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Verwandlung der Sophia – ProMosaik im Gespräch mit Harald Haarmann

Von Milena Rampoldi, ProMosaik.
Anbei mein Interview mit Harald Haarmann zu seinem Buch „Die Verwandlung der
Sophia“ über die Bedeutung einer Philosophie als Lebenshilfe im holistischen
Sinne und die Notwendigkeit einer Renaissance des ganzheitlichen Denkens.
Was hat Sie dazu bewegt, Ihr neues
Buchprojekt „Die Verwandlung der Sophia“ anzugehen?
Der
Aufruf zur “Verwandlung der Sophia” gilt der Neuorientierung unseres Denkens
(Sophia im Sinn von Wissensbildung). Diese Studie ist das Ergebnis meines
Aufbegehrens gegen die Fehlinterpretationen derjenigen, die das Gedankengut
eines weltbekannten Philosophen missverstanden haben. Dies ist Platon, ein
weit- und umsichtiger Denker, der den Wert und die Relevanz einer
ganzheitlichen Perspektive erkannt und in seinem Werk propagiert hat. Mit
Platons Ideenwelt habe ich mich ausgiebig beschäftigt. Derzeit wird das
Manuskript für den vierten Band meiner Platon-Studien von einem amerikanischen
Verlag begutachtet. Diejenigen, die sich mit Platons Ideen auseinandersetzen,
selbst aber nicht ganzheitlich denken, können seine Gedankengänge nur
fragmentarisch nachvollziehen und geraten mit ihren Interpretationen allzu
leicht in eine Sackgasse. 
Welche sind die Hauptthemen, die Sie
in diesem Buch angehen?
Ich
folge Platon und betrachte Philosophie als praktische Lebenshilfe für
jedermann, nicht als esoterische Geheimbündelei weltfremder Experten in der
Abgeschiedenheit ihres Elfenbeinturms. Mit dieser Vorgabe gehe ich
Problemkomplexe an, wo sich zeigt, dass die vom Gedankengut der Aufklärung
geprägten, einseitig ausgerichteten Denkschablonen nicht greifen und keine
konstruktiven Problemlösungen angeboten werden. Ein besonderes Anliegen ist
eine ganzheitliche “Aufklärung” über den weithin verkannten Zentralbegriff der
Rationalität. Die Aufklärer haben der Rationalität eine Leitfunktion für das
menschliche Handeln zuerkannt, die diese nicht besitzt. Rationalität ist ein
Instrument, das im Dienst der menschlichen Intentionalität steht und vom Willen
sowie von den Wünschen des Menschen dirigiert wird (und nicht umgekehrt). Um
sinnvoll und vernünftig zu handeln, müssen wir erst unseren Willen
disziplinieren und unsere Wünsche kultivieren. Vernünftig zu handeln ist kein
Automatismus, denn Willen und Wünsche können, wie wir wissen, eben auch sehr
unvernünftig sein. Im Sinn eines ganzheitlichen Denkens gilt, dass wir uns mit
dem Nicht-Rationalen auseinandersetzen, und es nicht einfach ausblenden. 
Wenn
Philosophie eine praktische Lebenshilfe sein soll, dann geht es darum, der
Welt, in und mit der wir leben, einen am Menschen orientierten Sinn zu geben,
und es reicht nicht, sie mit immer aufwendigeren Begriffen nur zu beschreiben.
In dem Buch über die Sophia als Wissensbildung mahne ich eine Erweiterung des
Sichtfelds für ein ganzheitliches Verständnis an, exemplarisch bezogen auf
unser verzerrtes Geschichtsbild von der Antike sowie auf das Phänomen
‘Demokratie’, deren Grundwerte viel weiter zurückreichen als bis ins klassische
Griechenland. Das Sich-Bemühen um das Gemeinwohl, das zentrale Anliegen Platons
in seiner politischen Theorie, hatte zu seiner Zeit bereits eine lange
Geschichte hinter sich. Platon räumt dem auf kommunale Kooperation gestützten
Gemeinwohl Priorität ein für die Gestaltung des individuellen Lebenswegs, und
persönliches Wohlergehen wird gewonnen aus der Erfahrung kommunaler
Solidarität. Eine solche Denkweise ist uns abhanden gekommen. Es lohnt sich
aber, diese heutzutage weithin verdeckte Priorität für konstruktive
Orientierungen beim Aufbau unserer Zukunft in der EU zu (re)aktivieren. 
Ein
weiteres aktuelles Aktionsfeld für ganzheitliches Denken finden wir im Kontext
der Debatte über Klimawandel. Hier haben sich in den letzten Jahren
unüberbrückbare Barrieren zwischen den Positionen von Alarmisten und Skeptikern
aufgetan, und die Diskussion über geeignete Strategien, den Klimawandel unter
Kontrolle zu bringen, verliert sich in der Orientierungslosigkeit.
Wie erklären Sie den Begriff der
Performativität?
Performativität
nimmt Bezug auf die dynamische Anwendung bzw. Ausführung von konstruktiven
Handlungsprinzipien und von Optionen zur Problemlösung, die sich an praktischen
Bedingungen des jeweiligen Aktionsfelds orientieren. Dies ist der Inhalt von
philosophisch begründeter Sinngebung.
Warum ist das Begriffspaar Mythos
und Logos für Sie ein 
Paradebeispiel
verkannter komplementärer Begriffsbildung?
Im
ganzheitlichen Denken gibt es keine einseitige Begrenzung auf das rein
Rationale. Vielmehr gehören Bereiche des Nicht-Rationalen (Empfindungen und
Gefühle, Wertungen und Wunschvorstellungen, Ängste und Hoffnungen) sowie der
Sinn für Ästhetisches, moralisch-ethische Standards und Spiritualität ebenso
dazu. Viele Wissensinhalte, mit denen wir umgehen, sind nicht solche, die sich
nach naturwissenschaftlichen Maßstäben messen oder objektiv beschreiben ließen.
In unserem Denken und Handeln bewegen wir uns in einem Spannungsfeld, wo
objektivierbares Wissen, subjektive Wertungen und unbeweisbare Annahmen,
Dafürhalten, Überzeugungen und Idealvorstellungen miteinander verwoben sind.
All dies sind Elemente, die in der Antike in die Form von Mythen gegossen
wurden. Die griechischen Mythen sind Erzählungen, in denen die Grenzen zwischen
dem Diesseits und dem Jenseits, zwischen Realem und Imaginärem verschwimmen,
und wo doch sehr viel Nützliches als Quelle von Lebensweisheit integriert ist.
Die Griechen der Antike wussten, eine Balance zu halten zwischen der Welt der
Mythen, dem Bereich des Mythischen (mythos), und der Rationalität (logos). Die
Aufklärer des 18. Jahrhunderts und die deutschen Romantiker des 19.
Jahrhunderts haben diese Balance nicht verstanden, sondern haben sich
stattdessen bemüht, alles Mythische zu verdrängen und die Rationalität zur
Ikone zu erheben. An dieser Ideologisierung des menschlichen Denkens und
Handelns kranken wir bis heute.  
Erläutern Sie uns die Hauptthemen
Ihres Epilogs 
Performative
Philosophie und die Renaissance ganzheitlichen
Denkens?
Der
performativen Philosophie kommt die Aufgabe zu, einen Richtungspfeil für unser
Denken bereit zu stellen, was uns ermöglicht, unser Handeln in einen
ganzheitlichen Bezugsrahmen einzubinden, ohne dass wir in eine ideologische
Zwangsjacke gesteckt werden, die uns zu Extremisten einer sinnentleerten,
schablonenhaften Rationalität macht, wobei der gesunde Menschenverstand seine
Mobilität verliert. Wenn von der Renaissance des ganzheitlichen Denkens die
Rede ist, so bezieht sich das auf die Reaktivierung des platonischen Ideals
einer Gestaltphilosophie, die auf das organische Ganze menschlicher Existenz
ausgerichtet ist.