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Sabine Kebir: Gemeinsamkeiten hervorheben – Unterschiede nicht verwischen

Von
Milena Rampoldi, ProMosaik. Milena Rampoldi interviewte Sabine Kebir zum
interkulturellen Dialog.

Wie
wichtig ist die Literatur für den interkulturellen Dialog und warum?
Das
Buch war und ist der beste Botschafter zwischen den Kulturen. Der Film hat
diese Funktion leider nicht oder eben nur in seltenen Fällen übernommen, weil
er sich darauf kapriziert hat, unrealistisch geschönte, ja kitschige Bilder der
eigenen Kultur herzustellen. Das kommt in der Literatur auch vor, aber der
Anteil von echter Information oder auch von Problemlagen der eigenen Kultur ist
in literarischen Werken viel größer. Das illusionäre Bild, das die Menschen z.
B. in Afrika vom Westen haben, wird vor allem aus Filmen genährt. Allerdings
dringt selbstkritische Literatur des Westens gar nicht bis dorthin vor, oder
nur in sehr, sehr begrenzte intellektuelle Kreise. Umgekehrt ist das anders. In
Europa, besonders in deutscher und französischer Sprache, liegen viele
kritisch-realistische literarische Werke aus anderen Kulturen vor. Obwohl man
nicht sagen kann, dass sie keine öffentliche Aufmerksamkeit bekommen, wird
dieses Potential doch nicht so genutzt wie es möglich und nötig wäre. Das hängt
mit der allgemeinen Abwertung von Literatur zusammen, die leider auch in
unseren Schulen eine immer geringere Rolle spielt. Ich bin in der DDR zur
Schule gegangen und der erste Roman, den wir 1963 im gymnasialen
Deutschunterricht durchgenommen haben, war ein amerikanischer: ´Gold` von
Theodore Dreiser. Es gab keinen Schüler, der dieses Buch nicht verstanden
hätte. Wenn ich heute Lehrern vorschlage, dass sie mit ihren Schülern, unter
denen viele ja türkische Wurzen haben, mal einen der zahlreichen
aufklärerischen Romane der türkischen Literatur durcharbeiten sollten, schauen
mich erschrockene Augen an – schließlich kann doch sogar deutsche Literatur in
den Schulen nur noch in vereinfachter Sprache angeboten werden. Bekanntschaft
mit anderen Kulturen wird vor allem über das Essen hergestellt, das die
multikulturelle Elternschaft zu den Kita- und Schulfesten spendet. Das ist
natürlich wunderschön, bietet aber nur einen begrenzten und eben auch
entproblematisierten Blick auf Kulturen.
           
Wie
wichtig sind Kinderbücher zwecks Aufbaus einer toleranteren Gesellschaft?
Dass
Literatur weit mehr Empathie und auch Begeisterung für kulturelle Vielfalt
wecken kann als trockene moralische Belehrungen, ist leider ein wenig in
Vergessenheit geraten – obwohl sich immer wieder zeigt, wie stark sich Kinder
nicht nur von Märchen faszinieren lassen, sondern auch von Geschichten über
Merkwürdigkeiten oder Normales in merkwürdiger Formung in fernen Ländern. Die
Fähigkeit zum Staunen über Ungewohntes ist beim Kind am größten, auch die Lust,
etwas Unbekanntes mal auszuprobieren. In der Zeit der Vorurteilslosigkeit, die
alle Kinder durchleben, sollten wir ihnen viele, viele Angebote auch
literarischer Art machen.
Weil
immer mehr Kinder auch aus sogenannten ´bildungsfernen` Familien Kitas und
Horte in Ganztagsschulen besuchen, haben sich die Chancen sehr erhöht, dass
mehr Kinder schon früh Bekanntschaft mit altersgerechter Literatur machen. Die
Belegschaft der meisten Kitas und Ganztagsschulen ist sehr multikulturell und
das bietet an sich schon beste Voraussetzungen nicht nur für die Ausbildung von
Toleranz, sondern auch für echtes Interesse an den vielen, hier vertretenen
Kulturen. Ob diese Chancen überall gesehen und optimal genutzt werden, ist eine
andere Frage. Es ist bekannt, dass nur ein Teil der Kinder überhaupt gerne
liest, viele Kinder nutzen die Bücher nicht, die ihnen eigentlich zur Verfügung
stehen. Um mehr Jugendliche zum Lesen zu bringen, müssten die Lesefertigkeiten
und die Lesefreude schon in der Grundschule geweckt und mehr gefördert
werden. 

Erzählen
Sie uns von den wichtigsten Themen Ihrer Kinderbücher.
Mein
Mann, Saddek el Kebir stammt aus Algerien und hatte in Berlin
Theaterwissenschaft studiert. Zwischen 1977 und 1988 lebten wir in Algerien und
damals arbeitete er beim dortigen Fernsehen, u. a. als Märchenerzähler. Er
schöpfte zunächst aus einem Fundus von Geschichten, die ihm selbst als Kind
erzählt worden waren – maghrebinische Volksmärchen.
Ein
durchschlagender Erfolg im algerischen Fernsehen war die Geschichte der kleinen
Mistkäferin Khonfussa, die sich schön macht, weil sie sich auf dem Markt nach
einem Bräutigam umsehen will. Es präsentieren sich etliche Bewerber – ein
Pferd, ein Esel, ein Hund, ein Kater, ein Hahn. Khonfussa fragt jeweils, was
ihr die Bewerber bieten können, Keiner erfüllt ihre Erwartungen: Sie möchte
sich in der Ehe nicht langweilen, sie möchte einen Künstler heiraten. Aber bei
der geforderten Tanz- und Gesangsprobe scheitern die Bewerber kläglich. Als sie
schon alle Hoffnung aufgegeben hat, fliegt plötzlich Herr Khonfus herbei und
bittet Khonfussa, mit ihm die Ehe einzugehen. Auf die Frage nach seinen
künstlerischen Fähigkeiten erklärt er das Rollen von Mistkügelchen zu seiner
bevorzugten Aktivität. Khonfussa ist begeistert, weil das auch ihr liebstes
Spiel ist – sie willigt in die Heirat ein.

Dieses
in Algerien sehr bekannte Märchen, das mit seinem matriarchalen Inhalt als
berberisch erkennbar ist (in marokkanischen Berbergebieten gibt es noch heute
einen Heiratsmarkt, auf dem sich Heiratswillige beiderlei Geschlechts frei
begegnen) gefiel uns besonders, weil es die jetzt dort herrschenden
patriarchalen Geschlechterverhältnisse konterkariert. Es hat allerdings auch
eine heute als rückschrittlich auslegbare Komponente: Es endet nicht mit einer
mutigen bikulturellen Eheschließung, sondern mit einer Hochzeit im eigenen
Stamm. Um andere Akzente zu setzen, haben wir uns die Mistkügelchen ausgedacht:
die beiden kommen nicht zusammen, weil sie vom selben Stamm sind, sondern weil
sie gleiche Interessen und Vorlieben haben.


Seit
1988 lebte unsere Familie wieder in Deutschland, wo Saddek u. a. mit diesem
Märchen in Schulen und an vielen anderen Orten aufgetreten ist. Er hat es nicht
nur erzählt, sondern die Kinder sogleich mittels Stegreifspiel aktiv in die
Erzählung einbezogen. Das habe ich mir von ihm abgeguckt und dann auch
praktiziert. Schließlich wurde immer öfter der Wunsch an uns herangetragen,
unsere Märchen auch in Buchform zu bringen. In Zusammenarbeit mit den
renommierten Kinderbuchautoren Konrad Golz, Günter Wongel und Wolfgang Mond
sind dann auch etliche Bücher entstanden. Ihr Urtext basiert auf einem
nordafrikanischen oder orientalischen Märchen, das Saddek el Kebir in eigener
Modernisierung erzählt – man darf nicht vergessen, dass Märchen lebendige
Organismen sind, die von Erzähler zu Erzähler, von Epoche zu Epoche immer
wieder neue Gestalt annehmen. 

Unsere Kinder- und Jugendbücher zeigen starke
Mädchen und Frauen (´Noara und die drei Prinzen`, entwerfen eine multikulturelle
Gesellschaft von Gleichberechtigten (´Hillal, König der Affen`), sprechen
ökologische Probleme an (´Belquis im Palast der Ratten`).
  

So
entstehen unsere Bücher: Saddek skizziert eine seiner in langer Erzählerfahrung
entstandenen Versionen, ich bringe sie in deutscher Sprache in Form, ändere
hier und da, setze auch Pointen oder ganze Abschnitte dazu. Wir übersetzen die
durchdiskutierte Endfassung dann ins Arabische, Französische und Berberische.
Und so existieren unsere Kinder- und Jugendbücher in vier Sprachen. Sie werden
vom algerischen Verlag Lalla Moulati verlegt. Auf deutsch gedruckt liegen
leider nur fünf von 13 Büchern vor. Eventuell kombiniert mit den arabischen
Fassungen sind das ausgezeichnete Materialien für multikulturelles Spielen und
Lernen. Wir haben übrigens die Erfahrung gemacht, dass die Kinder nach einer
Erzählung mit Stegreifspiel stark motiviert sind, das Buch, das die Grundlage
dafür war, auch zu lesen.    
Weitaus
mehr als für Kinder erzählt Saddek auch Märchen für Erwachsene – seine freien
modernisierten Adaptionen aus ´1000 und 1 Nacht`. Aus dieser Erfahrung ist
unser Roman ´Zwei Sultane` entstanden, in dem die Einleitungsgeschichte, die im
Original nur 8 Seiten lang ist, zu einem ganzen Buch ausgesponnen und weiterentwickelt
wurde. Es geht um den blutrünstigen Sultan Schahriar, der schließlich von
Scheherazade gebändigt wird, aber auch um seinen Bruder Schahsamen, dessen
Ehefrauen wie die von Schahriar untreu waren, der aber eine gegenteilige  Entwicklung nimmt, über die sich die
originalen ´1000 und 1 Nacht` aber ausschweigen. Zu diesem Buch hat Saddek
einen herrlichen Grundstock geliefert, während ich wesentliche Teile der
späteren Entwicklung Schahsamens hinzugefügt habe sowie eine ausführliche
Erzählung, wie Scheherazade es fertiggebracht hat, Schahriar zu zähmen.
Ich
hoffe, wir schaffen es noch, Saddeks ebenfalls sehr erfolgreiche Adaption von
´Kamar ez zamen`- Mond der Zeiten` aufzuschreiben.        

   

Welche
sind die wichtigsten Herausforderungen, denen sich der interreligiöse Dialog im
Moment in Deutschland stellen muss?
Wichtig
ist, dass er überhaupt vorurteilsfrei stattfindet. Das ist meiner Beobachtung
seit den Attentaten des 11. September 2001 selten der Fall. Seitdem findet er –
bewusst oder unbewusst – in Formen ideologischer Kriegsführung statt. Anstatt
nach gemeinsamen humanitären Kernen zu suchen, überwiegt das Herausstreichen
scheinbar unüberwindlicher Gegensätze, die bereits in den Wurzeln der
Religionen begründet sein sollen. Ich erinnere mich an Diskussionen mit
protestantischen Diskussionskreisen, die nach dem 11. September geradezu
hysterisch die angeblich zu verallgemeinernden Kriegssuren des Koran
anschwärzten, aber nicht hören wollten, dass nicht nur das alte Testament
etliche angeblich gerechte Kriege feiert, sondern auch die neutestamentarische
Offenbarung des Johannes oft als Rechtfertigung von Kriegen diente.
In
den neunziger Jahren gab es viele Basisinitiativen zum interreligiösen Dialog
und sogar zum Trialog. Ich habe damals an mehreren Trialogen mit jüdischen,
christlichen und muslimischen Frauen teilgenommen, deren Ziel keineswegs der
Clash of Civilizations war. Vielmehr einte sie ein gemeinsamer Kampf gegen die
noch heute virulenten Wurzeln des Patriarchats, die in den heiligen Texten der
drei Religionen verankert sind. Damals habe ich auch als Privatdozentin an der
Goethe-Universität in Frankfurt am Main Seminare über ´Feministische Theologie
im Judentum, Christentum und im Islam` angeboten, die sowohl Lehramts-Studenten
als auch Theologiestudenten begeistert angenommen haben, weil ein solches
Angebot bis dato fehlte, aber für die spätere berufliche Praxis als sehr
nützlich erachtet wurde. Im Feminismus trafen sich die drei Religionen mit der
gemeinsamen Motivation, die z. T. auf denselben alttestamentarischen Mythen
beruhenden religiösen Schranken zu brechen, die der vollen Gleichberechtigung
der Frauen kulturell entgegenstehen.  

Unser
Beitrag zum interreligiösen Trialog ist ein Buch über ´Maria und Jesus im
Islam. Für Kinder, Jugendliche, Eltern und Erzieher`. Es ist hierzulande so gut
wie unbekannt, dass Jesus für Muslime
 
ein wichtiger Prophet des Friedens ist und dass Maria im Koran viel
ausführlicher präsent ist als im Neuen Testament. Letzteres hat den Grund, dass
der Marienkult erst im 3. Jahrhundert entstand und sich eben auch auf der
arabischen Halbinsel großer Popularität erfreute.

Saddek
und ich sind mit der vom islamischen Chronisten Tabari (9. Jahrhundert)
inspirierten Geschichte von Jesus als Friedensbringer oft in Schulen, aber auch
vor Erwachsenen aufgetreten, wobei auch stets ein Stegreifspiel inszeniert
wird. Es ist z. B. amüsant, dass Jesus im Islam in der als rein geltenden Wüste
geboren wird, unter einer plötzlich erblühenden Palme – und nicht in einem Stall
– , weil es für Muslime undenkbar ist, dass ein Prophet in der Nähe unreiner
Tiere zur Welt kommt. Der islamische Jesus ist christlichen Apokryphen entlehnt
– das sind auf Papyri überlieferte Erzählungen, die im Volksglauben des Orients
und auch in Europa bis in die Neuzeit existent blieben, aber nicht in den
biblischen Kanon aufgenommen wurden. Wie in den Apokryphen beginnt Jesus auch
im Koran schon gleich nach der Geburt zu sprechen und zu predigen. In unserer
Erzählung sagt er bei seiner ersten öffentlichen Ansprache in Jerusalem vom Arm
seiner Mutter aus: ´Schalom Aleichem` zu den Kindern Isaaks und ´Salam Aleikum`
zu den Kindern Ismaels. Das steht so zwar weder in den Apokryphen, noch im
Koran, noch bei Tabari, scheint uns aber eine legitime Vermutung zu sein. Außer
der Erzählung über Geburt, Leben und Tod von Jesus – auch sein Tod
unterscheidet sich von der christlichen Version – enthält das Buch die Stellen
aus dem Koran, die die Erzählung belegen. Des Weiteren gibt es einen Abschnitt,
der die historischen Beziehungen zwischen der jüdischen, der christlichen und
islamischen Sicht auf Jesus in allgemein verständlicher Form darlegt sowie ein
Glossar, in dem die vorkommenden Namen in ihrer hebräischen, arabischen und
deutschen Form aufgeführt sind.
Weil
wir davon ausgehen, dass Kenntnis und Geschichte der Religionen ein Teil der
Kulturgeschichte sind, mit dem sich auch Atheisten beschäftigen sollten, ist
dieses Buch in kulturhistorischer Perspektive verfasst und kann sowohl für
Gläubige als auch für Nichtgläubige von Nutzen sein. In einer Berliner Schule
habe ich es in mehreren Unterrichtseinheiten angeboten, die gemeinsam von der
Lehrerin für Lebenskunde und der Lehrerin für Religion zur Verfügung gestellt
wurden.  So haben christliche und
muslimische Kinder – zuweilen waren auch jüdische Kinder dabei – das
Stegreifspiel gemeinsam gespielt, Fragen gestellt und diskutiert.
Dass
die für den interreligiösen Dialog so ausgezeichnet nutzbaren christlichen und
islamischen Facetten der Jesus-Gestalt so gut wie gar nicht ins Bewusstsein der
Öffentlichkeit getragen werden, ist der für uns schmerzliche Ausdruck des
kriegerischen Geistes, mit dem sich die beiden Zivilisationen gegenwärtig
gegenüberstehen. Weder die Kirchen noch islamischen Theologen zeigen großes Interesse,
daran etwas zu ändern, sie zielen ehern auf Abgrenzung. Heute ist es für das
Judentum und das Christentum selbstverständlich, Jesus als bedeutenden
jüdischen Reform-Rabbi anzuerkennen als nur auf die Unterschiede in seiner
theologischen Bedeutung zu pochen. Anhand von Gemeinsamkeiten der Jesus-Gestalt
könnte es auch zu einer ähnlichen Annäherung zwischen Christentum und Islam
kommen, ohne, dass die Unterschiede verwischt werden müssten.         
     
Weitere Infos zur Autorin und ihren Projekten finden Sie auf ihrer Webseite:
www.Sabine-Kebir.de