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Wir sind Individualisten, lieben unsere Freiheit

Wir sind
Individualisten, lieben unsere Freiheit
Von Anja
Seuthe, MiGAZIN, 11. September 2017. Wir sind
Individualisten, wir lieben unsere Freiheit. Wir wollen gar nicht so sein, wie
die anderen. Wer sich anpasst, gilt als kleinkariert, langweilig oder spießig.
Aber die anderen sollen sich anpassen, integrieren.


 Leitkultur © MiG
Anja Seuthe studierte in Köln Völkerkunde, Soziologie und
Islamwissenschaften. Nach dem Studium bereiste sie unter anderen Saudi Arabien
und den Jemen, in Ägypten lebte sie zwölf Jahre. Journalistisch und literarisch
setzt sie sich vor allem mit interkulturellen sowie interreligiösen Themen
auseinander. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern in
Süddeutschland und engagiert sich für Geflüchtete.

Wenn ich in diesen Tagen den Hass erblicke, der mich aus den
Nachrichtensendungen anschreit, der YouTube besetzt und meine Time Line füllt,
dann werde ich sprachlos. Und doch bin ich nicht Teil der schweigenden
Mehrheit, will es nicht sein. Also muss ich Worte finden für das Grauen, dass
mich erfasst, ob der unsäglichen Bilder von Menschen, die Menschen verachten.
Sprechen wir über deutsche Leitkultur, so sollte wohl die Überheblichkeit
an erster Stelle stehen. Irgendwie scheint jeder zu meinen, die Weisheit mit
Löffeln gegessen zu haben. Deutsche Bildung, deutsche Technologie, deutsche
Wirtschaft. Trotz Pisa haben wir viel zu bieten als eines der reichsten Länder
der Welt. Wir haben Grund, stolz zu sein. Aber Hochmut steht keinem gut. Nicht
den besorgten Bürgern ohne Schulabschluss, die auf syrische Ärzte hinabblicken.
Und auch nicht den engagierten Rentnern, die den geflüchteten Menschen helfen,
die ihnen alles gönnen, außer Selbständigkeit. Denn dann würden die Helfer ja
nicht mehr gebraucht.
Augenhöhe? Fehlanzeige.
Afrikanische Schützenkönigin, muslimischer Karnevalsprinz oder gar
iranischstämmiger Kulturpreisträger. All das haben wir in Deutschland.
Selbstverständlich? Natürlich nicht. Denn der, der glaubt, besser zu sein, der
will die anderen gar nicht auf Augenhöhe. Da nimmt man es als „Überfremdung“
wahr, wenn die „Fremden“ der dritten Generation sich bei uns breitmachen und
die Dreistigkeit besitzen, sich zu integrieren. Wie kann ich denn mit dem
Finger auf die anderen zeigen, wenn sie mitten zwischen uns leben?
Da kommen dann die unsäglichen Sprüche der Rassisten, von der Kuh, die im
Pferdestall kalbt, und doch kein Pferd zur Welt bringt. Als ob wir nicht alle
unter der Haut gleich sind. Um das zu verstehen, braucht man nicht einmal ein
Medizinstudium. Jedes Kind weiß, dass die Hautfarbe einen anderen Menschen
weder netter noch besser macht. Jedes Kind weiß das, bis es in unserer ach so
überlegenen Gesellschaft etwas Anderes lernt. Wann eigentlich? Und wie?
Unsere Kinder funktionieren nach der Uhr. Feste Tagesabläufe sollen
Sicherheit bieten. Und schaffen das pflegeleichte Kind. Das heranwächst zu
einem Menschen, der auf Schienen läuft, ohne Blick nach rechts oder links. Wir
sind nicht flexibel, und spontan schon gar nicht. Besuch muss sich anmelden,
und das Essen kommt abgezählt auf den Tisch.
Und doch fühlen wir uns als Individualisten. Wir schätzen unsere Freiheit.
Wir wollen gar nicht so sein, wie die anderen. Wer sich anpasst, gilt als
kleinkariert, langweilig oder spießig.
Aber genau das verlangen die Menschenfeinde. Anpassung. Oder Entsorgung.
Dabei überschreiten sie selbst jede Grenze unserer Kultur. Höflichkeit,
Mitmenschlichkeit, Respekt. Die Werte, die unsere Kultur ausmachen, treten sie
mit Füßen. Und bekommen dafür Aufmerksamkeit.
Ich schäme mich dafür, wie unsere Gesellschaft sich aus der Bahn werfen
lässt. Wie die rechte Frau Petri den weniger rechten Herrn Lucke verdrängt, und
dann auf einmal zur weniger rechten Frau Petri mutiert im Vergleich zum richtig
rechten Herrn Höcke. Ich schäme mich dafür, wie sich im rechtsextremen Spektrum
die Wahrnehmung verschiebt, wie rechte Positionen schleichend salonfähig
werden. Ich schäme mich dafür, wie diejenigen, die am lautesten schreien,
tatsächlich Gehör bekommen.
Nein, die Menschenhasser stehen nicht für die schweigende Mehrheit. Sie
stehen auch nicht für die deutsche Leitkultur. Seien wir mal ehrlich, wer von
uns wünscht sich denn, dass sich irgendjemand an diesen Leuten orientiert?
Sicher kann man da Entschuldigungen suchen. Verlierer der deutschen Einheit, Verlierer
der Leistungsgesellschaft, Verlierer der Globalisierung. Aber wie man es auch
dreht und wendet, übrig bleibt ein Haufen überheblicher Verlierer.