Medikamenten und brauchte psychiatrische Behandlung.» (3) Es sei, brachte der Sohn in Erfahrung, offensichtlich so, dass bei Leuten mit dem Schicksal seines Vaters «diese Ängste irgendwann zurückkommen, und zwar in Form von Todesängsten, Existenzängsten undsoweiter. Und das hat er alles gehabt.» (6)
Auch bei dem im Pflegeheim Entlisberg lebenden 80-jährigen Albert Mülli – den ich für eine andere Sendung über das Menschenmögliche, ebenfalls in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, getroffen – kommt «das Grauen» nach einem Hirnschlag im Jahre 1996 zurück. Der spätere Zürcher SP-Kantonsrat hatte 1938 als arbeitsloser Sanitärinstallateur und Gewerkschafter illegal Widerstandsschriften, «kommunistische Flugblätter» (Beobachter, 7.12.2017), nach Wien geschmuggelt, wurde dort von der Gestapo verhaftet und kehrte erst 1945 aus dem Konzentrationslager Dachau wieder in die Schweiz zurück. Er habe da Gasleitungen verlegen müssen. Erzählt er mir über dreissig Jahre danach, während er die bei einem Besuch viele Jahre nach dem Krieg gemachten oder gekauften Dias des KZ’s Dachau an die Wand projiziert. Zum Glück seien diese Leitungen nicht mehr in Betrieb genommen worden. Stellt «Häftling Nummer 29 331» bei unserem Gespräch in einer Zürcher Wohnung klar. Sichtlich erleichtert. In seinem letzten Lebensjahr durchlebt er «den Horror immer wieder, den er im Konzentrationslager Dachau als junger Mann überstanden hatte» (Beobachter).
Dem 77-jährigen Richard Glazar fehlt die Kraft, noch einmal bei Null zu beginnen. Wie nach Treblinka. Wie nach der Flucht aus Prag, in die Schweiz. Nach dem Tod der Frau, die jeweils dafür gesorgt hat, «dass er den Weg zurück fand in den Alltag» (12), wenn er wieder einmal irgendwo «mit hoher sprachlicher Präzision sachlich» beschrieben hatte, «was er vom Holocaust gesehen» (12). Er fühle sich, «wenn ich ganz offen, ernst sein soll», sagt er in unseren Allschwiler Gesprächen 1987, «ich fühle mich immer all denen verpflichtet, die in Treblinka alles verloren haben, also ihr Leben, egal, ob sie sofort vergast worden sind oder ob sie ihr Leben im Aufstand verloren haben.» Und betont noch einmal, für einen Moment etwas heftiger als sonst: «Ich weiss, ich muss darüber möglichst nüchtern aussagen, mit so einem gewissen Understatement, sonst wird es nicht wirksam. Und ich will, dass es wirksam ist. Im Namen aller, die in Treblinka geblieben sind.» Aber jetzt, im Dezember 1997, findet er keinen Weg mehr zurück ins Leben. Oder will ihn nicht mehr finden. «Er ist sehr depressiv gewesen, auch selbstmordgefährdet», erinnert sich Richard Glazar, der Sohn. Einer der Ärzte habe gesagt, «man müsste ihn in eine Geschlossene einsperren» (6). Fürsorgerischer Freiheitsentzug für einen Überlebenden von Treblinka. Und einmal hätten sie ihn in der Klinik schon in ein Zimmer mit vergitterten Fenstern verlegt. «Er lag komplett apathisch dort, ist weg gewesen. Da habe ich gesagt, das könnt’ ihr nicht machen. Sofort verlegen, ins Parterre, wo keine vergitterten Fenster sind.» Auf keinen Fall in eine geschlossene Abteilung. «Mit dem Risiko, dass er wirklich sagt ‹Ich mag nümme›, aber da wäre er elend ‹igange›.» (6)
Kurz vor Weihnachten 1997 fahren die Kinder mit dem Vater nach Prag. Im Kontakt mit einem alten Schulkollegen und einer Cousine sei er aufgelebt, «Er begann zu reden, zu erzählen, ein paar Witze zu erzählen, und wir haben gedacht – super, es wird ihm da gut gehen.» Der Plan sei gewesen, dass er wieder in der Wohnung in Prag leben würde. Am dritten Tag hätten sie, auch vom Vater ermutigt, ein Glaswerk besucht. Eine Stunde später der Anruf, sie sollten zurückkommen. Offensichtlich habe er sich mit der Cousine für ein gemeinsames «Zmorge» verabredet. Sie habe gesagt, «ich gehe nur schnell duschen – dann ist er rauf und use.» Sprang aus dem Fenster, in die Leere, in den Tod. Ohne Vorankündigung. Ohne Abschiedsbrief. Ein Psychologe, der in diesem letzten Jahr viele Gespräche mit Richard Glazar, dem Vater, geführt hat, habe in dieser letzten Handlung einen Versuch gesehen, «uns damit zu schützen» (6). Vor seinem psychischen Zustand, nach dem Tod der Frau und Mutter. Vor seinen Ängsten. Vor seiner zurückkehrenden Vergangenheit. Vor Treblinka.
Nicht mehr ahnungslose Opfer der Geschichte werden
Auch wenn Richard Glazar vielleicht nicht «der letzte Zeuge» (Tagesanzeiger) ist, irgendwann, bald werden alle Überlebenden des grossen Mordens tot sein, und es wird definitiv die Aufgabe der Nachgeborenen werden, die Erinnerung an das Menschenmögliche – den Faschismus und den aufrechten Gang – wachzuhalten. Vor allem in Zeiten, in denen so viele gerne wieder einmal «Schlussstriche» ziehen möchten, andere mit einer «erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad» (Björn Höcke, AfD) Politik und Stimmen zu machen versuchen sowie ein gewähltes Mitglied des deutschen Bundestags, Co-Fraktionschef und Co-Bundessprecher der AfD Alexander Gauland, die mörderische Tyrannei des Nationalsozialismus erst als «Vogel-», dann als «Fliegenschiss» bezeichnet.
Am 2. Juni 2018 doziert er in einer Rede vor der Parteijugend Junge Alternative wörtlich: «Wir haben eine ruhmreiche Geschichte… Und die, liebe Freunde, dauerte länger als die verdammten zwölf Jahre. Und nur, wenn wir uns zu dieser Geschichte bekennen, haben wir die Kraft, die Zukunft zu gestalten. Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die zwölf Jahre. Aber, liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über Tausend Jahre erfolgreicher deutscher Geschichte» (zitiert aus Stern online, 4. Juni 2018). Was sind bei all den Kaisern und Königen, Schlössern und Kathedralen, bei den Reformationsthesen Martin Luthers, den Gedichten Johann Wolfgang Goethes und der Erfindung des Verbrennungsmotors durch Carl Benz schon ein paar Millionen Gemordete? Nach Tagen kalkulierter Empörung macht der arme Mann, der immer wieder falsch verstanden wird und es doch nie so meint, wie er es sagt, einmal mehr den Gauländer und verbreitet eine persönliche Stellungnahme: «Ich habe den Nationalsozialismus als Fliegenschiss [der ist nämlich etwas kleiner als ein Vogelschiss] bezeichnet. Das ist eine der verachtungsvollsten Charakterisierungen, die die deutsche Sprache kennt. Das kann niemals eine Verhöhnung der Opfer dieses verbrecherischen Systems sein» (Zitat, Stern online, 4.6.2018). Da wären die Toten von Treblinka aber froh, wenn sie noch froh sein könnten. Und wenn sie es anders empfinden würden, wären sie selber schuld. Wenn sie noch etwas empfinden könnten.
Die Verbrannten und die wenigen Überlebenden von Treblinka können aktuellen sowie künftigen Geschichtsdeutungen beziehungsweise -leugnungen nicht mehr widersprechen. An ihrer Stelle können nur Nachgeborene und deren Kindeskinder versuchen, der Forderung von Richard Glazar – «Es ist für die Geschichte wichtig, dass die Geschichte, die meistens von den Siegern geschrieben wird, auch von den Opfern geschrieben wird» – gerecht zu werden. In der Hoffnung, dass die Erinnerungen an diese Vergangenheit keine Erinnerungen an Zukünfte werden. Dass die Opfer nicht nur nachträglich im Glazarschen Sinne (auch) Geschichte schreiben, sondern künftig gar nicht mehr Opfer der Geschichte von «Siegern» und «Siegerinnen» werden, sondern von Anfang an in die Geschichte eintreten und sie mitbestimmen statt sie als ahnungslose Opfer – Welchen warnenden Gesten glauben wir? welchen nicht? – über sich ergehen zu lassen, lassen zu müssen.
Quellen und Anmerkungen
(1) Richard Glazar: Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1992. (Eine erste Fassung seiner Geschichte hat er, wie Wolfgang Benz in seinem Vorwort schreibt, «bereits unmittelbar nach Kriegsende und vor seiner Rückkehr nach Prag» aufgeschrieben.)
Neu-Auflage 2017: Münster: Unrast Verlag, 2017
(2) Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939 – 1945: München: Verlag C. H. Beck, 2006
(3) Wolfgang Benz: Deutsche Juden im 20. Jahrhundert. München: Verlag C. H. Beck, 2011
(4) Für das unter dem Titel «Ich war in Treblinka» auf DRS 1 (heute SRF 1) ausgestrahlte Gespräch befragte ich Richard Glazar 1987 während mehrerer Tage, in Allschwil, wo er damals mit seiner Frau Zdenka Glazar wohnte.
(5) «Die drei Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka benötigten nur wenig Personal, jeweils zwei oder drei Dutzend SS-Leute und etwa einhundert ‹Trawnikis› (das waren rekrutierte und im Lager Trawniki ausgebildete Gefangene der Roten Armee im Dienst der SS, überwiegend Ukrainer, Volksdeutsche, Litauer) und dazu ein paar Hundert ‹Arbeitsjuden›, die in der Regel nach ein paar Wochen ermordet und durch neu ankommende ersetzt wurden.» (Wolfgang Benz)
(6) Gespräch mit Richard Glazar, dem Sohn, im Juni 2018
(7) Claude Lanzmann: Shoah, Düsseldorf: claassen Verlag, 1986 (Das Buch zum Film)
(8) «Die Bezeichnung geht tatsächlich auf den Vornamen Heydrichs zurück, der in den zeitgenössischen Quellen und sogar von Himmler selbst statt ‹Reinhard› fälschlicherweise ‹Reinhardt› geschrieben wurde.» (Wikipedia)
(9) Gitta Sereny: Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka, München: R. Piper Verlag, 1995 (erste Auflage: 1974)
(10) Christoph Schneider: Zum Tod von Richard Glazar, diskus, 1/98
(11) Franz Stangl, Wikipedia
(12) Ute Benz: Wie die Luft zum Atmen. Zur Erinnerung an Zdenka Glazar-Vitkova. in: Barbara Distel (Hg.): Frauen im Holocaust, Gerlingen: Bleicher Verlag, 2001
(13) Stéphane Courtois u.a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus, München: Piper Verlag, 1998