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Schweizer Kriegsmaterial-Exporte – ein doppelbödiges Spiel

Hans Ulrich Jost, Infosperber, 11. Sep 2018. Humanitäres Engagement hier, Waffenausfuhr dort: Die Schweiz laviert seit Jahrhunderten. Vorrang hatte meist das Geschäft.


Am 8. September 1939, acht Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, beschloss der Bundesrat, das Ausfuhrverbot für Kriegsmaterial aufzuheben. Dieser Beschluss wurde geheim gehalten. In der Sitzung des Bundesrates begründete Guiseppe Motta diesen Entscheid mit dem Hinweis auf den Ersten Weltkrieg. Damals hätten die umfangreichen Kriegsmaterialexporte geholfen, die Landesversorgung der Schweiz sicherzustellen. Zudem habe man dabei zahlreiche Arbeitsplätze erhalten können
Heute will der Bundesrat die Regelung der Kriegsmaterial-Exporte erneut lockern. Eine Änderung der entsprechenden Verordnung hat er im Juni in die Wege geleitet. Dieses Entgegenkommen gegenüber der Rüstungsindustrie bekämpf jetzt eine Allianz aus PolitikerInnen und Hilfswerken; dazu plant sie eine Volksinitiative (mehr darüber am Schluss dieses Artikels).
Stets die gleichen drei Argumente
Bei der aktuelle Lockerung der Kriegsmaterialexporte fügt die Landesregierung ein weiteres, zuvor auch schon vorgebrachtes Argument an: Die Erweiterung der Ausfuhren sei notwendig, um eine den Bedürfnissen der Landesverteidigung angepasste industrielle Kapazität aufrecht zu erhalten. Welche Bedürfnisse der Schweizer Armee abgedeckt werden sollen, will der Bundesrat aus Sicherheitsgründen jedoch nicht mitteilen.
Die drei Punkte – Sicherung der Arbeitsplätze, Gegengeschäfte mit dem Ausland und Aufrechterhaltung einer für die Armee wichtigen einheimischen Produktion – stehen seit Jahrzehnten im Standardkatalog der Argumentation von Bundesrat und Wirtschaftsvertretern. Verschwiegen wird hingegen die simple Tatsache, dass es den betreffenden Unternehmen in erster Linie um Profit geht.
Eine Konstante der Schweizer Geschichte
Die Auseinandersetzungen um Waffenexporte sind fester Bestandteil unserer Politik und Geschichte. Man kann sie bis ins 16. Jahrhundert, bis zum Söldnerwesen, zurück verfolgen. In diesem und den folgenden Jahrhunderten “exportierten” die Gnädigen Herren Hunderttausende von jungen Männern in ausländische Kriegsdienste. Die Soldunternehmer bezogen dabei nicht nur reichlich Pensionen, sondern profitierten auch von Handelsprivilegien, dank denen die einheimische Industrie schon in der Frühphase mit dem internationalen Handel verbunden werden konnte.
Dieses lukrative Geschäft kam jedoch mit der Neutralität in Konflikt, welche die Grossmächte der Schweiz 1815 am Wiener Kongress auferlegten. Mit dem Verbot des Söldnerwesens in der Bundesverfassung von 1848 schien dieses Problem überwunden. Es kam jedoch erneut auf die Tagesordnung, als die Schweizer Industrie begann, Kriegsmaterial zu exportieren.
Dieses Geschäft mit Waffen erlebte im «Grossen Krieg» 1914-1918 einen ersten Höhepunkt. Der gewaltige Material- und Munitionsbedarf der Kriegführenden öffnete der Schweiz grosse und lukrative Märkte. Die ausländischen Mächte begnügten sich jedoch nicht allein mit dem Einkauf – sie auferlegten auch Wirtschaftskontrollen und schränkten die Schweizer Souveränität massiv ein. Zudem entwickelte sich eine internationale, auch in der Illegalität operierende Kriegswirtschaft.
Zwischen Friedens-Image und Waffengeschäft
Diese Aktivitäten standen in scharfem Widerspruch zur Selbstdarstellung der Schweiz als Insel des Friedens und der Neutralität. Der Bundesrat zeigte in der Regel wenig Eifer, die Waffengeschäfte zu kontrollieren. Es gibt dazu eine ganze Reihe eindrücklicher Beispiele. So liess er, nach dem Ersten Weltkrieg, die am illegalen Aufbau der deutschen Reichswehr beteiligten Unternehmen gewähren. Zu diesen Unternehmen gehörte beispielsweise die Waffenfabrik Solothurn, deren Präsident, Hermann Obrecht, 1935 in den Bundesrat gewählt wurde. Zuvor hatte er sich, als Nationalrat, bei der Bundesverwaltung für die Anliegen der Waffenfabrik eingesetzt.
Bedeutender, aber auch konfliktreicher erwiesen sich die Waffengeschäfte von Bührles Werkzeug-Maschinenfabrik in Oerlikon (WO). Bührles Firma entwickelte sich im Zweiten Weltkrieg, angespornt durch den Bundesrat, zum grössten Schweizer Waffenlieferanten. Solange Deutschland erfolgreich Europa unterwarf, waren Bührles Dienste willkommen. Doch im September 1944, als die Niederlage des Dritten Reiches unabwendbar wurde, erliess der Bundesrat erneut ein Waffenausfuhrverbot. Damit sollten die Alliierten, welche die Haltung der Schweiz zu Nazideutschland scharf kritisierten, besänftigt werden.
Angesichts der wechselhaften und opportunistischen Politik in Sachen Waffenausfuhr versuchte Bührle mit direkten Interventionen beim Bundesrat und in der Verwaltung einzugreifen. Dabei half ihm ein Freund, Oberstdivisionär Eugen Bircher, Nationalrat der BGB (heute SVP). Im übrigen setzte sich Emil Georg Bührle oft über die Direktiven des Bundesrats hinweg, zum Beispiel 1952 – der Koreakrieg war in vollem Gange –, als er trotz bundesrätlicher Bedenken über 200’000 Flugzeugraketen in die USA lieferte.
Auch in den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Verletzungen der Ausfuhrbestimmungen. Der spektakulärste Fall war die Lieferung von Flugzeugabwehrkanonen an das gegen Biafra kriegführende Nigeria: Während Bührle – jetzt unter der Leitung des Sohnes Dieter – Kanonen lieferte, leistete das von Schweizern geleitete Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) humanitäre Hilfe. Gegen die illegalen Geschäfte Bührles leitete die Bundesanwaltschaft 1968, nach einigem Zögern, eine Untersuchung ein. Dabei kamen massive Fälschungen von Ausfuhrerklärungen zutage.
Bundesrat Spühler 1968: “Schwerer Schaden”
Dass diese Geschäfte dem schweizerischen Ansehen enorm schadeten, erkannte man schliesslich selbst in Bern. In seiner Antwort auf eine Motion von Walter Renschler erklärte Bundesrat Willy Spühler im Dezember 1968 im Nationalrat:
«In einer Zeit, da sich in Nigeria ein tragischer Bürgerkrieg abspielte und das Schweizervolk seinem Helferwillen in zahlreichen humanitären Aktionen Ausdruck gibt, stehen wir vor der Tatsache, dass ein bedeutendes schweizerisches Unternehmen sich durch illegale Waffenexporte nach diesem Land die humanitären Manifestationen des Volkes kompromittiert und dem Ansehen unseres Landes schweren Schaden zugefügt hat».
Mit diesen Hinweisen ist nur ein sehr kleiner Teil der Probleme um die Kriegsmaterialausfuhr angesprochen. Das ständige Gerangel um die Waffenausfuhr, bei denen zahlreiche Unternehmen mitmischten, zählt zu den eher dunklen Flecken der Bundespolitik. Der Landesregierung gelang es dabei nie, eine klare Politik durchzusetzen. Volksinitiativen hatten ebenfalls wenig Erfolg. Selbst eine 1970 nach dem Biafra-Skandal eingereichte Initiative für verstärkte Kontrolle der Kriegsmaterialausfuhr haben die Stimmberechtigten 1972 knapp, mit 50.3 Prozent Nein-Stimmen, verworfen.
Die Bilanz der vom Söldnerwesen bis zur heutigen Kriegsmaterialausfuhr reichenden Geschichte trägt nicht zum guten Ruf der Schweiz bei. Das helvetische Geschäftsmodell in diesem Bereich beruht auf einem fragwürdigen doppelbödigen Verhalten. Mit Verweisen auf Neutralität, humanitärer Mission und demokratische Tugend wird ein unbeflecktes, im In- und Ausland ausgiebig propagiertes Selbstbildnis verbreitet – und dahinter, im Gemauschel zwischen Politik und Wirtschaftsinteressen, beteiligt sich die Schweiz mit Kriegsmaterial und Finanzoperationen an den unzähligen Konflikten dieser Zeit.
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“Rote Linie überschritten”
hpg. Mit der geplanten Änderung der Kriegsmaterial-Verordnung, welche Waffenexporte auch in Bürgerkriegsländer ermöglicht, überschreite der Bundesrat klar eine “rote Linie”. So urteilt eine Allianz, bestehend aus PolitikerInnen aus der SP, den Grünen, GLP, BDP und EVP sowie Leuten aus Entwicklungs- und kirchlichen Organisationen. Diese Allianz will die Lockerung der Waffenausfuhr mit einer Volksinitiative bekämpfen, weil ein Referendum nur gegen ein Gesetz, nicht aber gegen eine bundesrätliche Verordnung möglich ist.
Mit dem Entscheid, Kriegsmaterial-Exporte auch in Länder zu ermöglichen, die in bewaffnete Konflikte verwickelt sind, habe die Landesregierung willfährig den Wünschen der Rüstungsindustrie nachgegeben, erklärten VertreterInnen der Allianz gestern Montag vor den Medien. Dabei betonten sie, es gehe ihnen nicht darum, Waffenausfuhren vollständig zu lockern. Sie wollen lediglich zu den strengeren Regeln zurück kehren, die bis 2014 galten.
Ob die Initiative tatsächlich lanciert wird, ist noch offen. Die Allianz will abwarten, ob 25 000 Personen das Anliegen der Initiative unterstützen und sich bereit erklären, je vier Unterschriften zu sammeln, damit die notwendige Zahl von 100 000 Unterschriften zustande kommt.